Eigentlich wollte ich eine Nachdenklichkeit bzgl. der sowjetischen Diplomatie erzeugen, und auch die oben dargestellten Hinweise fußen im Wesentlichen darauf (bis auf Chubaryan nach der Vorgehensweise: Quod non est in actis, non est in mundo).
Das sowjetische Verhalten bzgl. Finnland würde ich indiziell nicht werten, da hier die lagebezogenen Auswirkungen kaum abgrenzbar sind. Außerdem können Motive wechseln.
Ebenso wenig würde ich das Vorkriegsverhalten Stalins heranziehen; Finnland und die Sowjetunion waren diplomatisch verbunden: über einen laufenden Nichtangriffspakt (den Stalin kündigte), über den Völkerbund (Artikel 12 der Satzung), über den Briand-Kellogg-Pakt. Die mögliche Aggression/Bedrohung via Finnland konnte zudem (nach der Lage) ausschließlich durch das Deutsche Reich erfolgen, bzgl. dieser Position gab es tatsächlich eine divergierende Einstellung zwischen Baltischen Staaten und Finnland (letzteres in einer etwas anderen Lage).
Zur Nachdenklichkeit, und hier möchte ich der absolut formulierte Position ("Finnland basierte auf sicherheitspolitischen Vorstellungen, nicht auf revisionistischen Gebietsansprüchen") folgendes Zitat entgegen halten von dem Autor, der sich - soweit ich sehe - am weitgehensten mit dem Hitler-Stalin-Pakt auseinander gesetzt hat:
"Beide Seiten hatten ihre geplanten Erwerbungen mit [Polen] Finnland, Estland und Lettland bzw. Litauen
deutlich abgesteckt. ... Das Protokoll bezeichnet Finnland als Baltischen Staat." Die Interessensphären des Geheimen Zusatzprotokolls bezeichnen nach herrschender Auffassung Territoriale Ansprüche. So ist Molotovs Rüge und Protest im November 1940 zu verstehen, dass Finnland langsam in den deutschen Interessenbereich abgleite.
Das führt zu folgendem Zitat:
"Die Einsetzung der bereits
am 23.11.1939 geplanten Kuusinenregierung im besetzten südlichen Finnland sowie die Stoßrichtung des sowjetsichen Angriffs, um Finnland zu teilen, belegen außerdem, dass Stalin mit ideologischer Scheinrechtfertigung [Anm: die "Sicherheitsinteressen" in der Diplomatie]
die völlige Sowjetisierung und Eingliederung nicht nur dieses Landes, sondern vermutlich analog auch von Anbeginn die Annexion der baltischen Staaten geplant hatte."
-> mit Abstützung auf Tucker (Stalin, S. 604), Thadden (Stalin, S. 84).
(der Einmarsch begann am 30.11.1939, am Tage der Offensive rief abgestimmt die KP Finnlands zum Sturz der Regierung Cajander auf; am 1.12.1939 wurde in Terijoki die "Finnische Nationalregierung" unter dem Kommunisten Kuusinen, der aus dem Moskauer Exil dorthin reiste, ausgerufen, wobei ein Anschluß Finnlands - wohl bedeutungslos und das Papier nicht wert - in der Proklamation ausdrücklich "nicht
angestrebt" wurde, mit Hinweis "auf
bestehende Unterschiede in der Gsellschaftsordnung. (Plettenberg, S. 497/498) - "die in offensichtlicher Fehleinschätzung ihrer Basis und der Massenstimmung im Lande ausgerufene [kommunistische] Nationalregierung konnte sich nicht halten und wurde von der Sowjetregierung [also: Stalin] fallengelassen" (Plettenberg, S. 498)
und weiter:
"In durchsichtiger, einseitiger Schuldzuweisung werten somit einige forscher deutsche Aktionen [zutreffend] als expansive Aggression und sowjetische als eng sicherheitsorientierte, beschwichtigende Absicherung der "Interessensphäre" [logischer Bruch: diese ist herrschend "territorial" definiert] innerhalb eines "weiteren strategisch-politischen Konzeptes" oder als "Erwerb von Sicherheitspositionen", um die eigene [sowjetische] Neutralität zu wahren [logischer Bruch: diese Neutralität führte zu materieller Unterstützung des Dritten Reiches 1940/41 bis zum Angriff]"
-> Lipinsky, Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999
SEHEPUNKTE - Rezension von: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999 - Ausgabe 6 (2006), Nr. 11
Daher mein Anliegen, die indizielle Verwertung von "fehlenden Unterlagen" sowie von "Diplomatischen Akten" [hier der Sowjetunion in der Außenwahrnehmung] kritisch zu hinterfragen. Nicht ganz unbeachtlich finde ich schließlich
die zeitgenössische Rezeption der Ereignisse, die sich in den territorialen Zielen der SU einig war. Entsprechend läßt sich diese ältere Arbeit anführen:
Ingeborg Plettenberg: Die Sowjetunion im Völkerbund 1934 bis 1939
... die sich in der Wertung allerdings ebenso nur auf die ältere (diplomatisch gestützte) Wertung des Angriffs bezieht: "Die Befürchtungen der sowjetischen Seite, dass ihre nordwestlichen Nachbarstaaten freiwillig oder gezwungen zu Aufmarschgebieten der deutschen Wehrmacht werden könnten [Anm: wahrgenommener Stand+Lage 1938/39], entbehrt demnach nicht der Grundlage." [Zitat in Auswertung britischer Akten]
-> so auch Hillgruber mit Abstützung auf die finnischen Akten bei Verhandlungseröffnung
Weiteres "Material", was Deine Auffassung stützt [die ich aber nicht für zutreffend halte], neben Max Jakobson:
Jacobsen (Der Weg zur Teilung der Welt)
Engle/Paanaanen (The Winter War)
Chew (The White Death)
"The Reasons Why" halte ich für eine überaus komplexe Frage, die derzeit nicht anhand diplomatischer Schritte und Akten zu klären ist. Aus der Gesamtbetrachtung der Abläufe kann man den Sicherheitsaspekt nicht verneinen, ich halte ihn aber für sekundär.
Dass sich Völkerbund und Drittes Reich in merkwürdiger Übereinstimmung für die rein territorialen Ansprüche, über den Gebietsrevisionismus und die weitergehenden Ziele der SU gegen Finnland einig waren, sollte ebenfalls Anlaß für die kritische Betrachtung der offiziellen sowjetischen Dokumente sein.