Am Ende des WW1 wurde die psychologische Kriegsführung zwischen dem Deutschen Reich und u.a. GB fortgesetzt, nicht nur um die Ursachen und die Abfolge des Ausbruchs des Krieges, sondern auch in Bezug auf die Kolonien.
Im Rahmen des britischen „Blue Book“ wurde die erste Untersuchung vorgenommen, die Ereignisse um den Genozid an den Herero und Nama zu dokumentieren. Gleichzeitig weist Sarkin darauf hin, dass bereits in entsprechenden britischen Reports von 1909 bzw. auch von 1912 fast ähnliche Aussagen zur Kriegsführung der Deutschen in DSWA vorgenommen worden sind. Das finale Blue Book von 1918 sollte demgegenüber als Legitimation dienen, dem Deutschen Reich ihre Kolonien bzw. Schutzgebiete zu entziehen, aber es enthielt nur teilweise neue Erkenntnisse, aufgrund der Berücksichtigung der frühere Berichte.
Dabei ist es für die historische Bewertung relevant, einerseits zwischen der politischen Intention in Bezug auf die Weltöffentlichkeit zu unterscheiden und andererseits der Qualität der Fakten (“remarkable dedication to factual precision“ (Olusoga und Erichsen S. 261), die im Rahmen des „Blue Books“ aufbereitet wurde, gerecht zu werden.
Und gerade in Bezug auf den zweiten Aspekt gehen die Kritiker dieses „Blue Books“ sehr oberflächlich mit dieser Quelle um und ersetzen eine differenzierte Begutachtung durch „schnelle Meinungen“.
Der Hintergrund: Während des Krieges gegen die Herero und die Nama hatte die britische Regierung keinen offiziellen Widerspruch angemeldet, teilweise ist dieser Umstand dem damals geltendem Völkerrecht geschuldet, das die Kolonialvölker nahezu rechtlos machte bei Kriegen oder gewaltsamen Konflikten.
Dieses ist umso erstaunlicher, als der britische Militärattache Colonel Trench seine Regierung über die menschliche Tragödie im Rahmen der finalen Phase des Genozids, der Verlegung der Herero und Nama in Lager, informiert hatte. Die Aufmerksamkeit der britischen „Humanisten“ konzentrierte sich auf die kolonialen Verbrechen der Belgier und der Portugiesen und auch die britische Presse „failed to fault German Policy“ (Olusoga und Erichsen S. 261).
Im September 1917 wurde die offizielle Untersuchung eingeleitet. Howard Gorges, John X. Merrimen und Jan Smuts sollen sich der Implikationen wohl bewußt gewesen sein, dass der Report die Ereignisse so realistisch wie möglich wiedergeben sollte. (Olusoga und Erichsen S. 261). Dieses bestätigt beispielweise ein Schrieben von Merrimen an einen Freund (Silvester und Gewald, S. XV)
Die eigentliche Untersuchung bzw. das Formulieren des Report wurde durch Major O`Reilly vorgenommen. Ihm wurden ca. drei Monate gegeben, den Bericht zu formulieren. Ein erstaunliches Vorgehen, wenn man bedenkt, dass die deutschen Dokumente, die in Winhoek erbeutet worden sind, zunächst übersetzt werden mußten. (Olusoga und Erichsen S. 262). Zu den berücksichtigten Dokumenten gehörten die Unterlagen von Leutwein, von Trotha und von Rohrbach. Der finale Bericht wurde von Gorges redigiert.
Die Aufbereitung der Fakten, wie beispielsweise das Mengengerüst zu den unterschiedlichen Stämmen vor 1903 orientiert sich an den damals vorliegenden Informationen, die Schätzungen des Britisch Commisioner Palgrave (1976), von Leutwein (1894) und des Hauptmann Schwabe (1903), die beispielsweise von ca. 80.000 Herero und ca. 20.000 Nama (Hottentotten) ausgingen. Entsprechend der offiziellen Zählung in DSWA 1911 ergaben sich für die Herero 15.130 und die Nama 9781 Personen (Silvester und Gewald, Blue Book 60-62). Mit diesen Werten liegt das Blue Book von 1918 im Bereich der Werte, die aktuell für realistisch gehalten werden, wie bei Hull diskutiert.
https://ia800303.us.archive.org/34/items/BlueBookReportOnTheNativesOfSouthWestAfricaAndTheirTreatmentByGermany/Blue%20book%20Report%20on%20the%20natives%20of%20South-west%20Africa%20and%20their%20treatment%20by%20Germany.pdf
Das einzigartige am Blue Book sind jedoch die eidesstattlichen Aussagen von Herero und Nama (8 werden exemplarisch aufgeführt), die dem Bericht u.a. beigefügt worden sind und illustrieren das „kollektive Gedächtnis“ dieser beiden „Stämme“.
Am deutlichsten sind die Schilderungen von Jan Cloete (z.B. 4. Feld Kampanie / Hauptmann Richard) und von Jan Kubas, die auf deutscher Seite am Waterberg gekämpft hatten (Hull, Absolute Destruction, Pos. 1347) Diese Schilderungen belegen das Töten von Tausenden von Herero entlang der Fluchtwege und werden beispielsweise durch die Schilderungen des „alten Afrikaners“ Hauptmann Victor Franke, die er in seinem Tagebuch formuliert hatte, bestätigt (Hull, Absolute Destruction, Pos. 436)
Bei Hull wird die Quellenlage des Blue Books auch in Bezug auf die eidesstattlichen Aussagen diskutiert und auf die Probleme der Verifizierung verwiesen. Dieses auch vor dem Hintergrund, dass das „Weiss Buch“ darauf verweist, dass die „Natives“ were lying“ (Silvester und Gewald, S. XX) Die jeweiligen interessengebundenen Positionen des deutschen Militärs bzw. des Kolonialamtes und die Interessen von GB lassen sich im wesentlichen durch „Kreuzvalisierungen“ auflösen und so konnte ein Teil der Aussagen verifiziert werden.
In diesem Sinne werden Augenzeugenberichte, wie die von Manuel Timbu, Jan Cloete oder Jan Kubas zur Schlacht am Waterberg und den Konsequenzen für die physische Vernichtung der Herero in der Omaheke durch entsprechende Darstellungen des deutschen Generalstabes verifiziert oder durch Darstellungen aus deutschen Quellen. Zu den „Augenzeugenberichten“ gehören dann auch die Stellungnahmen der Missionare und die der beteiligten Offiziere. (Hull, Absolute Destruction, Pos. 1333)
Dabei verweist Hull auf ein grundsätzlicheres methodisches Problem bei der Erinnerung von Ereignissen, die bereits eine gewisse Zeit zurück liegen, da die individuellen Erinnerungen die Abfolge in eine „logischere“ Reihenfolge bringen möchten und so zu einer Verzerrung der realen Ereignisse beitragen.
Insgesamt unterliegen alle Aussagen der nachträglichen fehlerhaften Erinnerung, allerdings ergeben sich keine gravierenden Unterschiede bei dem Wahrheitsgehalt der Erinnerung zwischen deutschen oder einheimischen Quellen, so Hull. (Hull, Absolute Destruction, Pos. 1333)
In den zwanziger und dreißiger Jahren gehörte die Diskussion über die kolonialen Gewalt und den Genozid in den Kontext der Ungerechtigkeit, die – angeblich – durch den Versailler Vertrag den „Deutschen“ bzw. der Weimarer Republik zugemutet worden ist. (Olusoga und Erichsen S. 310).
Vor diesem breiteren historischen Hintergrund fand in einer emotional aufgeladenen Situation kein Diskurs über die deutschen kolonialen Verbrechen und auch nicht über die Verbrechen im ersten Kriegsmonat 1914 in Belgien statt. Vielmehr versuchte das deutsche „Weiss Buch“ von 1919 das englische Blue Book als Propaganda darzustellen und zu belegen, dass es keine kolonialen Greuel gegeben hätte. Und stattdessen beschäftigte sich das deutsche „Weiss Buch“ mit den kolonialen Greueln der Briten in ihren Kolonien, was Davis beispielsweise ausführlich für Indien beleuchtet.
Dieses „Weiss Buch“ gehört in den politischen Kontext der "Kriegsschulddiskussion", dass von deutscher Seite in der Nachkriegsperiode gezielt eine umfangreiche Desinformationspolitik des eigenen deutschen Volkes und der Weltöffentlichket zum WW1 betrieben wurde, wie Heinemann und Herwig es ausführlich darstellen.
Zumal die Diskussion über die Anzahl der Opfer der Maji Maji-Rebellion in Ost-Afrika Hinweise gibt, dass im DR bis 1917 keine objektive Bestandsaufnahme vorgenommen worden ist, da man von offizieller Seite von ca. 75.000 Opfern ausging. Demgegenüber, so formuliert Kuß in Anlehnung an Gwassa: „Insgesamt starben im Maji-Maji-Krieg und an seinen Folgen etwa 250.000 bis 300.000 Afrikaner. Die Darstellung von Gwassa gilt heute als „bindend“ in bezug auf das Zahlengerüst(vgl. dazu beispsielsweise auch Iliffe „Tanganyika“) (Kuß, S. 216)
Abschließend kann man das „Blue Book“, trotz der propagandistischen Intentionen, im Sinne von Hull, Gewald und Silvester mit Olusoga und Erichson folgendermaßen zusammenfasse: „In the histoy of colonialism in Africa, however, the Blue Book stands almost entirely alone as a reliable and comprehensive exploration of the disinheritance and destruction of indigenous peoples.“ (Olusoga, und Erichsen S. 263).
Deswegen soll mit Gewald und Silvester geschlussfolgert werden: „Though word can never be found to describe the full horror of genocide, the Blue Book does provide us with African voices that will enable us to come some way to shared realisation and understanding of the horrors of colonial rule.“ (S. XXXVII).
Davis, Mike (2001): Late Victorian holocausts. El Niño famines and the making of the third world. London [England]: Verso.
Gwassa, Gilbert Clement Kamana (2005): The outbreak and development of the Maji Maji war 1905 - 1907. Köln: Köppe (InterCultura, Bd. 5).
Heinemann, Ulrich (2011): Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Herwig, Holger H. (1987): Clio deceived. Patriotic self-censorship in germany after the Great War. In: International security 12 (1987), S. 5–44.
Hull, Isabel V. (2005): Absolute destruction. Military culture and the practices of war in imperial Germany. Ithaca, London: Cornell University Press.
Kuß, Susanne (2006): Kriegsführung ohne hemmende Kulturschranken: . Die deutschen Kolonialkriege in Südwestafrika (1904-1907) und Ostafrika (1905-1908). In: Thoralf Klein und Frank Schumacher (Hg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus. 1. Aufl. Hamburg: Hamburger Edition, S. 206–245.
Olusoga, David; Erichsen, Casper W. (2010): The Kaiser's holocaust. Germany's forgotten genocide and the colonial roots of Nazism. London: Faber and Faber.
Silvester, Jeremy; Gewald, Jan-Bart (2003): Words cannot be found. German colonial rule in Namibia: an annotated reprint of the 1918 Blue Book. Leiden, Boston: Brill