Die Peripherie
Vielleicht sollten wir das weiter diskutieren.
Ich sehe das etwas anders als in den Publikationen von Schmidt (Frankreichs außenpolitik in der Julikrise) und Schöllgen (Imperialismus und Gleichgewicht - Deutschland, England und die Orientalische Frage 1871-1914) zusammengefasst wird.
Richtig ist, dass die imperialistische Konfrontation an der Peripherie in der Juli-Krise im "operativen" Sinn bzw. situativ keine Rolle spielte. Als Peripherie wird darin die Situation der deutschen Kolonien und der Gegensatz in Bezug auf die Orientalische Frage/Bagdadbahn/Einflussgebiet Mittlerer Osten verstanden. In der Betrachtung "Peripherie" kann man zunächst den Balkan ausgrenzen. Festzuhalten ist weiter, dass sowohl in Frankreich als auch (mit noch einigen Tagen Verzögerung) in Großbritannien die Wahrnehmung der Kriegsdrohung bzw. Serbien- bzw. Balkankrise erst nach dem 22.7.1914 in der breiten Wahrnehmung ankam.
Diese Feststellungen sind jedoch scharf von den "strategischen" Gegensätzen zu trennen, die an der Peripherie über den Balkan hinaus in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten vor 1914 entstanden waren. Diese Gegensätzen prägten durch die imperialistische Konfrontation das Grundrauschen der Politik, bzw. das Misstrauen über die Handlungen des jeweils anderen und prägten auch die erwarteten mittelfristigen Konfrontationen.
Als Imperialismus ist hier nicht mehr die direkte Form relevant, etwa durch kurzfristige Inbesitznahme von Gebieten durch Truppen oder koloniale Verbände. Landläufig wird die Entwicklung nach 1906 durch "Informal Imperialism" bzw. "Semi-colonialism" (marxistisch), usw. mit weiteren Begriffskreationen. Im Prinzip meint das stets das Gleiche, wie hier ausgedrückt:
Imperialismus ? Wikipedia
Informal Empire - Wikipedia, the free encyclopedia
Dabei ist wie im Fall des Osmanischen Reiches (und zB Chinas) nicht nur die Beherrschung der ökonomischen Verhältnisse maßgebend, sondern auch das "Zuwarten" auf den Zusammenbruch dieser Interessensphäre der Großmächte. Grundlegend die Beiträge hier:
The Great powers and the end of the ... - Marian Kent - Google Bücher
The Ottoman Empire and European ... - Şevket Pamuk - Google Bücher
Die in der Peripherie deutscherseits angestrebten temporären Einigungen bzw. Konfliktlösungen hatten dabei durchaus zwei Zielsetzungen: bzgl. Frankreich das Vermeiden überflüssiger und gefährlicher Spannungen, bei Großbritannien zusätzlich die Annäherung an das Deutsche Reich bzw. die Destabilisierung der Entente. Was mittelfristig solche "Einigungen" wert waren, mag man am Beispiel des kolonialen Interessenausgleichs zwischen Großbritannien und Rußland für Asien ermessen:
nichts, bis zum nächsten imperialistischen Konflikt (was jedenfalls für die Regionen mit fortdauernden Interessengegensätzen und konträren "Aktivitäten" galt).
Im Fall des Osmanischen Reiches fügten sich zahlreiche deutsche Aktivitäten ineinander: die Idee "Mitteleuropa", Unterstützung der pan-islamischen Bewegung, "Weltpolitik" und das Zuwarten auf den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches aus der bestmöglichen Position ("die Taube füttern, bis sie goldene Eier legt"). Der Mittlere Osten war in diesem Kontext zahlreicher Orient-Anhänger das vorbestimmte Betätigungsfeld der Deutschen als den "wahren Griechen". Es war die Rede von Wesensverwandtschaft, der "deutschen Heimat Orient", verbunden mit imperialen Visionen.
Dass diese Aktivitäten - finanziell, personell, militärisch - misstrauisch von den anderen "imperialen Interessenten" beäugt wurden, ist selbstverständlich: für Russland war die Bagdadbahn ein Problem, schob sich das Deutsche Reich doch quer vor Konstantinopel und gefährdete die Kaukasuspolitik. Für Großbritannien war die Linie Bagdad-Hormus das Vorfeld von Indien. Frankreich hatte koloniale Interessen in Syrien und dem Libanon.
Die Praxis der Anleihen, Eisenbahnen, Rüstung und Militärberater war dabei sogar gefährlicher: bedeutete sie doch keine klare Abgrenzung von kolonialen Territorien, sondern bereitete diese vielmehr mit "ökonomische Penetrierung" der jeweiligen Gebiete nur vor. Zum Teil lief dies sogar recht harmlos ab: Finanzströme konnten nur teilweise von den Regierungen gelenkt werden, was den politischen Interessen jedoch ein wichtiges Steuerungselement für den KKonfliktaufbau entzog, bzw. Regierungen mittelbar in die Interessengegensätzen überhaupt erst hineinzog: zB Frankreich
Mitrovic: Origin of European Banks acting in the Balkans
Rault: Rationality of French Investors before World War I: Cliometric Contribution
Pollard: Capital Exports 1870-1914 - Harmful or Beneficial
Daudin/Morys/O'Rourke: Europe and Globalization 1870 - 1914
Le Bris: Why did French Savers buy Foreign Asset before 1914 - Decomposition of the Diversifivation Benefit
Geyikdagi: French Direct Investments in the Ottoman Empire before World War I
Bordo/Meissner: Foreign Capital in the First Era of Globalization
Frieden: International Investment and Colonial Control - a new Interpretation
Quennouelle: The Paris Bourse and the International Capital Flows
Esteves: Between Imperialism and Capitalism - European Capital Exports before 1914.
Diese Entwicklungen - und die entstehenden Überschneidungen und Gegensätze - waren ein Novum für die Politik, jedenfalls in diesen weit größeren Ausmaßen als vorher bekannt (wenn man einmal das Beispiel Südafrika: GB, USA und D heranzieht).
Für das Osmanische Reich bedeutete das jedenfalls in der Konsequenz, dass der weitere Verfall befördert wurde. Siehe:
Tenold: Economic reasons behind the Decline of the Ottoman Empire
(oder die Literatur oben: Kent und Pamuk sowie aktuell
McMeekin, Sean: The Berlin-Baghdad-Express - The Ottoman Empire and Germanys Bid for World Power
Heller: British Policy Towards the Ottoman Empire 1908-1914
Ergebnis: zwar gab es (immer wieder) kurzfristige Einigungen zwischen den Großmächten in diesen Regionen, in denen die Interessen kollidierten, sie hielten jedoch stets nur begrenzte Zeit und bestimmten die misstrauische Grundhaltung gegen- bzw. untereinander. Mit den Verträgen über die Beteiligungen und Finanzierungen sowie Regionen der Bagdad-Bahn waren daher keinesfalls im strategischen Sinn abschließende Regelungen verbunden. Für den Mittleren Osten kommt noch hinzu, dass die Tragweite der kommenden Ölinteressen noch gar nicht voll erkannt war.