In gewisser Weise läuft das aber aufs Gleiche hinaus. Du vertrittst anscheinend die (heutzutage weitverbreitete) Auffassung, dass, wenn ein Herrscher in den Quellen ein besonders schlechtes Image hat, das wahrscheinlich nur darauf zurückzuführen ist, dass die Quellen ihm feindlich gesinnt waren, sie ihn also bewusst negativ dargestellt haben, während er in Wahrheit eh ganz "normal" oder sogar "gut" war.
Das ist mir zu polemisch. Natürlich wird heute stärker hinterfragt, was in den historiographischen Quellen steht. Früher hat man das hingenommen und allenfalls phantastische Geschichten etwas belächelt. Dahinter steckt aber mitnichten "
die Auffassung, dass, wenn ein Herrscher in den Quellen ein besonders schlechtes Image hat, das wahrscheinlich nur darauf zurückzuführen ist, dass die Quellen ihm feindlich gesinnt waren, sie ihn also bewusst negativ dargestellt haben, während er in Wahrheit eh ganz 'normal' oder sogar 'gut' war."
Vielmehr wird heute endlich die Frage nach der Deutungshoheit gestellt, statt dass man sicher geglaubtes Wissen nachplappert. So sicher geglaubtes Wissen, wie die Länge des Rheins oder der Eisengehalt im Spinat (ersteres hatte allerdings weniger Auswirkungen als letzteres, was ganzen Generationen von Kindern den Geschmack an einem eigentlich leckeren Gemüse verleidet hat).
Das kann man zwar nie ausschließen, sollte man aber nicht zur Grundlage der Betrachtung machen, indem man sagt, wir verwerfen die Quellen erstmal, es sei denn sie werden durch archäologische Befunde bestätigt.
Vom Verwerfen der Quellen ist gar nicht die Rede. Vielmehr von einer Einordnung: Das ist das Geschäft des Historikers. Abgesehen davon wurde mir hier noch keine Quelle präsentiert. Alles, was bisher angeführt wurde, wurde aufgrund sehr indirekter Literaturstellen - etwa den anderthalb Seiten bei Hunke - angeführt. Weder ein Quellenausschnitt, noch eine Quellendiskussion wurde eingestellt. Ich finde das für so apodiktische und dazu noch sehr heftige Urteile ein wenig wage.
Natürlich muss man mit Quellen kritisch umgehen, aber sie nur deshalb infrage zu stellen, weil sie ein negatives Bild von einem Herrscher zeichnen, halte ich für einen zu einseitigen Umgang (schon deshalb, weil er die fragwürdige Annahme impliziert, dass "schlechte Menschen" eine "Neuentwicklung" des 19./20. Jhdts. seien, während es davor nur mehr oder weniger durchschnittliche Herrscher gegeben habe).
Auch dies ist ein völliges Missverständnis dessen, was ich will. Es geht nicht darum Quellen in Frage zu stellen "
weil sie ein negatives Bild von einem Herrscher zeichnen". Um das
weil geht es dabei sogar am Allerwenigsten. Es geht darum, ein völlig unrealistisches Bild zu hinterfragen, welches hier völlig unkritisch geglaubt wird. Ich darf zum wiederholten Mal auf die Prestigeökonomie hinweisen und auf die Interessen, die ein eurasischer nomadisierender Steppenkriegerherrscher hat. Wir könnten uns mal im Vergleich das Attila-Bild ansehen und das sehr erhellende Buch von Timo Stickler zu den
Hunnen anschauen. Dort wird genau unser Problem behandelt, dass die Quellen ein sehr viel negativeres Bild von Attila und seinen Scharen zeichnen, als dies vielleicht dem tatsächlichen Handeln entsprach. Es ist ohne Frage so, dass die Steppennomaden immer wieder grausame Taten begingen. Doch geschahen diese nicht um ihrer Selbst willen, sondern des Effektes wegen. Nur durch die Verhehrung von Landstrichen konnten die Steppennomaden jeweils die Drohkulisse aufbauen, die sie benötigten, um ihre Beute zu erpressen. Stickler führt das bei Attila sehr schön vor, auch wie Attila eben Drohkulissen aufbaut und friedlich abzieht, wenn er erreicht hat, was er will, aber eben, wenn er merkt, dass seine Drohkulissen nicht mehr ernst genommen werden, auch sehr grausam sein kann. Es wird bei Timur ganz genauso gewesen sein. Die Grausamkeiten geschahen nicht um ihrer Selbst willen, sondern um die Wirksamkeit der Drohkulisse zu erhalten.
Ist das jetzt Verharmlosung, Schönrederei, o.ä.? Nein, mitnichten.
Denn die Möglichkeit, dass Quellen bewusst ein falsches Bild zeichnen, besteht grundsätzlich immer: Wenn ein Herrscher in den Quellen ganz "normal" dargestellt wird, könnte er auch in Wahrheit ein brutaler Schlächter gewesen sein, bloß dass ihm die Quelle wohlgesonnen war und daher seine Untaten verschwieg. So gesehen müssten wir schriftliche Quellen als Mittel der historischen Forschung komplett verwerfen, denn wie soll man z. B. nachweisen, dass z. B. Arnulf von Kärnten nicht 20.000 Menschen abschlachten ließ und die ihm wohlgesonnenen Quellen das bloß verschwiegen haben?
Also schlägst du einen Umgang mit den Quellen wie im 19. Jhdt. vor: Naiv alles zu glauben, was darin steht? Nein, es geht nicht darum, die Quellen zu verwerfen. Es geht darum, den Subtext zu lesen, die Aussageabsichten herauszufiltern, textimmanente Widersprüche zu finden und die historiographischen Quellen mit anderen Quellen - auch schriftlichen im Übrigen! - zu kalibrieren.
Ein Beispiel: Es gibt zu einer Schlacht die um 1079 stattgefunden hat, nur eine einzige Quelle, die diese Schlacht erwähnt. Danach wird berichtet, dass der Protagonist dieser Quelle alles getan habe, um die Schlacht abzuwenden und die Angreifer in Briefen beschworen habe, sich doch zu besinnen, aber es kam zur Schlacht und er besiegte seine Gegner. Nach dieser Quelle sind die Agressoren also klar. Man könnte es leicht übersehen, aber dummerweise wissen wir aus einer anderen Quelle, die diese Schlacht aus guten Gründen überhaupt nicht erwähnt, obwohl der Verfasser dieser zweiten Quelle sie miterlebt haben dürfte (naja, er wird sogar in der ersten Quelle namentlich erwähnt), dass das Gebiet, in der die Schlacht geschlagen wurde zu dem Gebiet der angeblichen Aggressoren gehörte. Desweiteren wissen wir, dass das angeblich angegriffene Reich in diesen Jahren eine recht aggressive Expansionspolitik betrieb. Hätten wir also nur die Quelle A oder würden, was leicht passieren könnte, die wichtige Passage in Quelle B, die sich auf das Gebiet bezieht, nicht aber auf die Schlacht, überlesen, dann hätten wir nur die einseitige Darstellung der Quelle A, die aber falsch ist.
Außerdem sind auch archäologische Befunde allein nicht beweiskräftig, da die genaue Datierung oft unsicher ist oder auch der Befund allein keinen sicheren Schluss gestattet (Wenn z. B. eine Stadt dem archäologischen Befund zufolge irgendwann zwischen 1380 und 1420 abgebrannt ist, geschah das dann wegen einer Feuersbrunst oder weil sie von einem Feind niedergebrannt wurde?) und sie daher oft zusammen mit den schriftlichen Quellen interpretiert werden müssen, um aus ihnen schlau zu werden.
Ein Zerstörungshorizont alleine ist es ja nicht. Es macht die Menge aus. Wenn in einem bestimmten Gebiet alle größeren Ansiedlungen zur gleichen Zeit Zerstörungshorizonte aufweisen und - ich sprach ja die Siedlungsarchäologie an - ein Wiederaufbau gar nicht stattfindet oder nur in deutlich reduzierten Arealen, dann lässt sich daraus für unsere Fragestellung etwas schließen. Oder aber, wenn die Zerstörungshorizonte gar nicht so ausgiebig sind bzw. eine Kontinuität in der Bevölkerungsmasse feststellbar ist. Darum geht es: Wie sieht der archäologische Befund aus: Haben wir - in dem fraglichen Zeitraum, in der fraglichen Region eine Häufung der Zerstörungshorizonte? Wie viele Orte werden für immer oder zumindest für längere Zeit aufgelassen? Gibt es Neugründungen oder nicht, so dass wir Migration ausschließen können.
Wenn wir also (wie das offenbar bei Timur der Fall ist) mehrere Quellen haben, die ihn allesamt als Kriegsverbrecher darstellen, es aber keine Gegenbeweise gibt, spricht mehr dafür, sie für glaubwürdig zu halten, als ohne jeglichen Beweis zu sagen, dass in Wahrheit vermutlich alles ganz anders war.
Wie gesagt, bisher haben wir zwar die Informationen aus den antitimuridischen Quellen vorgesetzt bekommen, aber wir haben keine der Quellen auch nur ansatzweise gesehen, wir kennen nicht einmal ihre Abhängigkeit voneinander, wissen also nicht, ob sie für eine Konformitätsaussage geeignet sind oder nicht. Das sind sie nämlich nur dann, wenn sie - obwohl sie unabhängig von einander sind, Verfasser A also den Text von B nicht kennt und umgekehrt - dieselben Sachverhalte berichten. Sobald aber Verfasser A Text B kennt oder Verfasser B Text A, bestätigen sich die Quellen nicht mehr gegenseitig. Wenn Gonzales de Clavijo, den ich hier nun mehrfach angeführt habe etwas berichtet, was sich auch in der persischen Historiographie wiederfindet, dann haben wir zwei voneinander vermutlich unabhängige Aussagen über einen Sachverhalt, lesen wir zwei persische Historiographen, müssen wir zumindest schauen, ob sie nicht voneinander abschreiben.
Im Übrigen möchte ich noch anmerken, dass die Quellen oft keineswegs so einseitig sind, wie sie von der modernen Literatur oft dargestellt werden. Die Quellen zu Timur habe ich nicht selbst gelesen, wohl aber etliche zur griechisch-römischen Geschichte, und da stelle ich immer wieder fest, dass sie oft keineswegs so einseitig und tendenziös sind wie ihnen das heutzutage gerne unterstellt wird. (Siehe das Beispiel mit dem Zweiten Punischen Krieg oder dass Du selbst schon kritisiert hast, dass Herodot heutzutage gerne als simpler Märchenonkel abgestempelt wird.)
Das Herodot zum Märchenonkel abgestempelt wird, ist allerdings kein Problem der Geschichtswissenschaft sondern einiger User dieses Forums. Ich kenne auch keine Pauschalvorwürfe der wissenschaftlichen Literatur, dass Quellen einseitig seien. Ich kenne allerdings Arbeiten, in denen die Einseitigkeit einzelner Quellen sauber herausgearbeitet wird.
Dann ist es aber erst recht unangebracht, einseitig nur die negativen Darstellungsteile für unglaubwürdig zu erklären (wie es oft auch bei Quellen zur Antike gemacht wird).
Wird es das?
El Quijote schrieb:
Der archäologische Befund lügt aber im Gegensatz zu den historiographischen Quellen, auf die hier alleine rekurriert wird, nicht. Er ist nicht durch Interessen steuerbar.
Das ist er sehr wohl, weil Funde in der Regel auch interpretiert werden müssen, z. B. einer bestimmten Kultur zugeordnet. Vor allem in Israel spielt bei der Interpretation von Ausgrabungen aus der biblischen Zeit eine Rolle, ob die Forscher die Wahrheit der Bibel beweisen wollen oder nicht. Mitunter ist auch nicht so ohne Weiteres feststellbar, ob ein erstaunliches Fundstück von der Kultur selbst hergestellt wurde oder importiert wurde, ob es also einen hohen Entwicklungsstand dieser Kultur belegt oder nicht. Da spielen dann schnell die persönlichen Ansichten der Forscher hinein.
Der archäologische Befund mag ja fehlinterpretiert werden. Ob man nun Ende des 19. Jhdts. in den neolithischen Pfahlbauten der Alpenregion eine keltische Eigenschaft sah, auf der man einen schweizerischen Nationalmythos aufbauen konnte oder ob man in Deutschland, Frankreich oder Israel Grabungen nutzt, um irgendwelche nationalen Ansprüche zu historisieren (das Ggt. ist auch häufig der Fall, manche Stellen bleiben für Archäologen tabu, weil die Regierungen Angst haben, das etwas ungünstiges dabei herauskomme, wie z.B. eine jüdische Siedlung zwischen Damaskus und dem Golan). Aber darum geht es nicht. Es geht um die Unerscheidung in Traditions- und Überrestquellen. Historiographische Quellen sind Traditionsquellen, ein archäologischer Befund ist aber nun mal nicht mit Absicht für die Nachwelt geschaffen worden. Genau so wenig, wie eine zufällig überlieferte Rechnung, die vielleicht ereignishistorisch viel aufschlussreicher ist, als der blumige Bericht eines Historiographen. Darum ging es.