Auch unter Berücksichtigung der Weltkriegs-Morphinisten? Ich denke viele linderten ihre seelischen und körperlichen Leiden nach 1918 mit einer "Massenflucht" in die Abhängigkeit. Dazu kommt das nur langsam wachsende Gefährlichkeits-Bewußtsein der Behörden, was sich dann allmählich in den von dir angesprochenen Gesetzen niederschlägt. Vorher waren die Schädigungen und Suchtwirkungen wohl noch nicht so untersucht, da man diese Stoffe als Arznei vertrieb.
Das hohe Abhängigkeitspotenzial von Alkaloiden, die seit dem ausgehenden 19. Jhd in reiner, hochkonzentrierter Form zur Verfügung standen, wurde nur allmählich erkannt, und noch 1890 definierte ein bekanntes Lexikon Sucht als altes Wort für Seuche. Heroin sollte nicht abhängig machen und war noch um die Jahrhundertwende Bestandteil von Hustensäften, die auch Kinder bekamen. Es wurde meist oral genommen und wie abhängig es machte, konnte man erst feststellen, wenn die Zufuhr plötzlich unterbrochen wurde. Ärzte, die wie Louis Lewin vor zu großzügiger Verschreibung von Morphin und Kokain warnten, waren eher Außenseiter.
Kokain war das erste Lokalanästhetikum, im 1. weltkrieg das einzige. Es wurde in der Zahn- und Augenmedizin verwendet. Morphin und Dia-Morphin sind heute noch, Dia-Morphin seit 20 Jahren wieder verkehrsfähige Medikamente, die in der Schmerz- und Palliativmedizin unentbehrlich sind. Dia-Morphin besitzt gegenüber Morphin den Vorteil, dass es weniger das Brechzentrum im Gehirn reizt und um ca. 7 mal stärker ist. In GB, das sich nicht die Politik der USA aufdrücken ließ, war es noch oder schon in den 80er des 20. Jhds verkehrsfähiges analgetikum für Krebskranke, bevor die NL und die Schweiz es in den 1990er als Substitutionsmittel zuließen.
Als im Amerikanischen Bürgerkrieg erstmals in größerem Umfang Morphin verwendet wurde, gingen die Abgänge in den Lazaretten um 50% zurück. Das Medikament ließ sich besser dosieren, als Laudanum und mit der damals erfundenen Injektionsspritze konnten Schmerzen besser bekämpft werden. Etliche Kriegsveteranen brauchten es dann allerdings dauerhaft, und während Morphinismus vor dem Bürger- und dem Krimkrieg eher auf Ärzte, Apotheker und einige Autoren beschränkt war, verbreitete sich der Gebrauch von Morphin.
Kokain stimulierte Siegmund Freud, Sherlock Holmes, Queen Victoria, Leo XIII., Robert L. Stevenson, Sarah Bernard und Kaiserin "Sisi". Die psychotropen Wirkungen faszinierten Dr. Freud, der seinen Abriss der Psychoanalyse unter dessen Einfluss schrieb, die leistungssteigernden das königlich bayrische Militär. Im 1. Weltkrieg nahmen es viele deutsche und französische Jagdflieger, ähnlich wie im 2. Weltkrieg Pervitin.
In Russland verbreitete es sich während des Weltkrieges, und in den 20er war es in Berlin sehr weit verbreitet. Otto Dix malte seine "Koksgräfin", ein Schlager wurde geträllert: "mama, der Mann mit dem Kos ist da, und auch der Berlinismus "Kokolores reden" geht darauf zurück. In der Szene hieß Morphin "Benzin", Kokain "Benzol" wie Hans Fallada berichtete, der als schwerer Trinker mit Morphin vom Alkohol loskam, dafür aber bis zu seinem Tode Morphinist blieb.
Viele Kriegsversehrte, die den Krieg überlebt hatten, hätten sich aber vermutlich dagegen verwahrt, dass sie Morphinpräparate zur Flucht aus der Wirklichkeit missbrauchen. Für etliche Kriegsinvaliden war Morphin ein Medikament, dass ihnen ermöglichte, ein erträgliches Leben führen zu können.