Hallo michaell,
vielen Dank für die Literaturhinweise, sie hören sich sehr gut an.
Jetzt hab ich Dir, Bernino, natürlich unfairerweise eine ganze Menge Zeugs in den Mund gelegt. Du darfst mich aber korrigieren; bzw. musst Du mich an manchen Punkten wohl sogar korrigieren - so hoffe ich.
Hallo buschhons,
ja, ich möchte einiges korrigieren, aber auch bestätigen. Ich versuche tatsächlich, wie in meiner Vorstellung geäußert, geschichtliche Ereignisse letztendlich vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie zu sehen. Ich möchte es einmal mit Schiller begründen (obwohl der gar nichts von der Evolutionstheorie wusste, aber seine Aussage, finde ich, passt dennoch):
So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Nahmen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen. (Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, Stuttgart 2006, S. 24)
Als das philosophische System oder die Theorie, das oder die die Bruchstücke zu einem „vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ verkettet, kann meiner Meinung nach heute die Evolutionstheorie angesehen werden.
Was heißt z. B. das von Dir angeführte „Gut“ und „Böse“ vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie. Nehmen wir einmal den Fremdenhass oder Rassismus. Der ist heute „böse“. In einem evolutionärem Verständnis war das jedoch einmal eine „gute“ Verhaltensweise, nämlich zu der Zeit, als die Menschen noch als Jäger und Sammler in Kleingruppen lebten und auf ein bestimmtes Territorium angewiesen waren, das sie zum besseren Überleben stets gegenüber Nachbargruppen zu vergrößern oder zu verteidigen suchten. Diese innerartliche Aggression war unter den gegebenen Umständen genauso nützlich, wie sie es heute noch im Tierreich ist. Erst Werkzeuggebrauch, Technik und Handel erforderten hier ein anderes Verhalten zu den Nachbargruppen.
Interessant ist hierbei eine Stelle im Alten Testament, in der der alttestamentliche Gott praktisch den Völkermord gebietet, indem insbesondere bei den direkten Nachbarvölkern nicht nur „alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen“ werden sollen, wie bei den weiter entfernten Völkern, sondern die direkten Nachbarvölkern soll man gänzlich „der Vernichtung weihen“, „darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen“. (5. Buch Mose/Deuteronomium, Kapitel 20, Vers 13-17, Einheitsübersetzung).
Das war in evolutionärer Sicht ein Teil des natürlichen Verhaltens der Menschen, einfach nur um zu überleben. Erst mit dem Neuen Testament wurde dieses Verhalten korrigiert und an die geänderte Lebensweise angepasst. Ja, Du verstehst ganz richtig, ich sehe in einem dadurch einheitlichen Weltbild auch die Religion als Teil der Evolution in einem „vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ nach Schiller. Demnach ist auch die Ursache für die gesamte heutige Kriminalität nicht in einem übernatürlichen „Bösen“ zu suchen, sondern es sind ganz einfach unangepasste Verhaltensweisen, die noch aus der Zeit stammen, als das Recht des Stärkeren herrschte (und die als animalische Verhaltensweisen leider in unseren Genen verankert sind).
Im evolutionären Verständnis findet die Evolution ihren Fortgang im geistig-kulturellen Sein des Menschen. Was bedeutet etwa Demokratie im evolutionären Verständnis? Es heißt, dass der Problemlösungs- und Entwicklungsprozess nicht mehr durch körperliche Gewalt und über das Recht des Stärkeren geschieht, sondern er ist in einer Demokratie nur noch auf geistige Weise möglich. Das ist ein ganz entscheidender Fortschritt und Durchbruch in der weiteren geistig-kulturellen Entwicklung des Mensch-Seins.
Der nächste Schritt wäre, das auch auf globaler Ebene zu verwirklichen, denn dort herrscht bis heute noch des Recht des Stärkeren, und die militärische Art der Problemlösung ist als Recht des Stärkeren dabei dem animalischen Erbe des Menschen zuzurechnen.
Von daher ergibt sich mein Interesse an Intellektuellen wie Burckhardt. Burckhardt hat sowohl die Demokratie als auch „Erwerb und Verkehr“ nicht als Fortschritt, sondern im Gegenteil als Anzeichen einer großen Krise gesehen. („Allein im 18. Jahrhundert beginnt und seit 1815 eilt in gewaltigem Vorwärtsschreiten der großen Krisis zu die moderne Kultur. […] Es meldet sich die Idee der Volkssouveränität, und sodann beginnt das Weltalter des Erwerbs und Verkehrs, und diese Interessen halten sich mehr und mehr für das Weltbestimmende“ (S. 161-162). „Aus diesem allem entsteht die große Krisis des Staatsbegriffs, in welcher wir leben“ (S. 163))
Die Frage, die sich mir in einer evolutionären Perspektive beim kulturellen und sozialen Fortschritt der letzten 100 Jahre stellt: War Burckhardt nur ein Einzelfall oder war seine Gesinnung weit verbreitet? Der zweite Fall wäre eine Erklärung dafür, dass sich damit der weitere Fortschritt nur sozusagen auf animalische Weise der beiden Weltkriege hat Bahn brechen können. Anders ausgedrückt: Der weitere Fortschritt hätte auch nur auf der geistigen Ebene stattfinden können (wie etwa in den Ansichten von Kant und Schiller schon geschehen). Doch wenn die Unangepasstheit bestimmter menschlicher Verhaltensweisen nicht auf der geistigen Ebene umfassend und allgemein überwunden wird, dann offenbart sich die Unangepasstheit dieser Verhaltensweisen einfach in den Interaktionen zwischen den Menschen, sprich in den beiden Weltkriegen. Auf diese Weise wird dann deutlich, dass diese Verhaltensweisen (Rassismus, Nationalismus, Gewalt- und Kriegsverherrlichung) unter den heutigen Lebensumständen und -bedingungen unangepasst sind.
Insofern muss ich Dich hier korrigieren: Die beiden Weltkriege passen schon in ein evolutionäres Verständnis der stetigen oder unaufhörlichen Weiterentwicklung des Geistig-Kulturellen. Es ist ja niemand da, der diese Entwicklung steuert, d.h. es kommt auch immer wieder zu Rückschlägen oder Fehlentwicklungen.