Womit wir dann z.B. wieder bei der tausendfach diskutierten Fragestellung wären: Konnten die (deutschen) Juden voraussehen, z.B. aufgrund der Lektüre von "Mein Kampf", dass Hitler einen Völkermord plante? Ganz offensichtlich konnten sich das nur die Wenigsten vorstellen, weil jene Programmschrift hinreichend diffus war.
Die finale Dimension des Holocaust überstieg - vermutlich - das Vorstellungsvermögen selbst der engsten „Paladine“ von Hitler im Jahr 1933 und vermutlich sogar noch bis 1939. Auch die Gegner der NSDAP gingen in 1933 von einem „normalen“ autoritären Regime aus und die antizipierte Blaupause der - möglichen - Unterdrückung lieferten die Sozialistengesetze und die Verfolgung im kaiserlichen Deutschen Reich.
Vor diesem Hintergrund wollte die SPD, um Hitler zu verhindern, in 1933 noch nicht einmal zum Mittel des Generalstreiks greifen, da dieses Mittel als nicht legal angesehen wurde (vgl. z.B. Harsch und Smaldone)
Als Erfahrungshorizont, der einen Maßstab für die Beurteilung der hitlerschen Rhetorik bieten konnte, standen den Deutschen mit einem jüdischen Glauben im wesentlichen massenhafte Gewaltanwendung in Mitteleuropa wie die Bartholomäusnacht, der französiche Bürgerkrieg oder das Abschlachten von Mitliedern der Pariser Kommune bzw. Pogrome zur Verfügung.
Diese Ereignisse bildeten den „Maximalrahmen“ des Vorstellbaren, wobei man sich derartige Entwicklungen für Deutschland in der dann einsetzenden Konsequenz nicht hat vorstellen können.
In seinem Buch zu deutschen Kontinuitäten geht Smith der Frage nach, ob es eine „eliminatorische Tradition“ vom 2. Reich, über Weimar zum 3. Reich gab. Und zumindest auf der Ebene der Ideologie kann man auf der äußersten Rechten im Umfeld der „Alldeutschen“ eine kontinuierliche Radikalisierung des anti-Seminismus erkennen. In seinem „Wenn ich Kaiser wär“ werden Überlegungen erörtert, die ethnische Säuberungen beinhalten. Eingebettet ist dieser militante anti-Semitismus und ein radiales nationalistisches und undemokratisches Weltbild, in dem „Juden“ und „Sozialdemokraten“ als Feinde dargestellt werden, die es zu bekämpfen gilt.
Heinrich Claß: Der Jude ist an allem schuld |*ZEIT ONLINE
So radikal diese Sichten auch im Einzelnen vorgetragen wurden, enthielten sie im Einzellfall lediglich die einzelnen „Komponenten“, die dann im Rahmen der „Endlösung“ systematisch in Theorie und Praxis integriert umgesetzt wurden. Bis in die Mitte/Ende der dreißiger Jahre standen ja auch nur“ Modelle zur ethnischen Säuberung einzelner Regionen zur Diskussion und betrafen beispielsweise die Ansiedelung in Madagaskar (vgl. Brechtken)
Zudem: Die ersten KZ wurden ab 1933 sogar in der nationalkonservativen Presse positiv beurteilt, da negative „Elemente“ (also führende Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten) zur „Besserung“ dort zusammengefaßt wurden. Unabhängig davon, dass natürlich auch die universelle und obligatorische „Arbeitsplatzbeschaffung“ durch KZ positiv beurteilt wurde (vgl. Evans „Rise..“)
Abschließend: Mir ist zumindest kein Zeitzeuge aus beispielsweise 1933 bekannt, der die Entwicklung der „Endlösung“ bzw. des Holocaust einigermaßen zutreffend prognostiziert hat. Vielleicht mag Ursi dazu etwas sagen?
Wenn sich der Tatbestand des Genozids nur mit einer Ex-post-Analyse feststellen lässt (und ein Gegenargument drängt sich derzeit nicht auf), hat das eine äußerst fatale Folge: Es gibt keine wirksame Möglichkeit zur Prävention!
Doch! Es gibt sie. Die konsequente Verfolgung eines „Verfassungs-Patrotismus“, der die aufgeklärte Zivilgesellschaft auf der Basis einer rechtsstaatlichen, gewaltenteilenden und demokratischen Verfassung propagiert. Es ist beispielsweise ein Habermas der zutreffend konstatiert: „Man kann über alles streiten, nur nicht über den Weg wie der Streit“ ausgeführt wird.“ Und dieser Weg ist der Weg des aufgeklärten, auf individuelle Emanzipation ausgerichteten gesellschaftlichen bzw. politischen Diskurses. Dabei ist natürlich eine zentrale Voraussetzung, die Bereitstellung von Informationen durch eine unabhängige und pluralistische Medienlandschaft.
Vor diesem „rationalen“ und „wertebasierten“ Modell einer aufgeklärten Zivilgesellschaft wird es schwer möglich sein, eine Verletzung von Werten vorzunehmen, die massiv den kantischen kategorischen Imperativ verletzen:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“
Das wäre wohl die wirksamste Form der Prävention gegen "Diskriminierung", Rassismus", Ausbeutung oder Unterdrückung. Sie würden einem rationalen Diskurs in der Begründung nicht standhalten.
Auch Interventionen von außen sind davon betroffen: Ab welcher "Eskalationsstufe", wenn es überhaupt Stufen gibt, wäre z.B. der Staat A berechtigt, Gewalt gegen den Staat B auszuüben, der auf seinem Territorium die Gruppe C mit der Vernichtung bedroht?
Schwieriges Thema, das sicherlich das Völkerrecht und die Uno betrifft. Vielleicht ein eigenes Thema für die Periode zwischen 45 und 90 und die Rolle von „Paktorganisationen“ und der „UNO“?
Brechtken, Magnus (1998): "Madagaskar für die Juden". Antisemistische Idee und politische Praxis 1885 - 1945. 2. Aufl. München: Oldenbourg-Verlag
Frymann, Daniel; aka Class, Heinrich (1914): Wenn ich der Kaiser wär. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig: Dieterich`sche Verlagsbuchhandlung.
Harsch, Donna (1993): German social democracy and the rise of Nazism. Chapel Hill: University of North Carolina Press.
Smaldone, William (2009): Confronting Hitler. German Social Democrats in defense of the Weimar Republic, 1929-1933. Lanham, Md.: Lexington Books.
Smith, Helmut Walser (2008): The continuities of German history. Nation, religion, and race across the long nineteenth century. Cambridge, New York: Cambridge University Press.