Hier [in der Bewertung der Person Wilhelms II:] wechselte wohl auch das Publikum
Zweifellos. Wie aus seiner eigenen Rechtfertigungsschrift (Gestalten und Ereignisse 1878-1918, Leipzig: Koehler 1922) hervorgeht, war er aber besonders enttäuscht, dass gerade jene "Leute, die mir früher in übertriebenem Maße [sic] Weihrauch gestreut haben, mich heute mit Schmutz bewerfen" (S. 287). Hier klingt mE ein Quäntchen von Selbstkritik an, die im Übrigen vollständig fehlt. Gleichwohl noch ein paar Zitate Wilhelms zu den Optionen im November 1918 (aaO, S. 245 f.).
1. "Die Einen sagen: Der Kaiser hätte sich zu einem Truppenteil der Kampffront begeben, mit ihm auf den Feind stürzen und in einem letzten Angriff den Tod suchen sollen."
Seine eigene Antwort: "Dadurch wäre aber nicht nur der vom Volke heiß ersehnte Waffenstillstand, über den bereits die von Berlin zum General Foch entsandte Kommission verhandelte, unmöglich gemacht, sondern auch das Leben vieler, und gerade der besten und treuesten Soldaten, nutzlos geopfert worden."
Entgegen Rurik ("Der Typ ist einfach 'weggelaufen'. Nicht sehr soldatisch... Soldatisch ist, auch den eigenen Tod in Kauf zu nehmen.") bin ich hier voll auf Wilhelms Seite. Die Frage nach dem Nutzen weiterer Opfer hätte ihm allerdings schon früher einfallen können.
2. "Andere meinen, der Kaiser hätte an der Spitze des Heeres in die Heimat zurückkehren sollen."
Antwort: "Eine friedliche Rückkehr war aber nicht mehr möglich. ... Ich hätte ... zwar die Rückkehr erzwingen können. Aber damit wäre der Zusammenbruch Deutschlands besiegelt gewesen. Denn zum Kampfe mit dem zweifellos nachdrängenden Feinde wäre noch der Bürgerkrieg getreten."
Ob Hindenburgs "Einflüsterungen" tatsächlich "unzutreffend" waren (Turgot), ist selbst von heute aus nicht völlig klar. Und wie hätte sich Wilhelm, über Hindenburg hinweg, vom "Wahrheitsgehalt ... persönlich überzeugen" (Turgot), wen hätte er fragen sollen? Wenn es der "Held von Tannenberg" (und bis Oktober faktischer Machthaber in Deutschland) nicht besser wusste, wer sonst? Ob man aus dem Brief, den Wilhelm am 5.4.1921 an Hindenburg schrieb, einen versteckten Vorwurf heraushören kann?
Wie Sie wissen, habe ich mich zu dem schweren, furchtbaren Entschluß, außer Landes zu gehen, nur auf Ihre und meiner übrigen berufenen Ratgeber dringende Vorstellung durchgerungen, daß es nur allein auf diesem Wege möglich sei, unserem Volke günstigere Waffenstillstandsbedingungen zu verschaffen und ihm einen blutigen Bürgerkrieg zu ersparen. Das Opfer ist umsonst gewesen. (S. 254)
3. "Wieder Andere meinen: Der Kaiser hätte sich selbst den Tod geben sollen."
Antwort: "Das war schon durch meinen festen christlichen Standpunkt ausgeschlossen. Und würde man nicht gesagt haben: Wie feige? Jetzt entzieht er sich aller Verantwortung durch den Selbstmord."
Arne zufolge hat er "angeblich" darüber nachgedacht, und Rurik meint, "die Nummer mit dem Christentum [sic] klingt schon eher nach einer Schutzbehauptung" - ich habe keinen Anlass, W. zu verteidigen und frage deshalb nur, was ihn derart unglaubwürdig macht. :scheinheilig:
Was die Verantwortung betrifft, so sehe ich freilich nicht, wie er sich dieser in den mehr als 22 Jahren des Exils gestellt hat.
Er hätte in seinem Land bleiben und die Staatsgeschäfte, soweit es seine Fähigkeiten zuließen, regeln sollen. ... Ob das funktioniert hätte, kann man natürlich nicht sagen, aber versuchen hätte der schneidige Wilhelm es müssen. Das wäre meiner Meinung nach seine Pflicht gewesen.
Ehe sich Wilhelm aber dazu entschließen konnte, hatte sein Reichskanzler ihn freilich schon für abgesetzt erklärt, d. h. die Entscheidung hätte deutlich früher fallen müssen. Ich bezweifle auch, dass das eine realistische Option war.
Die Leute wollten doch eigentlich nur, dass der elende Krieg endlich aufhörte. Sozialismus und anderen fiktiven Kram wollten die wenigsten.
Ob die Sozialisten oder gar die Kriegmüden Wilhelm nach Berlin hätten fahren lassen? Er war nun allerdings, trotz eigener Unschuldsbeteuerungen, das Symbol schlechthin für das "alte Regime", dessen Krieg und dessen Niederlage. Und bezüglich der These, dass "die wenigsten" [sic] den "Sozialismus und anderen fiktiven Kram" gewollt hätten, wäre ich für belastbare Daten dankbar.
Am Ende hätte sich das Kaisertum eventuell in eine konstitutionelle Macht retten und in der Zukunft stabilisierend wirken können.
Völlig auszuschließen ist das nicht, aber das Glaubwürdigkeitsproblem Wilhelms bestand ja nicht nur nach innen, sondern auch nach außen. Bei einem anderen GF-Thema ist hinlänglich dargestellt worden, dass die Alliierten einen Friedensschluß mit dem "alten Regime" nicht wollten.