So, nun habe ich endlich den Artikel von Dr.Moesta aus der Kolonialen Rundschau von 1919 bekommen, der offensichtlich die Grundlage aller späterer Zahlen ist.
In der Einführung listet er die Schwierigkeiten auf, unter denen die Darstellung der Einwirkungen des Krieges auf die Eingeborenenbevölkerung zu erfolgen hat und schreibt:
Erst nach der Betrachtung der Gesamtfrage von diesen drei Gesichtspunkten aus wird sich, wie ich glaube, ein ungefährer Überblick über den vermutlichen Stand der Gesamtbevölkerung nach dem Kriege und über die vermutliche Höhe des Gesamtverlustes gewinnen lassen. Von vornherein muß man sich aber völlig klar darüber sein, daß nur ein ungefähres Bild gewonnen werden kann; denn die Hauptstütze solcher Untersuchungen, die Statistik, fehlt uns doch so sehr, daß wir nicht einmal für die Zeit vor dem Kriege genaue Volkszählungen für das ganze Gebiet hatten. Wir können also auch von der Zukunft, durch eine etwa gleich nach Friedensschluß abzuhaltende Völkszählung, eine genaue Antwort auf die Frage nach der Höhe des Gesamtverlustes nicht erhoffen. Denn dieser - übrigens unbedingt notwendigen - Zählung nach dem Kriege vermögen wir leider keine aus der Vorkriegszeit gegenüber zu stellen. Aber selbst wenn diese da wäre, würde man sich über die Wirkungstiefe, -Breite und -Dauer der einzelnen Schädigungen und über ihren Anteil an dem Gesamtverlust immer noch auf Vermutungen stützen müssen. Auch dürften über die Stärke, mit der diese Schädigungen auch nach dem Eintreten ganz friedlicher Verhältnisse noch weiter wirken und ihre volksmindernde oder wenigstens schädigende Tätigkeit fortsetzen werden, nur vermutungsweise Schlüsse gezogen werden. Meinungsverschieden sind dabei natürlich ganz unvermeidlich. Immerhin dürfte man auch hierbei, wenn man die nötige Vorsicht bei der Schlußfolgerung walten läßt zu annähernd wahren Ergebnissen kommen. Die gut beglaubtigten Berichte über Bevölkerungsverluste in früheren afrikanischen Kriegen und Aufständen dürften dabei immerhin mit heranzuziehen sein, um auch auf dem Wege der Vergleichung mit anderen ähnlichen völkischen Zusammenbrüchen sich der Wahrheit zu nähern. Die oben aufgeführten Hauptgesichtspunkte stellen aber keineswegs die Disposition meiner Ausführungens dar, sind sind lediglich meine Ausgangspunkte für das zu suchende Endergebnis.
Er stellt also fest, daß er für seine Arbeit mit ungenauen Schätzungen arbeiten muß, will sie aber deswegen nicht infrage gestellt sehen.
Einige Seiten weiter lesen wir, was er im Sammelbegriff "Träger" für die Kriegsjahre innerhalb des Schutzgebietes alles zusammenfasst:
(Unterstreichungen von mir)
Es ist nicht ganz leicht, einen Überblick über die Gesamthöhe des Trägerverlustes zu erhalten. Zahl der Träger und die Höhe ihrer Verluste schwankten örtlich und zeitlich sehr bedeutend. Zunächst wird man sich über die Gesamtzahl der aufgestellten Träger klar werden müssen. Zuverlässige Unterlagen darüber dürften aber nicht nur jetzt fehlen und niemals erhoben werden können. Die Träger zerfielen erstens in die unmittelbar jeder Kompanie zugeteilten Träger, zweitens die Träger größerer Etappenstraßen und drittens die Etappenarbeiter jeder Art. In diese letzte Gruppe gehören alle Straßen-, Eisenbahn- und Werkstättenarbeiter, deren Arbeit mehr oder weniger im Dienste der Landesverteidigung stand, auch wenn sie von privaten Unternehmen gelohnt wurden. Ich nehme diese Gruppe, die besser Arbeiter zu nennen wären, mit zu den Trägern, da sie meist zeitenweise auch Trägerdienste leisten mußten und die Übersichtlichkeit meiner Ausführungen durch zu viele Abteilungen leiden würde.
Wir lernen: "Träger" sind nicht nur Träger...
Später berechnet er die tatsächlichen Träger bei den Kompanien:
Die einzelnen Feldkompanien hatten 1914/16 nicht unter 200 und wohl nur selten über 600 Träger. Die von den Kompanien offiziell gemeldeten Trägerzahlen sind nicht immer unbedingt maßgebend, da wohl jede Kompanie über die gemeldeten Leute hinaus noch andere in Bereitschaft hielt. Ich glaube mit etwa 400 Trägern die durchschnittlicheTrägerzahl einer Feldkompanie oder ihr gleichzuachtenden selbständigen Abteilung annehmen zu können. Waren es anfangs weniger, so wurden es später mehr Kompanien und ihnen gleichzuachtende Einzelabteilungen. 1915/16 wird man etwa 50 solcher Einheiten annehmen dürfen. Rechnen wir dann je 400 Träger und unmittelbar dienstbare Arbeiter zu jeder Einheit, so ergeben sich rund 20.000 Träger für diese Zeit. Eine bestimmte Gewähr vermag ich für diese Zahlen nicht zu übernehmen, annäherungsweise dürften sie aber stimmen. Hierzu kamen noch die Etappenträger, deren Zahl von Monat zu Monat größer wurde. Man bedenke die Länge der zu überwindenenden Strecken.
(es folgen Beispiele für zu überwindende Entfernungen)
Es wurden nach meiner Berechnung an Arbeitern und Trägern, einschließlich der unmittelbaren Kompanieträger wenigstens 100.000, wahrscheinlich aber 200.000 Eingeborene zu gleicher Zeit im Dienste der Landesverteidigung beschäftigt und zwar bezieht sich dies hauptsächlich auf die Jahre 1915 bis einschließlich 1917. Waren es 1914 anfangs weniger, so waren es später, besonders als der Feind seinen Trägerbedarf immer stärker im Lande aushob, sicher viel mehr.
Jetzt die eigentliche Berechnung der Verluste:
Die Straßen wurden immer verseuchter, die Bekleidung immer schlechter und die Anstrengungen immer stärker, besonders als 1916 ein so großer Teil des Feldzuges in die Regenzeit fiel. Nehmen wir von der schon niedrigen Zahl von 150.000 einen Verlust von nur 10-20% jährlichen Verlust für die ersten 24 Monate Krieg an, so werden wir wohl mit 30.000 Totenjedes der ersten beiden Kriegsjahre das Richtige treffen. Niedrigere Anfangszahlen dürften 1916 mehr als ausgeglichen worden sein.
Nehmen wir die Zeit bis zum Ende des 4.Kriegsjahres hinzu, so müssen wir für 1916 bedenken, daß in ihm riesige Märsche zu bewältigen waren und daß der größte Teil der kriegerischen Unternehmungen in die Regenzeit fiel. Dann wurden nach der Aufgabe der Mittellandbahn zwar die Entfernungen kürzer, der Mangel an allem und jedem, besonders an Nahrung, Unterkunft und Arzeneien aber so drückend, daß jener Vorteil mehr als ausgeglichen wurde. Eins wirkte aber verlustmindernd, das war das Zusammenschmelzen der Truppe. Für unser schwarzes Volk war das aber keine Erleichterung, denn zur gleichen Zeit wurde es in immer stärkerem Grade von den Feinden herangeholt. Auf alle Fälle ist der Gesamtverlust für die 4 Kriegsjahre allein auf unserer Seite unter vorsichtiger Erwägung all dieser Kräfte auf 100.000 Träger und ihnen ähnlich beschäftigter Menschen zu beziffern.
Bemerkenswert ist, daß Moesta in seinem ganzen Artikel von 20 Seiten nur in ca. 2 Seiten auf die Trägerverluste eingeht. Ansonsten schildert er - in der damals üblichen "väterlichen" Weise - die schlimmen Auswirkungen durch Besetzung, Krankheiten, Hunger und andere Ursachen auf die Bevölkerung.
Bewertung des Artikels
1) Dr. Moesta schreibt selbst, daß er mit vielen Unbekannten oder Ungenauigkeiten arbeiten muß. Er nimmt für sich aber in Anspruch besonnen und aufrichtig gearbeitet zu haben und eine annähernd richtige Schätzung getroffen zu haben. Der Anspruch sei ihm unbenommen, das Ergebnis bleibt aber zumindest kritikfähig, wenn nicht fragwürdig.
2) Der Artikel erschien 1919, im zeitlichen Umfeld des Versailler Vertrages - in einer Zeitschrift, die als "pro-kolonial" anzusehen ist. Es liegt nicht fern, daß sein Ansinnen war, die schlimmen Folgen des englischen und belgischen Angriffskrieges darstellen zu wollen. Ich könnte mir vorstellen, daß er sich heute entsetzt im Grabe aufsetzen würde, wenn er wüßte, daß ausgerechnet sein Zahlenwerk heute gegen die deutsche Verteidigungsführung genutzt wird, und aufschreien würde: "Nein, so habe ich das doch gar nicht gemeint"
Resümee für mich
1) Zahlen über die tatsächlichen Trägerverluste liegen nicht vor. Dr.Moestas Schätzungen sind scheinbar die einzige zeitnahe Quelle dazu. Eine Propagandaabsicht gegen die Kriegsgegner scheint naheliegend. Ob sie als ernsthafte Primärquelle zu werten ist, erscheint mir zumindest fraglich.
2) Die Verluste unter den Trägern der kriegführenden Parteien waren aber mit Sicherheit extrem groß. Größer, als ich sie vor dieser Diskussion hier geschätzt hätte. Die Eingeborenenbevölkerung hat in sehr großer Zahl gelitten und ist unter den verschiedenen Kriegseinflüssen zu zig Tausenden gestorben - wenn man Krankheiten und Hunger mitrechnet zu Hundertausenden. Die Diskrepanzen über die genannten hohen Trägerverluste zu den übermittelten tatsächlichen Trägerzahlen kommen aus der Vermischung der verschiedenen Dienstverpflichteten (Arbeiter, Etappen und Kompanieträger) in Moestas Rechnungen.