In diesem Fall müsstest du aber eine gute Erklärung dafür finden, dass wir Geschichtswerke über verschiedene historische Persönlichkeiten haben, die unterschiedliche Sichtweisen von Personen haben.
Man kann Dinge oft so oder so darstellen, positiv oder negativ, während man eigentlich über dasselbe schreibt, es aber positiv oder negativ bewertet. Wichtig ist, dass man sich nicht vom lobenden oder gehässigen Unterton verwirren lässt, sondern die Fakten herausfiltert. Man muss eben zwischen Fakten und Darstellungsweise differenzieren.
Ich versuche es einmal mit einem fiktiven Beispiel. Zwei Historiker schreiben über Maßnahmen eines Präsidenten irgendeines Landes zur Entwicklung des ländlichen Raums:
Historiker A: "Für den Präsidenten hatten die Modernisierung des ländlichen Raums und die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge Priorität. Um seine Pläne finanzieren zu können, konnte er ausländische Investoren für Joint-Venture-Projekte gewinnen, um hohe Zinszahlungen an internationale Kapitalgeber zu vermeiden. Kern seiner Maßnahmen war eine Neustrukturierung des ländlichen Raums, um unproduktive Kleinstgüter zu ertragfähigen Einheiten zusammenzuführen. Um die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im ländlichen Raum zu bekämpfen, förderte er Umschulungen für überschüssige Arbeitskräfte und begünstigte ihre Übersiedlung in die boomenden Industriezentren."
Historiker B: "Der Präsident zerstörte die traditionellen landwirtschaftlichen Strukturen, indem er riesige Ländereien an ausländische Investoren verschacherte und dabei gut mitverdiente. Traditionelle landwirtschaftliche Familienbetriebe, die vielen Menschen ein Einkommen ermöglicht hatten, wurden enteignet und zu Plantagen zusammengelegt. Die beschäftigungslos gewordenen ehemaligen Eigentümer und ihre Angehörigen vertrieb er in die Städte."
Beide Historiker beschreiben genau dasselbe, aber je nach Sympathie oder Antipathie für den Präsidenten oder auch wirtschaftspolitischer Einstellung der Autoren stellen sie es unterschiedlich dar. An Fakten lassen sich jedoch in beiden Darstellungen herauslesen, dass der Präsident den ländlichen Raum umstrukturierte, indem er die Kleingüter (auch gegen den Willen ihrer Eigentümer) zusammenlegen ließ und an kapitalkräftige ausländische Bewirtschafter verkaufte und die bisherigen Eigentümer im nichtlandwirtschaftlichen Bereich unterzubringen versuchte.
Ebenso kann man die meisten Handlungen zum Vorteil oder zum Nachteil des Handelnden auslegen und darstellen: Wenn ein Kaiser viele Kriege führte, kann man ihn als zweiten Alexander feiern oder als Kriegstreiber abstempeln. Wenn ein Feldzug wenig erfolgreich verläuft und er daher Frieden schließt, kann man das als weise oder als Versagen bezeichnen. Wenn jemand bei Gelagen viel Alkohol konsumiert, kann man ihn als Säufer darstellen oder als geselligen lebensfrohen leutseligen Menschen. (Übrigens wurde auch bei Alexander dem Großen dessen Hang zum Alkohol thematisiert.) Wenn ein Kaiser Rennen fährt, kann man das als schändlich und seiner Würde unangemessen darstellen oder als Zeichen seiner Volksnähe und Sportlichkeit.
Man braucht also keine Fakten zu erfinden, um ein bestimmtes Bild zu zeichnen. Man kann auch die Fakten hernehmen und so oder so darstellen, die einen mehr betonen und die anderen weniger. Das ist aber etwas anderes als wenn man Fakten unterschlägt oder erfindet. Ich habe bereits an mehreren Beispielen gezeigt, dass auch bei Kaisern, deren Darstellung als positiv empfunden wird, auch negative Fakten erwähnt werden, und umgekehrt bei "negativen" Kaisern auch positive.
Weiters muss man auch zwischen Faktenschilderung und deren Interpretation hinsichtlich des Verhaltens und der Psyche eines Kaisers unterscheiden. Wie ich schon früher ausgeführt habe, kann man in keinen Menschen hineinsehen, und Psychologen waren die antiken Historiker auch nicht. Caligulas sonderbares Verhalten kann man als Wahnsinn interpretieren oder als jugendlichen Übermut. Bei Tiberius verschweigt auch Tacitus nicht, dass er bei der Regierungsübernahme zauderte und anfangs viele Ehrungen ablehnte. Das kann man als Bescheidenheit interpretieren oder (wie Tacitus) als Heuchelei, aber die Faktendarstellung ist korrekt. Stattdessen hätte Tacitus auch behaupten können, dass Tiberius entschlossen die Macht ergriff - tat er aber nicht. Sogar bei der Ermordung des Agrippa Postumus lässt Tacitus offen, ob Tiberius dahintersteckte oder Livia oder ob gar Augustus selbst vor seinem Tod die Tat anordnete.
Genannt wurde schon öfters Tiberius, dessen Zeichnung des Velleius und des Tacitus kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Hier müsste man doch dann nach oben zitiertem Schema entweder annehmen, dass Velleius Tiberius deutlich besser gemacht hat, als er war oder aber Tacitus einen deutlich schlechteren Tiberius entworfen hat und beide offenbar das Risiko eingegangen sind, als Lügner und Märchenerzähler abgestempelt zu werden. Gestört hat es aber keinen der beiden (egal welcher von beiden jetzt der Märchenerzähler wäre)
Eigentlich widersprechen sich die Darstellungen nicht wirklich. Man muss aber berücksichtigen, was die beiden Autoren darstellen. Tacitus' Annalen beginnen erst mit dem Tod des Augustus, sodass Tiberius' zahlreiche militärischen Erfolge davor notwendigerweise ausgeklammert werden mussten. Velleius hingegen stellte ausführlich seine erfolgreichen Feldzüge dar, hielt die Darstellung von Tiberius' Regierung aber (vor allem verglichen mit Tacitus) eher knapp und überblicksartig und endete mit dem Tod Livias, wodurch der Höhepunkt der Herrschaft Seians und Tiberius Aktivitäten auf Capri aus der Darstellung notwendigerweise herausfielen. Dass Tiberius ein erfolgreicher Feldherr war, wurde von niemandem abgestritten. Bei der Darstellung von Tiberius' Herrschaft 14-29 stimmen Velleius und Tacitus überein: Beide erwähnen die Meuterei mehrerer Legionen gegen Tiberius bei seinem Regierungsantritt, beide sein Bemühen um eine gute Verwaltung und seine Unterstützung für die Erdbebengebiete in Kleinasien, beide, dass er mit dem Senat zusammenarbeitete.
Dass Velleius, der zur Zeit des Tiberius schrieb, einen positiven, teilweise panegyrischen Ton anschlägt, ist wohl verständlich, aber er unterschlägt trotzdem nicht die Meuterei, obwohl sie für Tiberius nicht gerade schmeichelhaft war. Stattdessen hätte er auch schreiben können, dass alle Legionen einhellig die Machtübernahme des Tiberius feierten - tat er aber nicht. Dass er Seianus positiv darstellte, ist auch nicht so verwunderlich, denn als er 29/30 schrieb, war der noch in Amt und Würden und seine ganzen Machenschaften wohl auch noch gar nicht bekannt, viel kam wohl erst nach seinem Sturz ans Tageslicht. 29/30 war er noch der Mann, dem der Kaiser sein Vertrauen schenkte.
Anderes Beispiel: Marcus Antonius. Angesichts seiner Niederlage gegen Oktavian wird er natürlich von der Mehrzahl der Autoren nicht positiv dargestellt. In gewissem Rahmen aber zeichnet Appian ein Bild des Antonius, das merklich positivere Züge enthält. So wird ihm, im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, kein Verrat an Caesar vorgeworfen und er tritt als herausragender und geschickter Politiker in Erscheinung. In den direkten Konflikten mit Oktavian im Sommer/Herbst 44 v. Chr. schneidet er auch deutlich besser ab als z.B. bei Nikolaos von Damaskus.
Appian stellte aber auch überaus ausführlich die Proskriptionen der Triumvirn dar und beklagte sie - obwohl seine Sympathien den Triumvirn galten. Er hätte sie auch verschweigen können, stattdessen füllte er viele Kapitel mit Darstellungen von Einzelschicksalen, wobei er auch deutlich herauskehrte, dass auch zahlreiche Menschen, die mit Caesars Ermordung nichts zu tun hatten, betroffen waren.