Wie bewusst waren sich die Römer der Spätantike eigentlich ihrer Geschichte?
Sie waren grundsätzlich wohl noch interessiert, aber anscheinend immer weniger gewillt, umfangreiche Geschichtswerke zu lesen. Stattdessen wurden in der Spätantike Breviarien beliebt, also Kurzdarstellungen wie die von Eutropius und Aurelius Victor, weiters Sammlungen von Biographien (z. B. die Historia Augusta oder das wohl zu Unrecht Aurelius Victor zugeschriebene "De viris illustribus"). Teilweise wurden auch Klassiker exzerpiert und in dieser Form gelesen, z. B. die Livius-Periochae.
Was das für das Geschichtswissen des durchschnittlich interessierten Römers mit Zeit für und Zugang zu Büchern bedeutete, lässt sich wohl schwer abschätzen. Einerseits ging es wohl weniger in die Tiefe, andererseits war es möglich, in komprimierter Form mehr Überblickswissen in weniger Zeit zu erwerben.
Wir wissen aber auch nicht so genau, wie es früher aussah, inwieweit also z. B. in der frühen Kaiserzeit tatsächlich umfangreiche Werke gelesen wurden. Plinius d. J. erwähnte, dass er römische Geschichte anhand von Livius lernte, was aber nichts darüber aussagt, wie repräsentativ er war. Kürzere Darstellungen gab es schließlich auch immer schon, z. B. von Velleius Paterculus und Florus.
Dass umfangreiche Werke verfasst wurden, lässt mE nicht zwangsläufig darauf schließen, dass sie auch tatsächlich viele Leser fanden. Einerseits galt die Geschichtsschreibung an sich als ehrenvolle Tätigkeit, die nicht aus kommerziellem Interesse betrieben wurde, andererseits schaffte sich vielleicht so mancher gute Haushalt Klassiker an, ohne sie wirklich zu lesen. (In neuerer Zeit gehörten schließlich auch in jeden Haushalt, der auf sich hielt, schön gebundene Ausgaben von Goethe, Schiller, Shakespeare & Co., die repräsentativ im Wohnzimmer oder Arbeitszimmer standen, aber vielfach wohl nicht wirklich gelesen wurden.)
Ich nehme an dass sie beim Nachdenken über die Geschichte Konzepte aus ihrer Zeit in die Vergangenheit übetragen haben, so wie wir es heute auch tun.
Das war immer schon so, nicht erst in der Spätantike. Schon bei Livius wurden viele "Konzepte" sehr weit in die Vergangenheit übertragen und viele Einrichtungen, die vermutlich erst später entstanden, den Königen oder zumindest der frühen Republik zugeschrieben. Cassius Dio wiederum stellte sich die Provinzverwaltung unter Augustus wie in seiner Zeit vor.
Wusste ein römischer Gelehrter des 4. Jahrhunderts, wie ein römischer Legionär des 1. Jahrhunderts aussah? Oder welche Taktiken die römische Armee gegen Hannibal angewendet hat? Konnte er so etwas überhaupt wissen?
Wenn er in halbwegs zeitnah entstandenen Werken (oder solchen, die auf solchen basierten) nachlas, grundsätzlich schon.
Mit dem Aussehen war es wohl insofern schwieriger als Autoren von zeitgeschichtlichen Werken normalerweise nicht das Aussehen von eigenen Soldaten etc. ihrer Zeit schilderten, da sie entsprechende Kenntnis eh beim Publikum voraussetzen konnten.