In diesen Städten war totale Willkür-Herrschaft die Ausnahme, stattdessen konnten sich die Bürger darauf verlassen, dass bestimmte gesellschaftliche Spielregeln eingehalten werden.
Ich fürchte, dass idealisiert die Zustände in den oberitalienischen Kommunen etwas, bzw. spielt die Außeinandersetzungen innerstädtischer Adelscliquen und andere laufend schwelenden Machtfragen etwas sehr herunter.
Die Auseinandersetzungen, der verschiedenen Parteiungen innerhalb der Städte konnte mitunter bürgerkriegsähnlichen Charakter annnehmen.
Konsequenz vor allem der Fehde-ähnlichen Auseinanderstzungen der Adelsparteiungen in den kommunen, war dann auch, dass die großen Familien in den oberitalienischen Städten so genannte "Geschlechtertürme" errichteten, die zwar letztenndlich auch einen Repräsentativcharakter hatten, ihren Besitzern aber vor allem vor allem bei gewaltätigen Auseinandersetzungen als innerstädtische private Kleinstfestungen dienten, in denen sich das schlimmste Toben meist aussitzen ließ.
Der Umstand, das wer immer innerhalb des städtischen Adels etwas auf sich hielt, sehr schnell dazu überging, sich innerhalb der Stadt sozusagen einen eigenen "Privatbunker" zu bauen, spricht nicht unbedingt für besonderes Vertrauen gegenüber den anderen Einwohnern der Stadt oder die konsequente Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz sondern eher für das Gegenteil.
Vielfach sind diese Bauten heute nicht mehr vorhanden, wer allerdings mal nach Bologna kommt, kann das Phänomen noch in Natura betrachten, da sind heute noch 20 alte "Geschlechtertürme" ganz oder zum Teil erhalten.
Allerdings standen in der Stadt einmal bis zu 180 davon.
Geschlechterturm – Wikipedia
Auch ansonsten halte ich die Argumentation für ein wenig fragwürdig:
- Mit der Form der "Signoria", als dem sich selbst verwaltenden, eigenständigen Stadtstaat in Norditalien geht es im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit bereits wieder rapide bergab und außer in Venedig und Genua, mit Abstrichen vielleicht Bologna (so es periodisch gelang die päpstlichen Machansprüche in der Romagna anzufechten), blieb davon eigentlich nicht mehr viel übrig.
In Mailand und Florenz übernahmen (freilich mit Unterbrechungen durch republikanische Systeme, in Florenz auch mit unterbrechung durch eine kurze de facto theokratische Phase, während der Machtausübung Savonarolas) fürstliche Geschlechter die Kontrollen und bauten da im Prinzip seit dem Spätmittelalter (Mailand eigentlich schon früher) Territorialherrschaften auf, in denen die meisten eigenständigen Kommunen untergingen, zeitgleich mit Mailands Expansion entstand die venezianische "Terra Ferma", die sehr schnell ehemals eigenständige Kommunen wie Verona, Padua und Treviso schluckte.
Was neben Venedig und Genau an Stadtstaaten (wobei angesichts der Gebiete die sie beherrschten schon fraglich wäre, ob man sie noch als solche bezeichnen konnte) längerfristig blieb, waren mit einigem guten Willen Ferrara, Mantua, Lucca und vielleicht noch Parma und Modena, wobei gerade letztere zwei allerdings im Prinzip Territorialherrschaftskomplexe bildeten.
So viel blieb davon auf dauer nicht.
Und das gerade in Norditalien unter den Bedingungen der ständigen Kriege und Kleinkriege der Adelsparteien in den Städten und bei den ganzen Auseinandersetzungen der klein und Mittelstaaten und und dem Treiben von mitunter großen Söldnerbanden besonderes Vertrauen gegenüber Fremden entstanden sein soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Süditalien wurde sehr lange fremdbeherrscht (die Lombardei übrigens auch), aber diese Herrschaft war wenigsten stabil und brachte eher selten kriegerische Verwicklungen mit sich.
In Norditalien hielten sich die auswärtigen Mächte zwar nicht ganz so lange, dafür missbrauchten Habsburger, Trastamara, Valois und Bourbonen Nordtialien allerdings alle paar Jahre als Austragungsort für ihre Zwistigkeiten, so dass die Region in hübscher Regelmäßigkeit durch Kampfhandlungen und Verwüstungen der Heere auswärtiger Potentaten betroffen war, was das Vertrauen in Fremde nicht gerade gestärkt haben dürfte.
Es ist in diesem Sinne bezeichnent, dass bereits Niccolò Machiavelli am Ende seines "Il Principe", den er Lorenzo de Medici gewidtmet hatte, dazu aufrief, Italien von der Fremdherrschaft zu befreien und die "Barbaren" aus dem Land zu drängen.
Das schrieb er als Florentiner, der anders als die Neapolitaner und Süditaliener und anders als neuerdings die Mailänder von auswärtiger Fremdherrschaft überhaupt nicht betroffen war.
Wenn es darum ging, einigermaßen stabileund berechenbare Strukturen zu schaffen, die dazu geeignet waren in geewissem Maße Sicherheit zu geben, dann hatte Süditalien mit seiner Geschichte seit dem Hochmittelalter eigentlich viel bessere Indikatoren, als Norditalien.
Ich würde mich demgegenüber sogar zu der These versteigen wollen, dass die schwache Ausprägung staatlicher Gewalt in Süditalien, die die entsprechenden Freiräume für die organisierte Kriminalität geschaffen hat, vor allem darauf zurückgeht, dass im Gegensatz zur kriegerischen Vergangenheit Norditaliens, die langen stabilen Friedensperioden, die Süditalien vergönnt waren, einfach nicht die glichen Herausforderungen an Staatlichkeit stellten, wie sie im Norden gegeben waren.
Auch die eher schwache Ausprägung der Urbanisation und die starke Herausbildung von Latifundienwirtschaft, im krassen Gegensatz zu Teilen Norditaliens (in Mittelitalien relativiert sich das etwas), mag mit der fortgesetzten territorialen Stabilität des Raums zusammenhängen, die die Herausbildung regionaler Machtzentren zu Gunsten Neapels eher behinderte (mit Ausnahme des Nebeneinanders von Festland-Territorium und der Insel Sizilien) und lange kontinuierliche Akkumulationprozesse ermöglichte, die anders als im Norden nicht permanent durch Kriege und politische Umbrüche unterbrochen und wieder umgewälzt wurden.