Und was folgt daraus? Dass von Patriotismus etc. gesprochen werden kann?
"national patriotistischem Taumel"... Kampfrethorik... :S
Ich wurde ja letztens schon von irgendeiner von Schäubles Drohnen als Nationalist (=Nazi, in Deutschland) beschimpft, weil ich zu oft die Wörter "Nation" und "Deutsch" in unter 1000 Wörtern erwähnt habe, deswegen greife ich weiteren Drohnenangriffe mal vorweg:
Ja sam pola Hrvat!
Ich bin halb-Kroate. Bin isch Auslender. Multikulti in Fleisch und Blut. Als "Halbling" nationalistisch zu sein ist kompliziert.
Jetzt versuche ich mal zu definieren, worüber ich rede:
Es gibt einen Unterschied zwischen
Nation und
Nationalstaat.
"Nation" benötigt nichts weiter, als ein Zugehörigkeitsgefühl.
Ein Nationalstaat dagegen ist eine staatliche Organisationsform.
Das Konzept des modernen Nationalstaates entstand im 17-18. Jhd.. Es sollte den Feudalstaat ersetzen. Die meisten Nationalstaaten starben, bevor sie überhaupt richtig begangen, zu leben.
Begriffe wie "Patriotismus" und "Nationalgefühl" haben nichts mit "bedingungslos für den Führer in den Tod gehen" zu tun - das glauben WELTWEIT nur die Deutschen - sondern bezeichnet nur einen Teil des Selbstverständnisses jedes Menschen.
Jeder Mensch orientiert sich an Gruppenzugehörigkeiten. Sobald man sich über eine Masse an Menschen bewusst wird, teilt man sie und im Vergleich sich selbst
unwillkürlich in Gruppen ein, denen man Eigenschaften verleiht. Das macht das Gehirn automatisch & unbewusst. Auf dieser Funktionsweise des Gehirns baut eine gesamte Wissenschaft auf: die Soziologie.
Demnach müsste es unmöglich sein, kein Nationalgefühl zu haben, sobald man weiß, dass es Nationen gibt. "Trotz" ist übrigens ebenfalls eine Form der Identifikation.
Wer wusste, dass es Welsche, Wenden oder sogar Italiener, Polen, Kroaten, Ungarn usw. gab und die üblichen Topoi kannte, der konnte sich nicht dagegen wehren, ein Nationalgefühl zu entwickeln.
Jetzt ist die Frage: wieviel wusste man überhaupt von "Deutschland" und dem Rest Europas? Welche Topoi gab es?
Sehr frühe patriotische Texte sind das von mir bereits gepostete Gedicht von Walther von der Vogelweide und, für die Franzosen, das Rolandslied aus dem 12 Jhd..
"Nationalität" wird klassischerweise wie ein familiäres Erbe definiert. Man führt seine Gemeinsamkeiten zurück auf historische Wurzeln. Zur Zeit der ersten gedruckten Bücher enstanden auch zahlreiche historische Bücher, die sich explizit mit der deutschen Geschichte befassten. Beispiele:
Sebastian Franck, 1538:
Von des ganzen Teutschlands aller teutschen Völker herkomen, Namen, Händeln, guten und bösen Thaten, Reden, Räthen, Kriegen, Sigen
Johannes Aventinus, 1541: Chronica von Ursprung, Herkomen und Thaten der uralten Teutschen.
Cyriacus Spangenberg, 1585:
Sässchische Chronica: Darinnen ordentlich begriffe der alten Teutschen, Sachssen, Schwaben, Francken, Thüringer, Meißner, Sclaven, Cimbern und Cherußken, Königen und Fürsten,
samt allerhandt politischen Händeln und Geschichten
=) Der letzte Titel ist geil. Ist ja allerhand drin. Ordentlich Begriffe.
Dass es im HRR nicht nur in der Wissenschaft ein Bewusstsein für historische Wurzeln "aller Teutschen" gab, sondern auch beim "Plebes", und dass dieses sich ausschließlich auf die Germanen bezog, wird deutlich, wenn man sich die populäre folkloristische Literatur zur damaligen Zeit ansieht.
Sehr populär von Mittelalter bis in die Neuzeit waren Sagen um Dietrich von Bern aus der Zeit der Völkerwanderung und Attilas Hunnenreich. Dietrich von Bern war wahrscheinlich der Gotenkönig Theoderich der Große, der über ein Reich von den Alpen bis nach Sizilien herrschte. Weder war er nach heutigem Verständnis Deutscher, noch Skandinavier. Claudia Roth würde ihn heute "Italiener" nennen.
Geschichten um Dietrich von Bern und seiner Mitstreiter und Gegner, oder Gesch. aus derselben Epoche waren auch in Skandinavien populär: Thidrekssaga, die nordische Version der Dietrichssaga, oder die Hervarar Saga.
Hieran erkennt man ua .folgendes:
1) wer lesen oder sich vorlesen lassen konnte, identifizierte sich mit den Germanen, auch, wenn sie nicht zu seinem Stamm gehörten.
2) andere Völker und Länder waren bekannt; mindestens Italien und Hunnen.
Es ist also alles vorhanden, um ein Nationalbewusstsein zu erzeugen. Und nicht nur das, sondern sogar das nationale Selbstverständnis der Deutschen in Mittelalter/Frühneuzeit war mit jenem derer im 20.Jhd in vielen Punkten identisch.
Die Nationenbildung Europas - zumindest im katholischen Teil - ist ca. ab dem Jahr 1000 fertig. Die Sprachgrenze zwischen romanischsprachigen und germanischsprachigen ist seither konstant geblieben.
Fast alle Wanderbewegungen im Osten seitdem wurden nach Ende des 2. WKs rückgängig gemacht.
Nur Türken und Sarazenen werden in den kommenden Jahrhunderten entlang der Levante, Spanien und dem Schwarzen Meer für Bewegung sorgen.
Und jetzt das, was diese Erkenntnis RELEVANT macht:
Der Stand von 900 wie auch sämtliche größeren Ereignisse seither beeinflussen
immer noch die europäische Politik.
Man kann die heutige Europa-Politik meiner Ansicht nach nicht richtig verstehen, wenn man sie nicht als nur einen Teil einer Entwicklung betrachtet, die vor 1000 Jahren begann.
Seit 1000 Jahren wohnen in Mitteleuropa zwischen Nordsee und Alpen "Deutsche" (siehe Annolied), seit 1000 Jahren wohnen östlich der Oder Polen und liegt weiter östlich davon das riesige Gebiet der Russen, sind südöstlich des Erzgebirges die Tschechen, südöstlich der Tschechen die Ungarn, an der Adria die Kroaten und Slowenen, südlich der Alpen die Italiener usw.
Und was seither passierte bestimmt heute Politik, Vorurteil, Mythos, Verbundenheit und Identität.
Genau so, wie vor 45 es unter Historikern Standard war, die deutsche Geschichte überhöht darzustellen, findet man heute seit 50 Jahren in der Geschichtsliteratur die gegenteilige Entwicklung. Und aus irgendeinem Grund halten hier Leute immer noch krampfhaft daran fest, dass "Nation" ein neumodisches, unvernünftiges, sogar gefährliches Hirngespinnst wäre.
Das ist aber wissenschaftlich geförderte Verblödung.
Wer immer noch glauben will, dass eine deutlich merkbare Sprach- und Mentalitätsgrenze ohne geograpische Grenze (Gebirge, Flüsse...) und trotz ständig wechselnder Staatszugehörigkeit 1000 Jahre lang UNVERÄNDERT bleiben könnte, ohne, dass Sprache, Lebensart, Wertvorstellungen und Bräuche für Menschen nicht einfach identitätsstiftend gewesen wäre, darf das tun. Finde ich aber banane.
Nachfolgend Details: Nationalzugehörigkeit ist nur eine von vielen ineinander verschachtelten Zugehörigkeiten eines Menschen; Zugehörigkeitsgefühl schließt Opportunismus nicht aus, schwächt die Tendenz zum Opportunismus lediglich.