Aufgeworfen wurde das Thema von BZwo:
Da sich hier in letzter Zeit alles um Wanderprediger dreht, würde ich gerne nochmal auf den Kynismus und den eventuellen Einfluss den kynische Philosophie auf das frühe Christentum und auf Jesus [...] hatte, zu sprechen kommen. Leider sind kynische Schriften allenfalls in Fragmenten erhalten, und das meiste kann man nur aus den Kommentaren anderer antiker Autoren über diesen Philosophiezweig erschliessen. Aber es gab wohl auch im Kynismus Wanderprediger (oder wandernde Philosophen, wenn man so spitzfindig sein will) die unter anderem auch Bedürfnislosigkeit gepredigt haben. Das würde ja auch sehr gut zu den Verhaltensregeln für Wanderprediger passen [...]. Einige Zitate kynischen Ursprungs, die auch gut von Jesus stammen könnten, hatte ich schon weiter oben gebracht.
Epiktet: "Alle Menschen haben immer und überall einen Vater der für sie sorgt."
Dio aus Prusa: "...betrachte die wilden Tiere dort drüben und die Vögel, wieviel sorgenfreier sie als der Mensch leben..."
Und bei Seneca findet man zum Thema kynische Philosophie folgendes: "Gestatte jedem Menschen, der es möchte, dich zu beleidigen und falsch zu behandeln; wenn jedoch nur Tugend in dir ist, wirst du nichts erleiden. Wenn du glücklich sein möchtest, wenn du in guter Absicht wünschen würdest, ein guter Mensch zu sein, lass den einen oder anderen Menschen dich verachten."
Edit:
Können wir uns nicht mal zwischendurch über Wanderprediger des 1. (und vielleicht noch 2.) Jahrhunderts unterhalten, ohne auf die Person Jesus fixiert zu sein?
Ja genau, z.B. über kynische Wanderprediger.
Wenn Du im Allgemeinen über solche Ähnlichkeiten zwischen Stoa/Kynismus auf der einen Seite und Aussprüchen Jesu auf der anderen Seite [...] in Anlehnung an Dohertys Thesen diskutieren willst, dann steuere ich gerne was bei [...]:
Ich beschränke mich auf das Epiktet- und das Dion-Zitat (findest Du übrigens bei Doherty genauere Werk- und Stellenangaben?):
Epiktet: "Alle Menschen haben immer und überall einen Vater, der für sie sorgt."Wenn ich nach einer Parallele in den Aussprüchen Jesu suche, so kommt mir als erstes die Bergpredigt in den Sinn. Ich schätze mal, als Q-Paralelle für die beiden Philosophen-Zitate betrachtest Du Matth. 6, 25ff?Dio aus Prusa: "...betrachte die wilden Tiere dort drüben und die Vögel, wieviel sorgenfreier sie als der Mensch leben..."
Matth. 6, 25-26:
Ich nenne die vier inhaltlichen Punkte, die ich in dem fett markierten Text erkenne:Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?
Punkt 1: Der Mensch soll sich nicht um die existentiell-materielle Versorgung zum Leben sorgen, denn ...
Punkt 2: die Wildvögel sorgen sich auch nicht um ihre existentiell-materielle Versorgung.
Punkt 3: Dennoch werden sie vom himmlischen Vater ernährt und versorgt.
Punkt 4: Der Mensch ist aber noch viel mehr Wert als die Wildvögel (Unausgesprochen folgt daraus: Umso mehr versorgt der himmlische Vater den Menschen, der ihm in dieser Hinsicht vertraut).
Bei Epiktet sehe ich Anklänge an Punkt 1 und an das, was unter Punkt 4 in Klammern gesetzt ist.
Bei Dion von Prusa sehe ich Anklänge an Punkt 2.
Reichen diese „Anklänge“ aus, um über eine Abhängigkeit nachzudenken? Und ich meine jetzt keine literarische Abhängigkeit, sondern eine Abhängigkeit der Idee(n). Zumindest sind einige inhaltliche Gemeinsamkeiten nicht zu leugnen. Dennoch muss man auch bedenken, dass man bereits beim schnellen Durchstöbern des AT`s ebenso einige der oben benannten Punkte formuliert findet (Punkt 3: z. B. Psalm 104, 10ff. 27-28 u. 136, 25; Punkt 4: z. B. Gen. 1, 26-28). Nimmt man sich Zeit zum Suchen, würde man vielleicht alle vier Punkte schon im AT und/ oder den jüd. Apokryphen aus der Zeit vor Jesus finden. Und es fragt sich, ob die Bergpredigt nicht eher von dieser jüdischen Gedankenwelt als vom Kynismus beeinflusst ist. Und wie das folgende Zitat gleich zeigt, finden sich jene Punkte zudem in der rabbinischen Literatur; die Verwandtschaft der dortigen Gedanken mit Matth. 6, 25f ist m. E. enger als die zwischen Matth. 6, 25f und den Zyniker-Zitaten:
Mischna, Seder Naschim, Traktat Kidduschin IV 14a:
Natürlich war auf der anderen Seite das Zeitalter des Hellenismus dasjenige, in dem auch im Judentum griechisches Gedankengut hie und da zaghaft Fuß fasste. Deshalb will ich nicht zu schnell behaupten, im 1. Jh. n. Chr. könnten nie und nimmer und unter gar keinen Umständen irgendwelche kynischen od. stoischen Elemente in der religiösen Sprache der Juden zu finden gewesen sein. Da kenne ich mich zu wenig aus.Rabbi Schim'on ben El'azar [um 190 n. Chr.] sagt: Hast du zu deiner Zeit ein Tier oder einen Vogel gesehen, die ein Handwerk ausübten? Und sie werden ohne Mühe ernährt. Und wurden sie nicht nur geschaffen um dir zu dienen, und wurde ich nicht geschaffen, um meinem Schöpfer zu dienen; sollte ich da nicht ernährt werden ohne quälende Sorgen?
Nur eines ist ja klar: So man von der Existenz Jesu ausgeht, so können seine Aussprüche mitnichten von Epiktet oder Dion, die beide erst Jahrzehnte nach Jesu Tod geboren wurden, abhängig sein. Wenn man aber schließen möchte, dass Jesus nicht existiert haben kann, weil seine bzw. die ihm angedichteten Sprüche von den Sprüchen Epiktets und Dions abhängig sind, diese aber erst bald ein halbes Jahrhundert nach Jesu angeblichem Tod gewirkt haben, so ist das natürlich eine ziemliche Überbewertung jener inhaltlichen Überschneidungen ihrer Sprüche. Außerdem müsste man dann auch annehmen, dass Rabbi Schim'on von den Zynikern abhängig ist, was gemessen an der sonstigen ziemlichen Eigenständigkeit und Abgrenzung der jüdisch-rabbinischen Literatur und Gedankenwelt, die sich für griechische Philosophie nicht interessiert, reichlich gewagt sein dürfte.
In Bezug auf Epiktet und Dion (bzw. Dio, so wird er auch in dem Brief von Lukian von Samosata genannt, den Sepiola verlinkt hat) hast Du sicher Recht. Natürlich könnte man sich fragen inwieweit diese Zitate sich auf die Lehren der Begründer des Kynismus wie z.B.: Antisthenes, Diogenes oder Krates beziehen. Leider ist von deren Schriften nichts überliefert, daher bleibt es wohl letzten Endes Spekulation, wieviel kynisches Gedankengut im Christentum steckt, es sei denn es werden irgendwo mal wieder ein paar alte Schriftrollen entdeckt, die diese Frage klären können.
die Frage nach Anlehnung an / Beeinflußung durch / Variation von / womöglich gar Ideenklau bei griech.-röm. philosophische Richtungen (Stoa, Kyniker) -- ganz egal wie man das formuliert -- wirft noch ganz andere Fragen auf, wenn sie speziell auf den Anfang, auf das "Urchristentum" und auf Jesus selber bezogen wird!
Denn es fragt sich dann:
- wie verbreitet in den kulturellen/städtischen Zentren Palästinas waren griechische philosophische Schriften oder Lehren?
- wie "hellenisiert" in kultureller und geistiger Hinsicht war die Oberschicht in dieser Gegend?
- wie verhielt sich die einheimische Religion/Religiosität zu den philosophischen Schulen/Richtungen? was hielt man in den Synagogen, im Jerusalemer Tempel von diesen Philosophen (und was kannte man tatsächlich von denen)?
- wer hatte Zugang zu dergleichen "intellektuellem Luxus"? ("Bücher", Schriftrollen, Kopien waren ein sehr teures Gut)
- müssten die Wanderprediger nicht enorm gebildete, an Akademien studierte Denker gewesen sein, wenn sie dergleichen Philosopheme zu variieren, zu adaptieren, umzudeuten vermochten?
- wer konnte sich wo und auf welche Weise vor der Integration ins röm. Imperium im Satrapenstaat des Herodes solchen Bildungsluxus leisten?
Mein Verdacht: ein Wanderprediger im 1.Jh. in Palästina, der tatsächlich Kentnisse in griech. Philosophie hatte, musste entweder einer hellenisierten Oberschicht angehört haben oder aufgrund seiner sonstwie privilegierten Herkunft Zugang zu dieser und deren Bildungsstätten gehabt haben.
Mein zweiter Verdacht: Anklänge an bzw. Anlehnungen an griech. Philosophie(en) in den frühchristlichen Quellen sind erst später, Ende 1. und dann im 2. Jh. entstanden, als salopp gesagt die Buchreligion konstruiert und konstituiert und dabei mit Bildung aufgeladen wurde - umgekehrt bedeutet dieser Verdacht, dass der historische Jesus auf seinen Predigtwanderungen noch nicht mit griech. Philosophemen bzw. mit Variationen/Anlehnungen an solche argumentiert/gepredigt hatte (man fragt sich auch, wer im "einfachen Volk" dergleichen gekannt haben sollte und davon hätte angesprochen werden können)
Ich beschränke mich auf das Epiktet- und das Dion-Zitat (Findest Du übrigens bei Doherty genauere Werk- und Stellenangaben?):
Gute Frage.
Das Epiktet-Zitat habe ich im Handbüchlein nicht und in den Lehrgesprächen in dieser Form nicht gefunden, vielleicht sind hier Aussagen aus 1,3 und 3,24 kombiniert.
Die drei, vor allem Diogenes, werden in den Lehrgesprächen Epiktets einige Male erwähnt und zitiert.Natürlich könnte man sich fragen inwieweit diese Zitate sich auf die Lehren der Begründer des Kynismus wie z.B.: Antisthenes, Diogenes oder Krates beziehen. Leider ist von deren Schriften nichts überliefert
Der "sorgende Vater" wird aber keinem der drei zugeschrieben.
ein paar Beiträge zuvor ging es darum, ob möglicherweise Anlehnungen an griech. kyn. Philosophen in den urchristlichen Quellen enthalten sind
Wir sprechen also über den Kynismus.
Die Frage lautete:und ich habe mir daraufhin erlaubt, zu fragen, wie wahrscheinlich Kenntnisse in griech. Philosophie unter Wanderpredigern des 1. Jhs. gewesen sein können
Die Frage beantworte ich nochmal mit einem ganz deutlichen Nein.- müssten die Wanderprediger nicht enorm gebildete, an Akademien studierte Denker gewesen sein, wenn sie dergleichen Philosopheme zu variieren, zu adaptieren, umzudeuten vermochten?
Der Kynismus pfiff auf jegliche formale Bildung, betrieb nie irgendwelche Akademien, hat auch nie ein philosophisches System entwickelt, das man hätte studieren können. Die frühen Kyniker haben noch nicht mal irgendwelche Schriften hinterlassen, sondern nur Anekdötchen, aus denen sich ihre Nachfolger nach Belieben bedienten.
Wie ich bereits erwähnte, wurde die kynische Lehre im Gegensatz zu anderen philosophischen Richtungen in erster Linie durch Wanderprediger (wandernde Philosophen) verbreitet. Daraus lässt sich denke ich schliessen, das nicht nur Angehörige der geistigen Eliten Zugang zu diesen Ideen hatten. Das sich einer dieser kynischen Wanderprediger allerdings bis nach Galiläa verlaufen hat, halte ich aber auch wieder für eher unwahrscheinlich. M.E. könnten aber durchaus einige dieser wandernden Philosophen ihre Lehren in den Hafenstädten der Levante verkündet haben. Dort könnten auch jüdische Händler, die ja wahrscheinlich schon aufgrund ihres Berufes ein ausreichend gutes griechisch beherrschten, einige dieser Ideen aufgeschnappt und weitergetragen haben. Auf diesem Wege könnten dann auch die urchristlichen Gemeinden mit diesen hellenistischen Ideen in Berührung gekommen sein, vermutlich sogar ohne etwas über den eigentlich Ursprung dieser Weisheiten zu wissen.
Wie ist Eure Meinung dazu?
Halte ich im Großen und Ganzen schon für plausibel.
Die Frage ist halt nur, ob man für die Evangelien überhaupt kynische Einflüsse annehmen muss.
Für unser Thema gilt:
Margarethe BillerbeckDa sie nie ein philosophisches Lehrgebäude entwickelt hatten, sondern sich in ihren Grundsätzen vornehmlich an der exemplarischen Lebensweise des Diogenes von Sinope und des Krates von Theben orientierten, bedeutete Kynikersein, diese beiden Autoritäten nachzuahmen. Das Fehlen eines schriftlichen Kanons brachte es mit sich, dass Epigonen die Handlungen und Verhaltensweisen der alten Kyniker oft imitierten, ohne deren Sinn zu verstehen oder zu verwirklichen. Da zudem der Kynismus durch sein Ziel der völligen Autarkie an die totale Besitzlosigkeit gebunden war und daher auch jede formale Bildung ablehnte, war er besonders geeignet, unlautere Elemente anzuziehen.
...
Da die kynische Bewegung im Gegensatz zur stoischen Schule kein schriftlich fixiertes Lehrsystem besass, konnte Epiktet für seine Darstellung des idealen Kynikers auf keine kanonischen Schriften zurückgreifen. Für die Ausarbeitung seines kynischen Leitbildes schöpfte er, sofern Diogenes und Krates als Vorbilder dienten, aus der reichen Anekdoten- und Apophthegmenüberlieferung.
Epitket. Vom Kynismus.
Es ist angenommen worden, dass in Nazareth jüdische Handwerker wohnten, die in den griechischen Städten arbeiten, aber nicht wohnen wollten. [...]
Das Judentum hatte sich damals auch schon mit der griechischen Philosophie auseinandergesetzt. Also gehörte ein gewisses Wissen hierüber auch zur jüdischen religiösen Bildung, oder diese war zumindest davon beeinflusst.
Wir gehen hier immer davon aus, dass die Beeinflussung nur in eine Richtung gegangen sei und die ist natürlich vom Kynismus zum Christentum. Warum aber eigentlich? Warum können wir keine umgekehrte Beeinflussung annehmen? Dio Chrysostomos war mit Trajan befreundet. Trajan war mit Plinius befreundet, Plinius schrieb Trajan Briefe über die Christen mit denen er sich als Prokurator Trajans herumzuschlagen hatte. Ein interessierter Mann wie der Goldmund wird sich doch sicher mal zu den Christen Roms begeben haben und deren Predigten gelauscht, und ihm gefiel eben das Wort mit den Vögel, die nicht sähen und nicht ernten und eben doch ernährt werden und er hat es in seine Philosophie übernommen, weshalb ein christliches Wort nun im kynischen Repertoire zu finden ist.
Dies ist nur eine Behauptung von mir, nicht mehr, aber sie ist chronologisch gut begründet und hat daher m.E. dieselbe Berechtigung wie die Annahme, dass in die Evangelien ein kynisches Wort eingeflossen ist, zumal Dio Chrysostomos bei der Niederschrift der synoptischen Evangelien so ca. 25 - 30 Jahre alt gewesen ist, also sicher noch nicht den Bekanntheitsgrad hatte.
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