Wenn sich dann noch so jemand wie der zuständige Gouverneur Leutwein bemüßigt sieht, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Herero doch als "notwendiges Arbeitsmaterial" anzusehen seien, wird klar, dass der Krieg sich nicht allein gegen einen militärischen Feind richtete (es sei denn, man definiert zynischerweise das gesamte Volk der Herero als militärischen Feind).
Vgl. Krüger, Gesine: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewusstsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkrieges in Namibia 1904 – 1907, Göttingen 1999, S. 52.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man diese Schlussfolgerung so eindeutig ziehen kann. Die Unterscheidung in "zivile Herero" und "Herero als militärischem Feind" dürfte nicht zu jeder Zeit so eindeutig möglich gewesen sein , wie wir das heute retrospektiv sehen. Wenn die Aufständischen mit Kind und Kegel und ihren Viehherden durch das Land ziehen, dann bekommen eben diese Herden (als feindlicher Proviant bzw. Nachschub) auch eine militärische Bedeutung, ebenso die Frauen, Alten und Kinder, die vielleicht das Vieh beaufsichtigen, während die Krieger in kämpferische Handlungen verwickelt sind.
Das ganze Volk der Herero - zumindest vorübergehend - als militärischen Feind zu definieren muss also nicht unbedingt etwas mit Zynismus zu tun haben, sondern kann durchaus militärischen Überlegungen entspringen. Nach "unseren" (hoffe ich jedenfalls) ethischen Vorstellungen ist diese Vorstellung sicherlich als zynisch anzusehen, aber die Denkvorgänge im Kopf eines kaiserlichen Offiziers des damaligen deutschen Reiches waren da sicherlich mit weniger Skrupeln behaftet (wenn ich z. B. an Verdun denke - andere Baustelle aber genauso unbegreiflich).
Man muss sich natürlich auch vor Augen halten, dass die rassische Minderwertigkeit der indigenen Bevölkerung Afrikas allgemein geteiltes, "wissenschaftlich erwiesenes" Gedankengut war. Und wenn sich diese minderwertigen Leute erdreisten, die kulturelle und technische Überlegenheit der Europäer nicht anerkennen zu wollen und auf die Segungen der Zivilisation lieber verzichten, als ein Leben nach den Vorstellungen der Kolonialherren zu führen, dann ist man ja quasi verpflichtet, ganz energisch einzuschreiten. Sonst könnten ja noch andere Völker auf so abstruse Ideen kommen...
Wenn nun Leutwein von "Arbeitsmaterial" spricht, könnte er mir damit fast sympatisch werden. Nicht weil ich diese Einschätzung teile, aber sie entsprach dem damaligen Menschenbild das die Europäer (nicht nur die Deutschen) nahezu einheitlich von den Afrikanern hatten und war somit eigentlich das einzige Argument, das Leutwein zugunsten der Herero vorbringen konnte und mit dem er auf Gehör hoffen durfte. Hätte er nur oder primär ethische Bedenken geäußert, wäre er wohl nicht ernst genommen worden.
Ich glaube durchaus, dass von Trotha seine Handlungen überwiegend nach militärischen Gesichtspunkten ausrichtete oder was er dafür hielt. Heutzutage wäre diese Ansicht so nicht mehr haltbar, aber in unseren Köpfen befindet sich hoffentlich auch ein anderes Menschenbild. Für von Trotha wäre der Tatbestand Völkermord meiner Meinung nach einfach nicht relevant gewesen. Wer sich wie ein Feind verhält, wird auch als solcher behandelt! Punkt! Weitere Differenzierungen wären unnötig.
Fazit: Ich persönlich würde das Vorgehen gegenüber den Hereros als Völkermord werten, gleichzeitig bin ich aber überzeugt, dass die damaligen Verantwortlichen auf diesen Vorwurf
überwiegend mit Unverständnis reagieren würden oder diesen als "abwegig" zurückweisen würden. Und das nicht, um sich von einem schlechten Gewissen zu befreien, sondern aus der Überzeugung heraus, ihre Pflicht erfüllt zu haben. Ausnahmen bestätigen die Regel.