Abels Schätzungen sind nun schon etwas älter, und haben damals eine Debatte über die Ursachen der Verarmung in der frühen Industrialisierung ausgelöst.
Von daher wäre doch interessant, ob solche Schätzungen, die historisch sehr weit zurückgehen, heute überhaupt als belastbar angesehen werden.
Wenn Abels "Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland" schon "zu alt" sein soll, dann nenne ich mal ein weiteres Werk, "Europa und seine Menschen: eine Bevölkerungsgeschichte" von Massimo Livi Bacci, allerdings habe ich Letzteres (noch) nicht gelesen, Bacci wird jedoch im "Fleisch"-Artikel der Wikipedia zitiert, wonach er Abels Ausführungen bestätigt: Dass der Fleischverzehr im Spätmittelalter bei mehr als 100 Kilogramm pro Kopf und pro Jahr lag, sich dann aber insgesamt stark reduzierte um im 19. Jahrhundert auf einen Tiefpunkt von nur 14 Kilogramm pro Kopf zu fallen.
Ein weiteres Buch wird diesbezüglich im Artikel "Esskultur des Mittelalters" ebenfalls in den Fußnoten erwähnt und dieses Buch heißt "Nahrungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts" von Hans Jürgen Teuteberg und Günter Wiegelmann.
Darüber hinaus gibt es auch andere Bücher, welche die Kaufkraftreduktion im 16. Jahrhundert (und darüber hinaus) in weiten Teilen Europas dokumentieren. Eines davon wäre:
"Before the Industrial Revolution: European Society and Economy 1000-1700" von Carlo M. Cipolla: Auf Seite 159 ist eine Graphik einezeichnet, welche die Entwicklung des Reallohnes eines Bauarbeiters in Südengland zeigt. Eine ähnliche Graphik für einen längeren Zeitraum findet sich auch in Wilhelm Abels Buch "Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland", wobei Abel zusätzlich noch weitere Beispiele verschiedener Länder Europas nennt (mehr dazu unten).
Dann wäre noch der Autor Gregory Clark zu nennen. Auch Clark zeigt die Entwicklung des Reallohns eines englischen Bauarbeiters an und kommt zu dem Schluss, dass er im 15. Jahrhundert höher war als zu irgendeinem anderen späteren Zeitpunkt in der vor- und sogar frühindustriellen Zeit:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/18/Builders'_real_day_wages,_1209-2004.png
Erst ungefähr zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist er wieder so hoch wie im 15. Jahrhundert und man bedenke, dass sich die Reallöhne in allen anderen europäischen Ländern und Regionen des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts wesentlich ungünstiger entwickelten, weil sich dort auch erst später die positiven Auswirkungen der Industrialisierung zeigten.
Melchior schrieb:
Ich würde sie als nicht valide ansehen. Dazu gibt es zuviele wirtschaftshistorisch und statistisch kaum zu erfassenden Unschärfen
Wenn man die aus Löhnen und Preisen resultierenden Warenkörbe aus verschiedenen Zeiten und Regionen heranzieht, dann ergibt sich eine große empirsche Datenbreite. In der Zeit nach 1500 ist in vielen Ländern Europas ein starker Abfall der Reallöhne festgesetellt worden - und zwar in einem signifikanten Ausmaß. Es gibt in den Untersuchungen zu viele Übereinstimmungen um sagen zu können, dass alle Ergebnisse vollkommen für die Katz seien.
Abel versucht auf Seite 25 des Buches "Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland" den Kaufkraftschwund eines Maurergesellen im Laufe des 16. Jahrhunderts zu beschreiben, welcher eine fünfköpfige Familie zu ernähren hat, wobei er eine Tabelle anzeigt, welche bis aufs jede Jahr genau die Schwankungen aufzeichnet. Von kurzfristigen Schwankungen einmal abgesehen, stellt Abel fest, dass bereits um 1540 das Jahreseinkommen für gewöhnlich nicht mehr ausreichte, um das physische Existenzminimum einer fünfköpfigen Familie zu decken - und wir wissen, dass gerade damals die Familien nicht selten noch viel größer sein konnten (aber bedingt durch die hohe Kindersterblichkeit durch u.a. Krankheiten nicht unbedingt mussten).
Er schränkt aber auch ein, dass diese Berechnung insofern ungenau ist, weil dort die Möglichkeit, dass Frau und Kinder zum Einkommen beitragen könnten, nicht berücksichtigt wurde, wobei er andererseits auch anmerkt, dass gerade in den Hungerjahren bezahlte Arbeit sehr knapp war und gerade Frauen und Kinder kaum welche finden konnten. Auch erwähnt er, dass er im "Warenkorb" des "physisch Notwendigen" auch ein bisschen Fleisch und Butter eingerechnet hat, auf welches eine Familie in Hungerjahren zugunsten von Brot verzichten könnte (und wohl auch würde).
Er geht also durchaus auf eventuelle Ungenauigkeiten ein. Wir sprechen im Moment allerdings von Ungenauigkeiten eines hypothetischen Warenkorbs, welcher (angeblich) zum Überleben notwendig wäre. Es handelt sich hier auch eher um ein Beispiel zur Veranschaulichung. Bei den Berechnungen der Löhne und Preise ansich (um die es hier ja eigentlich geht) gibt es entsprechend weniger Raum für Hypothesen.
Natürlich ist es unklar, ob sich anhand der Quellenlage generell seriöse Angaben über die Lohn-, Preis- und Kaufkraftentwicklung einzelner Jahre machen lassen.
Daher hat Abel auch meistens in größeren Zeiträumen gerechnet, was eine höhere empirische Basis ermöglicht und die Angaben schon wesentlich wahrscheinlicher macht:
So stellt Abel zur groben Übersicht für Deutschland den Zeitraum 1401 bis 1451 jenem von 1801 bis 1850 gegenüber. Im Letzteren sind die Roggenpreise um das 3,78fache höher gewesen und Eisen kostete in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das 1,73fache aber die Löhne sind nur auf das 1,49fache gestiegen.
Soweit die Gesamtübersicht der Veränderungen über vier Jahrhunderte hinweg.
Gehen wir aber mal ins Detail und nehmen uns nur die Entwicklung im 16. Jahrhundert vor:
Da wird jeweils für verschiedene Länder der Zeitraum 1501/25 mit dem Zeitraum 1576/1600 verglichen, also wird im Folgenden der Preis- und Lohnanstieg des letzteren Zeitraums gegenüber dem Erstgenannten aufgelistet:
- England: Die Getreidepreise stiegen insgesamt fast auf das Dreifache des Ausgangswertes. Die Preise für Gewerbeerzeugnisse sind um 50% nach oben gerückt, während sich der nominale Lohn fast gar nicht verändert hat.
- Frankreich: Hier driften Löhne und Preise besonders exorbitant auseinander: Das Getreide verteuert sich auf das Vierfache, die Gewerbeerzeugnisse fast auf das Doppelte. Die Löhne ändern sich hingegen kaum.
- Deutschland: Auch hier sind die Preise bis zum Zeitraum 1576/1600 enorm gestiegen. So lagen die Getreidepreise etwa schon dreimal so hoch (in Hamburg steigen die Roggenpreise im etwas anderen Zeitraum, nämlich zwischen 1511/25 und 1601/25 sogar auf mehr als das 3,5fache!, aber das nur so nebenbei) und die Preise für Gewerbeerzeugnisse in Deutschland allgemein etwa doppelt so hoch wie im Zeitraum 1501/25, aber die Löhne stiegen um weniger als 50%.
- Österreich: Die nominellen Löhne scheinen hier sogar leicht gesunken zu sein, während die Preise für Gewerbeerzeugnisse geringfügig angestiegen sind, die Getreidepreise auf mehr als das 2,5fache wuchsen.
- Polen: Die Getreidepreise steigen auf mehr als das Dreifache, die Gewerbeerzeugnisse kosten im Durchschnitt das Doppelte, wobei Letzteren die Löhne leicht hinterher hinken.
- Belgien: Belgien scheint (wenn auch in sehr eingeschränkter) Weise eine Ausnahme darzustellen: Zwar steigen auch hier die Getreidepreise viel schneller als die Löhne, doch ist Belgien auf dieser Diagrammliste das einzige Land, in welchem die Gewerbeerzeugnisse sich noch langsamer verteuern als der nominelle Lohnzuwachs. Was aber für die Bevölkerungsmehrheit dennoch unterm Strich einen gewaltigen Kaufkraftverlust darstellt, da der mit Abstand meiste Ausgabenanteil der mit Abstand meisten Haushalte für pflanzliche Grundnahrungsmittel floss und davon wieder der mit Abstand größte Anteil in den Getreidekauf.
Die Grundtendenz ist somit klar: Die Löhne sind mehr oder weniger stabil bei wesentlich schneller steigenden Preisen. Die "Krisen" des 17. Jahrhunderts, insbesondere der dreißigjärhige Krieg in Deutschland reduzieren die Gesamtbevölkerung und machen diese Teuerungswellen vorübergehend zum Teil wieder rückgängig, aber spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wächst die Bevölkerung in Europa allgemein wieder schneller und bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sieht es mit dem Lohn- und Preisverhältniss für die Menschen in Deutschland insgesamt sogar noch schlechter aus als unmittelbar vor dem dreißigjährigen Krieg.
Auch hier geht der Autor detailierter auf die Entwicklungen ein, aber darauf genauer einzugehen würde diesen Text hier ausufern lassen.
Melchior schrieb:
azu gibt es zuviele wirtschaftshistorisch und statistisch kaum zu erfassenden Unschärfen, wie:
- landwirtschaftliche Nebenerwerbsbetriebe
- landwirtschaftliche Hauswirtschaft ("Mikrobetriebe"), Kleinstflächennutzung und Kleintierhaltung
- "Schrebergärten" ab zweite Hälfte des 19. Jh.
- Deputate als Lohnbestandteile (sowohl Flächennutzung, als auch Tierfutteranteile, Naturalien etc.)
- usw. usf.
Abel schreibt, dass bereits in den vorindustriellen Städten nur eine "verschwindende Minderheit" "noch ein Gärtchen besaß", aus welchem sie zusätzliche Nahrung hätte produzieren können.
Landwirtschaftlicher Nebenerwerb ist überhaupt ein interessanter Punkt, weil seine gegebenfalls zu geringe statistische Berücksichtigung die großen Versorgungsunterschiede zwischen den oben genannten Zeiträumen eher verniedlichen als übertreiben dürfte. Das ergibt sich einfach aus der Tatsache, dass Deutschland im 15. Jahrhundert viel dünner besiedelt war und pro Kopf mehr gute landwirtschaftlich nutzbare Flächen zur Verfügung standen. Bei knappem Land fällt es Landwirten viel schwieriger neben der Selbstversorgung auch noch Knechte in größerer Menge einzustellen und diese zu versorgen.
Ich kann zudem nicht oft genug betonen, dass der Ackerbau sehr arbeitsintensiv ist. Da fragt es sich natürlich, ob und wieviel Zeit man für einen solchen Nebenerwerb hatte.
Da dürfte die viel weniger zeit- und arbeitsintensive extensive Viehwirtschaft als Nebenerwerb noch interessanter sein. Da Letztere jedoch viel mehr Fläche braucht, dürfte sie daher als Nebenerwerb im 15. Jh. viel eher und auch eher in wesentlich größerem Ausmaß üblich gewesen sein als in den zitierten bevölkerungsdichteren Zeiträumen.
So gesehen waren die Nebeneinkünfte im 15. Jahrhundert theoretisch noch höher und dürften bei entsprechender Berücksichtigung womöglich die Versorgungslage im Spätmittelalter noch besser und jene im frühen 19. Jahrhunderts noch schlechter aussehen lassen.
Und zum Punkt "Deputate": Diese zählten damals auch zum Einkommen vieler "Arbeitgeber" zb. Handwerksmeister und sind somit teilweise durchaus berücksichtigt. Natürlich ist es in manchen Fällen schwer, den Wert mancher solch lohnähnlicher Einkünfte einzuschätzen. Schließlich kam es nicht selten vor, dass Gehilfen bei Meistern zeitweilig auch "wohnten". Die Größe und Qualität dieser Behausungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist natürlich auch eine Frage: Nur kann ich mir schwer vorstellen, dass die Holznot/Holzknappheit, wie sie in weiten Teilen Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert in Erscheinung trat, dazu beitrug, dass die Behausungen größer, geräumiger und oder besser beheizt wurden.
"steffen04 schrieb:
Vor allem lag die Massenverelendung wohl am Klimawandel.
Der Klimawandel spielt sicher auch eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Landwirtschaft.
Da allerdings auch die Preise für Eisen im frühen 19. Jahrhundert trotz technischen Fortschritts im Verhältnis zu den Löhnen (jedenfalls laut Wilhelm Abel) höher waren als im frühen 15. Jahrhundert, gehe ich doch eher davon aus, dass diese Massenverarmung hauptsächlich durch ein Bevölkerungswachstum zustande kam, welchem kein ebenso schneller durch die technische Entwicklung bedingter Produktivitätsfortschritt gegenüberstand.