Hi Dieter,
endlich mal jemand, der sich für das Osm. Reich interessiert...
Du stellst eine Frage, die zunehmen in der Historie gestellt wird: Nicht mehr allein die Frage nach dem "Rise and Fall" von Imperien, sondern die Frage, warum sie so lange überdauerten:
Multiethnische Großreiche im langen 19. Jahrhundert: Großbritannien, Habsburg, Rußland und Osmanisches Reich im Vergleich
Was meinste mit "lockerer" Verwaltung?
Eine "Staatsidee" gab es nicht?
War es nicht die Dynastie der Osmanen, die als Kitt diente, und lange Zeit ein erfolgreiches Gegengewicht gegen den später dann aufkommenden Nationalismus darstellte? (am spätesten haben sich dieser Idee die muslimischen Untertanen der Türken, Araber, Kurden, usw. angeschlossen)
Die
relative Autonomie in den millets führte vielleicht auch erst später zu größerer Unzufriedenheit. Die nicht-muslimischen Eliten wurden in den Staatsapparat integriert, auch ein Grund.
Jedenfalls war nicht das Militär der Hauptgrund. Das ist eine Ansicht, aus den letzten beiden Jahrhunderten, die inzwischen relativiert und revidiert ist. Also die Betonung des Militärischen im Osmanischen Reich. (Früher sah man das Reich primär als einen Militärstaat - nun nicht mehr.)
Hingegen ist die
Organisationskraft der Osmanen einer der Hauptgründe, für die lange Dauer seines Reiches. Und die einhergehende
Gerechtigkeit. Das funktionierende Justizwesen. Ich denke, Gerechtigkeit ist einer Hauptgründe für den langen Bestand (relativ gesehen zu der damaligen Zeit). Siehe unten den Abschnitt über die Bauern.
Es war zeitweise das bestorganisierte Staatswesen in der westl. Welt (Ostasien kenne ich zu der Zeit nicht). Zeitgenössische abendländische Beobachter sahen im Osm. Reich geradezu das Muster, das Vorbild eines leistungsfähigen zentralisierten Absolutismus.
Durch Kataster-Erfassung wurde das Land gerecht vermessen, da konnte man dann als Grundeigentümer auch vor dem Richter klagen, wenn das Land von anderen unrechtmäßig genutzt wurde. Genaue Steuerregister machen einen Großteil der osm. Archive aus. Bemerkenswert, für diese Zeit. Jeder Bürger konnte direkt beim Sultan eine Petition, eine Klage einreichen (die er selber zwar meist nicht gesehen hat, aber die oft an der Hohen Pforte bearbeitet wurde), so hat z.B. mal ein Dorfvorsteher eine Klage eingebracht, und ein paar Tage später ist ein Gruppe von Verwaltungsbeamten aus Istanbul in sein Dorf gezogen, um die Sache zu klären. (Diese Praktiken sind natürlich abhängig von der jeweiligen Zeit)
Es wurden Lebensmittelkontrolleure in den Basaren eingesetzt, damit die Qualität der Nahrungsmittel immer einen Standard entsprach, und niemand auf die Idee kommt, die Nahrung zu panschen (Gammelfleisch, Wein mit Wasser vermengen, etc.) Dazu auch Beamte, die die Gewichte eichten, damit auch da ein Schummeln erschwert wurde. usw.
Dazu die Möglichkeiten des
sozialen Aufstiegs, eine Errungenschaft, die viele sicherlich positiv an dem Osm. Reich fanden.
Vertikale Bindungen hatten im Allgemeinen Vorrang vor horizontalen.
Dazu schreibt ein abendländischer Gesandter Mitte des 16. Jh. völlig erstaunt:
"Geburt unterscheidet hier keinen von den anderen, Ehre wird jedem nach dem Maße seinen Standes und Amtes erwiesen; da gibt es keinen Rangstreit, die Stelle, die man versieht, gibt jedem seinen Rang. Ämter aber und Stellen verteilt der Sultan selbst. Dabei achtet er nicht auf Reichtum, nicht auf den nebelhaften Adel, nicht auf jemandes Ansehen oder auf das Urteil der Menge: sondern die Verdiente zieht er in Betracht, Sitten, Begabung und Eignung sieht er an; nach seiner Tugend wird jeder ausgezeichnet"
Bernard Lewis schreibt:
Bauern verfügten i.d.R. erblichen Besitztitel, der gemäß osm. Brauch vor Zerstückelung und Eigentumskonzentration geschützt war. Damit größere Freiheit, als unter früheren christl. Herrschern. Steuern auf niedrigeren Niveau festgesetzt, und, verglichen mit ehemaligen und benachbarten Regimen humaner eingetrieben. Wohlstand und Sicherheit trugen erheblich dazu bei, die Bauern mit anderen, weniger attraktiven Aspekten osm. Herrschaft zu versöhnen, und waren weitgehend für den langen Frieden in den osm. Provinzen verantwortlich, bis nationalistische Ideen aus dem Westen für eine Explosion sorgten. Noch im 19. Jh. äußern sich europäische Balkanbesucher positiv über das Wohl und die Zufriedenheit der Bauernschaft, gemessen an den Verhältnissen in Teilen des christl. Europa.
und S. Faroqhi schreibt:
"Man kann also im osmanischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts ein Zurücktreten des Herrschers und ein Hervortreten der verschiedenen Amtsträger feststellen. In der älteren Forschung hat diese Entwicklung oft als ein Symptom osmanischen Niedergangs gegolten. Heute ist diese Bewertung weniger verbreitet. Man erinnert sich der Feststellung Max Webers, daß nämlich
Bürokratisierung und Routinisierung typisch für neuzeitliche Herrschaftsausübung sind. Dementsprechend hatte der osmanische Staat stabile Institutionen herausgebildet. Die Haushalte von Wesiren und Gouverneuren rekrutierten Nachwuchs für den Staatsapparat; daneben aber entfaltete auch die Bürokratie eine eigene Dynamik. Man kann es durchaus als eine Stärke des osmanischen Staates betrachten, daß dieser jetzt zur Not
ohne einen aktiven Sultan auskommen konnte."
Es ist auch so, dass der Keim des Niederganges sicherlich schon im 16. Jh. zu suchen ist, die größte Reichsausdehnung erst Ende des 17. Jh. stattfand, jedoch es erst im letzten Drittel des 18. Jh. zu einem wirklichen Niedergang kam, denn dazwischen (16.-18. Jh.) gab es immer ein Auf und Ab, so dass man kaum von Niedergang sprechen kann, sondern eher von Stagnation. So zumindest die neuere Einteilung der osm. Geschichte in der Wissenschaft.
Als ein Beispiel, hier mal ein weiteres Faroqhi Zitat:
"Zwischen etwa 1720 und 1760–65 erlebten Handel und Gewerbe in vielen Zentren des osmanischen Reiches eine Epoche der Expansion. Auf dem Balkan gelang so manchem Maultiertreiber der Schritt zum Spediteur oder Fernhandelskaufmann, der die Leipziger Messe besuchte. Der erste Schritt in dieser Richtung war es oft, daß die Produkte winterlicher Heimarbeit im Frühling von den Maultiertreibern mitgenommen wurden, um sie, oft auf weit entfernten Märkten, zu verkaufen. So entwickelte sich etwa im heutigen Südbulgarien, in der Gegend von Plovdiv, die Weberei grober und fester Wolltuche. Dabei gelang es den örtlichen Kaufleuten, ihren Umsatz durch Strategien, die wir heute als aggressives Marketing bezeichnen würden, ganz erheblich zu steigern. Aber auch in anderen Teilen des Osmanischen Reiches zeigten sich die Zeichen wirtschaftlicher Expansion. In den Häfen stellten europäische Kaufleute fest, daß ihnen besonders christliche Einheimische harte Konkurrenz machten."
Und ab Ende des 18. Jh. trugen die rivalisierenden eifersüchtigen Interessen der abendländischen Staaten auch ihren Beitrag zum Erhalt des Osm. Reiches bei. Einerseits beuteten sie es in zunehmenden Maße aus (besonders beschleunigt ab Mitte des 19. Jh.), andererseits achteten sie penibel darauf, dass kein anderer sich der völligen Kontrolle des OR bemächtigte oder gar eroberte, wie es z.B. Russland teilweise beabsichtigte.
Gibt es noch mehr Gründe für die lange Dauer des osmanischen Reiches?
Ciao und LG, lynxxx