Der Name "Lilienprinz" ist eine moderne Bezeichnung für dieses Bild und wurde 3500 Jahre (!) später von heutigen Betrachtern erfunden..
Klar. Das Bild ist ohnehin eine fragwürdige Rekonstruktion, wie ich ja schrieb.
Die Interpretation bestimmter Bildelemnte als "Herrscherstab" o.ä. ist pure Spekulation. Hier ist Überinterpration am Werk, zumal es keine vergleichbaren Bildnisse gibt, bei denen man auf gesichertem wissenschaftlichen und ikonografischen Fundament steht..
"Pure Spekulation" halte ich für eine übertriebene Einschätzung. Zudem gibt es keine auch nur annähernd plausible alternative Erklärung für das Stabmotiv auf den kretischen Funden. Vergleichbare Bildnisse gibt es z.B. im babylonischen und ägyptischen Umfeld. Ich hänge unten
drei Beispiele an. Dass die von mir angeführten Beispiele ein kretisches Königtum nicht hinreichend belegen, ist klar, und das war auch nicht meine Absicht. So wie ich die Fachliteratur bisher gesichtet habe, ist von einem Königtum auch nicht auszugehen (siehe unten). Andererseits kann man besagte Funde nicht einfach unter den Teppich kehren. Sie sind da und werfen Fragen nach dem Sinn der gezeigten Motive auf.
Für die minoische Kultur ein matriarchalisches Herrschaftssystem anzunehmen, muss in den Bereich der Fantasy verwiesen werden.
Ich habe mit keiner Silbe auf ein "Matriarchat" angespielt. Ich erwähnte lediglich den objektiven Befund, dass in der ägäischen Ikonographie Frauen als sitzende (= göttliche) Figuren bevorzugt werden. Der "höhere Status" der Frauen, den ich erwähnte (mit Anführungszeichen um das Wort ´höhere´), ist ausschließlich auf den religiös-kultischen Kontext bezogen, und das kann man aus den Befunden sehr wohl schließen. Zudem ist im speziell minoischen Kontext dieser Status ganz unzweifelsfrei gegeben - die minoische Religion war eindeutig durch Frauen dominiert, was sich nach Meinung der meisten Fachleute auch dadurch ausdrückte, dass es Frauen waren (Hohepriesterinnen), die auf den Thronen von Knossos u.a. saßen. Ich werde diese verbreitete Expertenmeinung im nächsten Beitrag anhand von Zitaten aus Fachtexten belegen.
Ich schlage vor, zum Thema "Kreta und die Frauen" ein paar internationale Fachleute zu Wort kommen zu lassen, dann kann man auf dieser Basis weiterdiskutieren. Ich fasse also häppchenweise die fachwissenschaftliche Literatur zusammen, soweit ich sie bisher gelesen habe, wobei der größte Teil davon englischsprachig ist. Die daraus entnommenen, kursiv gesetzten Zitate sind von mir ins Deutsche übersetzt, was ich im einzelnen kenntlich mache.
Kommentare zu den einzelnen Beiträgen sind selbstverständlich willkommen.
Vorausschicken kann ich Jan Driessens (Direktor der École Belge d´Athènes / archäologisches Institut) Erkenntnis, dass es eigentlich unangemessen ist, a) im Kontext des minoischen Kreta von "Palästen" zu sprechen und b) den Begriff "minoisch" überhaupt zu gebrauchen. In beiden Fällen wird suggeriert, dass es ein königliche Regierungsform gab. Die angeblichen "Paläste" waren nämlich keine Paläste im Sinne der herkömmlichen Definition von "Palast", und es gab im ´minoischen´ Kreta vermutlich auch nie einen König. Auf den Artikel "The King must die" (2002), in welchem Driessen diese Überlegungen entfaltet, gehe ich zu einem späteren Zeitpunkt ein. Wenn im folgenden von "minoisch" die Rede ist - in den Zitaten oder meinem Text - , dann nur wegen der Konvention, einen bestimmten historischen Abschnitt mit diesem Begriff zu benennen. Das gleiche gilt für den Ausdruck "Palast" (für den Driessen alternativ ´Court Compound´ vorschlägt).
+ Zum matrilokal-matrilinearen Sozialsystem Kretas
Dass die minoische Gesellschaft matrilokal organisiert war, darüber besteht in der Forschung meines Wissens völliger Konsens.
"Matrilokal" bedeutet, dass die weibliche Generationenlinie das fixe Zentrum der Haushalte bildet, statt, wie in einem patrilokalen System, die männliche Linie. Heiratet also ein Mann eine Frau aus einem anderen Haushalt, dann zieht er zu ihr und wohnt im Haushalt dieser Frau. Bekanntlich ist das in patriarchalischen Systemen genau anders herum (simples Beispiel: Als Pompeius die vermutlich 14jährige Tochter von Caesar, Julia, heiratete, zog diese zu Pompeius, und natürlich nicht Pompeius in den Haushalt von Caesar).
In seinem deutsch verfassten Artikel "Das andere Geschlecht - Beobachtungen zur Sozialstruktur im minoischen Kreta" (2009) schreibt Driessen (Hervorhebung von mir):
(...) matrilokale Gesellschaften (weisen) beträchtlich größere Wohnhäuser (auf) als jene in patrilokalen Systemen. Diese gesteigerte Größe der erstgenannten Wohnhäuser ergibt sich daraus, dass sie die Familien mehrerer verwandter Frauen beherbergen, die gemeinsam eine ökonomische (und Wohn-) Einheit am matrilokalen Sitz bildeten (...) Gesellschaften mit patrilokalem Wohnsystem (tendieren) zu einem Wohnraum von weniger als 60 qm (...), wogegen die Wohnungen in matrilokalen Gesellschaften eher eine größere Grundfläche von mehr als 100 qm einnehmen.
In Driessens "Chercher la femme - Identifying Minoan Gender Relations in the Built Environment" (2011) heißt es:
Matrilokale Gesellschaften haben oft erheblich größere Häuser als patrilokale Gesellschaften (...) Das könnte die beträchtliche Größe der minoischen Residenzen seit dem Neolithikum erklären. (übers. von mir)
Darüber hinaus war die minoische Gesellschaft eine matrilineare, d.h. die Abstammung definierte sich über die mütterliche Linie. Auch hierin sind sich die Forscher weitgehend einig. Driessen in "Das andere Geschlecht":
Die Mitglieder einer matrilinearen Gruppe umfassen die Mutter, ihre Schwestern und Brüder, ihre Töchter, die Kinder ihrer Schwestern und ihre Enkel, nicht jedoch die Kinder ihrer Brüder oder Söhne.
Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass die minoische Gesellschaft matriarchalisch war. Driessen in "Chercher la femme":
Es ist gewiss nicht meine Absicht, für eine Art Matriarchat oder eine von Frauen dominierte Gesellschaft zu argumentieren, wie das in der Vergangenheit oft geschehen ist (...) und wie es auch Evans eine Zeitlang angenommen hat. Im Gegenteil, in den meisten Fällen von Matrilinearität haben Männer die Macht, wobei der Bruder einer Frau (also der Bruder einer Mutter), und nicht deren Gatte, der wichtigste Mann ist. Tatsächlich hat er die Autorität und genießt den Respekt (...) Nicht seine eigenen Kinder, sondern die seiner Schwester sind seine Erben und Nachfolger. (übers. von mir)
Dieses System nennt man auch "Avunkulat" - in den Wohn-Gemeinschaften hat der Onkel das Sagen, statt die Mutter (Matriarchat) oder der Vater (Patriarchat).
Anschließend meint Driessen:
Das wird durch die bildliche Darstellung der Männer bestätigt - sie sind jung, muskulös und widmen sich der Jagd, dem Boxen, dem Stiersport und dem, was Voss (in: Sexuality in Archaeology, 2007) "strategische Mode" nennt, welche den Penis betont. (übers. von mir)
Dieses Argument wird in variierter Form öfters gegen eine Matriarchatstheorie angeführt, aber es erscheint mir wenig überzeugend. Nicht dass ich ein Matriarchat im minoischen Kreta für wahrscheinlich halte, es geht mir nur um die nicht gerade zwingende Logik des Arguments - denn wieso sollten in einem (hypothetischen) Matriarchat die Frauen grundsätzlich kein Interesse an einer zur Schau gestellten Maskulinität der Männer haben? Aber egal - ich vertrete im Hinblick auf Kreta nicht die Matriarchatsthese und halte sie auch für prähistorische Gesellschaften mittlerweile für unangemessen (im Sinne von Marija Gimbutas, die sich immer gegen die Annahme eines Matriarchats in Catal Hüyük aussprach und die dortige Gesellschaft stattdessen für ´egalitär´ hielt - was ihre Gegner aber nicht davon abhält, Gimbutas eine Matriarchatstheorie anzudichten).
Die minoische Gesellschaft schien sich von der prähistorischen Egalität noch nicht allzu weit entfernt zu haben. In "Das andere Geschlecht" schreibt Driessen:
(...) das einzige, was wir heute über die minoische Gesellschaft mit Sicherheit aussagen können, (ist) der Umstand, daß es sich um eine ›Middle-range society‹ handelt: eine Gemeinschaft, irgendwo in der Entwicklungskette zwischen einer egalitären und einer stratifizierten, fein abgestuften Gesellschaft.
Man beachte, dass Driessen von einer "Entwicklungskette" spricht - auch er hält soziale Egalität also für ein Charakteristikum prähistorischer Gesellschaften. Dass dieser Middle-range-Status so etwas wie die Resultante zweier divergierender Vektoren (weiblicher Egalitarismus, männlicher Hierarchismus) sein könnte, kann man aus Anne Chapins Feststellungen schließen (in "Gender and Coalitional Power in the Miniature Frescoes of Crete", 2007):
Die Hinweise auf geschlechtsspezifische (gendered
) Sozialbeziehungen in den Miniaturfresken von Knossos und Thera legen nahe, dass ägäische Macht und Autorität auf koalitionärem Erfolg basierten. Wenn Frauen die aktiven Spieler sind, wird die erfolgreiche Gruppe als in egalitären Beziehungen stehend abgebildet (depicted in an egalitarian manner consistent with average female relations
), und wenn Männer das Spiel dominieren, sind die Koalitionen durch Hierarchie und Wettbewerb gekennzeichnet. Dennoch bringen weder die männlichen noch die weiblichen Formen geschlechtsspezifischer Sozialbeziehungen eine besondere Autorität zum Ausdruck. Das Studium ägäischer Miniaturfresken liefert keine Hinweise auf ein König- oder Königinnentum. Vielmehr scheinen Macht und Prestige in der ägäischen neopalatialen Gesellschaft auf der Stärke ihres koalitionären Erfolgs zu beruhen. (übers. von mir)
In einer Hinsicht kam der Frau in der minoischen Gesellschaft dennoch eine überragende Rolle zu, nämlich im eminent wichtigen religiös-kultischen Bereich. Es waren Frauen (die Hohepriesterinnen), welche als "Avatare" der Gottheit auf den Thronen der `Paläste´ von Knossos und Pylos saßen - darin sind sich viele Fachleute einig. Manche, wie Koehl und Warren, schließen daraus sogar auf eine Regentschaft (rulership) dieser Frauen.
Dazu mehr im nächsten Beitrag.