Wanderungen und Werkzeuge

Ogrim

Aktives Mitglied
Wir diskutierten in den vergangenen Jahren immer wieder unter diversen Themen die Theorie der "Wanderungen". Dahinter steht die historische Idee, dass sich Innovationen immer nur ausbreiten, wenn Menschen oder Vormenschen sie tragen. Vom Ort der Entwicklung an die "abgelegenen" Orte. Die Hypothese trägt also den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts mit seinen kolonialen und eurozentristischen Elementen bis in unsere Zeit. Dabei gab es in unseren Diskussionen stets überzeugte Wanderapostel ebenso, wie Kritiker der Idee.

Hier eine neue Studie, in der Werkzeuge aus verschiedenen Regionen miteinander verglichen werden. Die Stücke datieren in die Protoaurignacien Phase des frühen Homo sapiens und die Forscher konnten zeigen, dass die Herstellung und der Gebrauch von Werkzeugen nicht über Wanderungen vermittelt wurde, sondern unabhängig voneinander entstanden sein muss.

Diese Erkenntnis wird noch spannender, wenn man berücksichtigt, dass auch andere "Wanderungen" von dieser angenommenen Ausbreitung alles menschlichen Wissens aus einer ursprungsregion/ aus dem "fruchtbaren Halbmond" abhängig sind. Es erhärten sich demnach die Argumente dafür, dass andere Prozesse für die Ausbreitung von Innovationen gesucht werden müssen, als die forschungsgeschichtlich häufig angenommenen "Wanderungen".

Werde ich es noch erleben, dass diese Erkenntnis auch in anderen berühmten Wanderungsvorgängen, von den Galatern bis zur "Völker" Wanderung Berücksichtigung findet?
 
Natürlich wandern manchmal "nur" die Ideen, der Mensch ist ein nachahmendes Tier (als Kleinkind mehr, als Erwachsener weniger, aber ganz gibt der Mensch dieses Verhalten nie auf). Dennoch sind Wanderungen von ganzen Gruppen (mit und ohne Verdrängung der früheren Gruppen) ja nun auch genetisch nachgewiesen. Ich würde also das Kind nicht gleich mit dem Bade ausschütten.
Auch dass Ideen in der Menschheitsgeschichte mehrfach unabhängig voneinander entwickelt wurden, ist eigentlich nichts überraschendes. Denken wir da nur an die Neolithische Revolution, die wir immer auf den Fruchtbaren Halbmond bezogen sehen (weil für uns wichtig), die aber auch in Indien, China, Mexiko und Perú vollzogen wurde. Zumindest in Mexiko und Perú von Eurasien unabhängig.
 
Ergänzend zur o.g. Studie sollte man Parow-Souchon & Belfer-Cohen (2024) kennen und nicht vergessen vor dem Proto-Aurignacien (ab ca. 42K BP) gab es noch das Néronien (um 54K BP), Lincombien-Ranisien-Jerzmanowicien (47,5-45K BP) und Uluzzien 45-42k BP) mit einem Homo sapiens im westlichen Europa.

Parow-Souchon & Belfer-Cohen (2024) und Falcucci & Kuhn (2025) zeigen gemeinsam, dass die frühen Technologien in Europa und im Nahen Osten nicht das Ergebnis eines einseitigen Transfers waren, sondern Ausdruck gleichzeitiger und unabhängiger Innovationen auf derselben kognitiven und kulturellen Grundlage sind. Wir reden ja auch nur von kleineren Änderungen in Herstellung und nicht von Entwicklungssprüngen wie die Erfindung von Pfeil und Bogen. Komplexer wird es z.B. warum die frankokantabrische Höhlenkunst eine so hohe Qualität erreichte und östlicher eine andere jüngere H. sapiens Population figürliche Kunstwerke erstellt und zusätzlich mit ihren Knochenflöten die ältesten bekannten Instrumente hat, auf der man eine Melodie spielen kann, aber dafür nicht die Wände der Höhlen bemalt. Die frühen Populationen die nach Europa kamen hatten andere „Probleme“ als unbedingt neues Steingerät zu entwickeln, so wie andere Populationen auf dem eurasischen Kontinent andere Probleme hatten. Ein Inder in Indien täte ja auch nie auf die Idee für einen Handschuh kommen, mit dem man ein Smartphone bei Kälte bedienen kann.

Ob Néronien oder entwickeltes Aurignacien es sind H. sapiens wie wir, die selbstständig Lösungen für die selben Probleme finden oder nur unterschiedliche Lösungswege entwickeln. Was sie wirklich von uns unterscheidet ist das sie einen, teilweise sehr persönlichen und intimen, Kontakt zu Neandertaler und Denisova hatten und damit eine wirklich andere Tradition kennenlernen konnten.
 
Zurück
Oben