WK-1: "Deutschland trug zweifellos große Schuld am Kriegsausbruch"

Danke Thane, für den beindruckenden Beitrag!

Nachdem ich mich gerade in das Thema einlese, stelle ich in ungewohnter Weise fest, dass das Bild nicht etwa einfach klarer wird, sondern immer komplexer und widersprüchlicher.
Das liegt vielleicht auch an der Widersprüchlichkeit der betrachteten Zeit und deren Protagonisten.

An einer Stelle, zumindest, hab ich gestutzt:
Das Problem des Ultimatums an die Serben war, dass es im Rahmen einer allgemeinen Abschreckungslogik (vgl. auch nukleare Abschreckung) formuliert war. Die einzelnen Passagen waren für die Serben in unterschiedlicher Weise akzeptabel und manche waren so formuliert, dass sie die nationale Autonomie Serbiens bedrohte und somit die Schutzmacht als Garant der nationalen serbischen Unabhängigkeit herausgefordert wurde (vgl. zur Logik die Spieltheorie wie beispielsweise [4, S. 125 ff Nukleare Abschreckung]).
Ich kann da Deiner Darstellung nicht folgen und bezweifle, dass er (moderne) Begriff „Abschreckung“ anwendbar ist.
So wie ich es verstehe ging es nicht Ö-U um eine solche, sondern um eine Verschiebung der Machtbalance zu eigenem Vorteil. Denn Serbien erfüllte ja das „Ultimatum“ in so unerwartet großem Maße, dass auch der Kaiser zum Schluss kam, es gäbe nun keinen Kriegsgrund mehr.
(eine Einschätzung die prompt vom AA des DR in der Kommunikation verschleppt wurde)
Dennoch erklärte Ö-U Serbien den Krieg (Serbien muss sterbien).

Dazu Stefan Schmidt:
Denn nach Lage der Machtverhältnisse war nicht zu bezweifeln, daß eine
militärische Auseinandersetzung zwischen der Doppelmonarchie und Serbien
zu einer vernichtenden Niederlage des kleinen Königreichs, zu einer
Neugruppierung der Balkanstaaten und damit zu einem gründlichen Wandel
der osteuropäischen Machtbalance führen mußte. So wäre Österreich-Ungarn
nach einem Triumph über Serbien künftig in die Lage versetzt worden,
in einem Krieg der Großmächte sein militärisches Potential in fast uneingeschränktem
Maße gegen Rußland zu wenden, und für die französischen Entscheidungsträger
mußte sich die Frage stellen, ob dieser Wandel der osteuropäischen
nicht gefährliche Rückwirkungen für die westeuropäische Machtbalance
haben konnte.
http://www.perspectivia.net/content/publikationen/phs/schmidt_aussenpolitik/at_download/file
PDF-Seite 21

Nun gibt es ja zwei große Mächte im Spiel, mit so weit fortgeschrittenem innerlichen Zerfall, dass deren Untergang erwartet wird. Das Osmanische Reich und die KuK-Monarchie.
Die im Staatsgebäude der Habsburgermonarchie
zu beobachtenden Verwerfungen ließen den Staatssekretär im
März 1914 gar davon sprechen, daß das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie
sich gleichsam einen Wettlauf in den Untergang lieferten. Mochte der Bündnispartner auch sonst stets hinter den Entwicklungen herhinken
– in diesem Fall war Jagow davon überzeugt, daß die Habsburgermonarchie
letztlich als Sieger durchs Ziel gehen und noch vor dem Osmanischen
Reich zusammenbrechen werde 24.
gleiche Quelle, PDF-Seite 59 – 60

Vor diesem Hintergrund kann der Begriff „Abschreckung“ missverständlich werden und ist zumindest nicht vergleichbar mit dem modernen „Brinkmanship“ und den Abschreckungsdoktrien des nuklearen Zeitalters, welche nicht weniger riskant waren (um das Wenigste zu sagen ..und
vielleicht ist es spannend, den Bogen, an anderer Stelle, dahin zu biegen)..
Stephen Van Evera,
der einen sehr interessanten und fundierten Artikel hierzu unter dem Titel „The Cult of the Offensive and the Origins of the First World War“ 1984 veröffentlicht, kratzt gekonnt diese Kurve
in den letzten Sätzen:
The 1914 case thus supports Robert Jervis and other theorists who propose that an offense-dominant world is more dangerous, and warns both super- powers against the offensive ideas which many military planners in both countries favor.
http://www.libraryofsocialscience.com/ideologies/docs/Van_Evera_counterfactual.pdf

Danke, nebenbei, für den Hinweis auf eben diese Doktrin der fraglichen Zeit.
Danke auch an Andere, die Hinweise darauf gaben, was so schwer verständlich ist.

Grüße hatl
 
Ich kann da Deiner Darstellung nicht folgen und bezweifle, dass er (moderne) Begriff „Abschreckung“ anwendbar ist.
So wie ich es verstehe ging es nicht Ö-U um eine solche, sondern um eine Verschiebung der Machtbalance zu eigenem Vorteil. Denn Serbien erfüllte ja das „Ultimatum“ in so unerwartet großem Maße, dass auch der Kaiser zum Schluss kam, es gäbe nun keinen Kriegsgrund mehr.
(eine Einschätzung die prompt vom AA des DR in der Kommunikation verschleppt wurde)
Dennoch erklärte Ö-U Serbien den Krieg (Serbien muss sterbien).


Berchthold strebte während der ganzen Julikrise, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Krisen, den Krieg, genauer den 3.Balkankrieg, an. Es ging dabei auch nicht ganz unwesentlich darum eben die "Schlappen" von 1912/13 und die damit verbundenen Dellen in Österreich-Ungarns Großmachtstatus wettzumachen und darüber hinaus einen eventuellen neuen Balkanbund, der gegen Österreich-Ungarn gerichtet sein könnte, zu verhindern.

Aus Sicht des Ballhausplatzes war das System der Großmächte bezüglich des Balkan gescheitert und man war sich des eigenen reduzierten Gewichts als Großmacht durchaus bewußt. Serbien "musste" als Machtfaktor nach der Ermordung des Thronfolgers auf dem Balkan endgültig ausgeschaltet werden, damit Österreich-Ungarn sein Großmachtstatus dort bewahren konnte. Zu diesem Zwecke solle auch zielbewußt auf die Annexion von serbischern Territorium verzichtet werden, was aber beispielsweise die italiensiche Gelüste überhaupt nicht interessierte, man wollte trotzdem Beute machen, obwohl dies im Gegensatz zu den vertraglichen Abmachungen zwischen Wien und Rom stand, um so vor allem die Entente herauszuhalten. Der Ballhausplatz agierte in der Julikrise ausgesprochen blauäugig. Am 24.Juli hätte dies Wien aufgrund der heftigen russischen Reaktion eigentlich endgültig klar sein müssen, aber es geschah nichts. Selbst die deutschen massiven Brandtelegramme änderten nichts.
 
Man könnte auch fragen, wie eine Welt beschaffen war, deren "Eliten" meinten, der Frieden sei riskanter als der Krieg.

Bzgl. der Komplexität kann ich Deinen Hinweis nach 25 Jahren nur unterstreichen.:winke:

Ich glaube aber nicht, dass man Haltung so zuspitzen kann. Das ist eher eine ex-post-Sicht, die aus entscheidungs- oder spieltheoretischer Weise die Risiken betont oder klarstellt.

Du findest reichlich zB bis in die Spitze auf russischer Seite den Wunsch zur Verhinderung des Krieges, und auch in der entscheidenden Phase. Dann gibt es - wie von Turgot gezeigt - die Illusion der Begrenztheit dieses Konflikts, und der Fähigkeit zur Zuspitzung auf österreichischer Seite, entscheidend durch den Blankoscheck befördert. Es gibt die faktische "Abwesenheit" oder Fehleinschätzung von Großbritannien, etc.

Wir haben hier eine Gemengelage von
- Fehleinschätzungen in Lageanalyse
- vermeintlicher Alternativlosigkeiten (so zum Beispiel die Teil-MOB von Russland)
- chaotische Eingriffe (so zB von Niki in den Umfang der TeilMob)
- ständig empfundener Druck in der Krisendynamik mit perzipierten Handlungszwänge
- vielfältige, unkontrollierte personelle Einflüsse, da wurden nämlich eigene Süppchen gekocht: man kann sich schon aufgrund der Professionalität und der Informationsgeschwindigkeiten die Funktion der Botschafter und die Anbindung an eine "politische Linie" nicht mit heutigen Zuständen vergleichen

Das Ganze kann man zwar entscheidungstheoretisch untersuchen, auch um Entwicklungen zu verstehen, man muß sich aber verdeutlichen, dass den Akteuren keine "Entscheidungsbäume" mit "Eintrittswahrscheinlichkeiten" vorlagen, oder Szenarioanalysen.

Das Phänomen ist, dass sich weit beherrschende Belege dafür finden lassen, dass diesen europäischen Krieg zum Schluss und zu diesem Zeitpunkt niemand wollte, aber alle ihn bekamen.
 
Interessant auf dem Weg zum Weltkrieg ist auch, das der Ballhausplatz den Frieden nach dem 2.Balkankrieg zugunsten Sofias korrigieren wollte. Das hatte den endgültigen Bruch mt Bukarest zur Folge und darüber hinaus verneinten alle Großmächte, auch das Deutsche Reich, eine Revision. Wien war darüber sehr verbittert und die Folge war eben schon die von mir erwähnte die Lossagung vom "Konzert der Großmächte".

Die Serben jubelten natürlich und man kann sagen, dass das Verhältnis Serbiens zu Berlin nach den Balkankriegen relativ entspannt war. Auch waren die Serben dankbar für den Einsatz deutscher Ärzte auf serbischen Kriegsschauplätzen. Auch der deutsche Generalkonsul in Belgrad Schlieben legte eine serbenfreundliche Haltung am Tage, welche sich wirtschaftich zugunsten des Deutschen Reichs auswirkte.


Boekh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg
 
Zuletzt bearbeitet:
Auf dem Balkan brodelte es auch nach Ende des 2.Balkankrieges weiter. Zwischen Griechen und Osmanen wäre es zu Beginn des Jahres 1914 zum Krieg gekommen.

Die Serben trauten den Bulgaren nicht um die Ecke.

Die Bulgaren machten sich Sorgen um ihre Landsleute in Neuserbien und Neugriechenland.

Durch die nicht gerade gering zu veranschlagenden Gegensätzen zwischen Serben und Bulgaren einerseits und zwischen Griechen und Türken andererseits wurde die Annäherung zwischen Rumänien, Serbien und Griechland befördert.
Zu Beginn des Jahres 1914 wurde ja auch eine Art neuer Balkanbund zwischen Rumänien, Griechenland und Serbien begründet.

Alles keine angenehmen Perspektiven für Österreich-Ungarn.
 
Ich kann da Deiner Darstellung nicht folgen und bezweifle, dass er (moderne) Begriff „Abschreckung“ anwendbar ist.l

Die Verkündung am 28. Juli der teilweisen Mobilmachung Russlands geschah in der Absicht Ö-U von einem Krieg gegen Serbien abzuschrecken ohne gleich das DR mit hineinzuziehen.

Evera arbeitet im Prinzip mit dem gleichen Modell, das ich auch in Anlehnung an Lebow und Copeland gewählt habe.

Sie beziehen sich alle zusammen auf die Arbeiten von R. Jervis.

Perception and Misperception in International Politics - Robert Jervis - Google Books
 
Jörn Leonhard sieht in seinem aktuellen Werk, "Die Büchse der Pandora" eine besondere Verantwortung des Deutschen Reiches. Aber, und das ist ähnlich wie bei Clark, sieht er eben auch die nicht unerhebliche Verantwortung der französischen und russischen Politik. Auf der einen Seite der fatale deutsche Blankoscheck, auf der anderes der demonstrative Schulterschluß Russlands mit Serbien und der französische Blankoscheck. Leonhard nimmt keine explizite Zuweisung der Schuld vor, aber es wird schon deutlich, auch wie bei Clark, das man eben nicht mehr wie Fritz Fischer es vor einem halben Jahrhundert getan hat, das Deutsche Reich fast alleine Schuld an das große Sterben hatte.

Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora, Kapitel: Die Inkubation des Krieges

Demnächst kommt ja von Jörg Friedrich ein Buch zum Ersten Weltkrieg heraus. Mal sehen, was dieser zu berichten hat.
 
Ich habe mir das heute ein weiteres zum Ersten Weltkrieg erschienes Buch, von Jörg Friedrich, erworben und ein ganz klein wenig "quer gelesen".:D

Auf Seite 34 findet sich eine nicht uninteressante Passage. Ich zitiere einmal:

"Die Gespräche, aufgezeichnet zu einer Zeit, als der Krieg die serbische Sache erledigt zu haben schien, klingen authentisch. Ihr wesentlicher Punkt, das Vorwissen König Nikolas (Anmerkung von mir: König von Montenegro) aus russischer Quelle, findet an zentraler Stelle Bestätigung bei Großfürstin Stana, doch davon später. Als das Blatt zwei Jahre später sich wendet und Serbien der Siegerkoalition angehört, gesteht König Nikola de US-Präsidenten Wilson, daß die Ermordung des Erzherzogspaars eine serbische Provkation war, um in den Krieg zu kommen."
"Es ist erschreckender Gedanke", schrieb der exilierte König, "daß dies Land sich keine Rechenschaft ablegen will für das Verbrechen, das es vor der Menschheit verantwortet."(1)

Jörg Friedrich: 14/18 Der Weg nach Versailles, Seite 34
 
Jörn Leonhard sieht in seinem aktuellen Werk, "Die Büchse der Pandora" eine besondere Verantwortung des Deutschen Reiches. Aber, und das ist ähnlich wie bei Clark, sieht er eben auch die nicht unerhebliche Verantwortung der französischen und russischen Politik. Auf der einen Seite der fatale deutsche Blankoscheck, auf der anderes der demonstrative Schulterschluß Russlands mit Serbien und der französische Blankoscheck. Leonhard nimmt keine explizite Zuweisung der Schuld vor, aber es wird schon deutlich, auch wie bei Clark, das man eben nicht mehr wie Fritz Fischer es vor einem halben Jahrhundert getan hat, das Deutsche Reich fast alleine Schuld an das große Sterben hatte.

Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora, Kapitel: Die Inkubation des Krieges
In einem - zugegeben schon älteren - Artikel habe ich einen Gedanken gefunden, der sehr interessant ist:

"Da die Kontrahenten sich eingebettet wussten in einen Automatismus der Bündnisse, fiel die Zurückhaltung, die unsichere Partner und unklare Verträge angebracht erscheinen lassen, fort. [...]
Der englische Außenminister Grey, [...] bestreitet zwar heftig, dass England damals gebunden gewesen wäre. Entente sei eben etwas ganz anderes. Der deutsche Einfall in Belgien erst habe den Ausschlag für den Kriegseintritt Englands gegeben. Das mag stimmen. Nur ist schwer vorstellbar, dass die brit. Interessen ein anderes Verhalten Londons bei Kriegsausbruch überhaupt zugelassen hätten. Ohne England waren die Siegeschancen Frankreichs und Rußlands nicht gut. Das Gleichgewicht auf dem Kontinent, Englands europäisches außenpolitisches Ziel seit Jahrhunderten, hätte der deutschen Hegemonie weichen müssen. Das hätte England nicht hingenommen." [1]
Dass GB traditionell ein europäisches Gleichgewicht verfolgte, wird in den gegensätzlichen Kriegszielen deutlich, Frankreich verfolgte Hegemoniebestrebungen, GB wünschte lediglich, die Macht des Deutschen Reiches zu beschränken. (siehe auch #594)

Es darf wohl angenommen werden, dass zeitgenössische franz. Politiker mit der europäischen Lage - und der traditionellen Interessenpolitik der Briten - so vertraut waren, dass sie die im Grunde alternativlose Reaktion der Engländer vorhersehen konnten. Insofern bekommt für mich das Ausstellen des Blancoschecks an Russland - bezogen auf die in Friedenszeiten nicht erreichbaren Ziele Frankreichs - schon Geschmäckle.

Da ich nicht der Fachmann zum WW1 bin, daher die Frage: Geben die Quellen es her, dass Frankreich bezogen auf diese Überlegung gehandelt hat?

Grüße
excideuil

[1] Philipp W. Fabry: Eine "unwahrscheinliche Verständigung" wird Wirklichkeit. Die Triple-Allianz zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland 1906/07 II. Teil, in Damals 6/1983, Seiten 493/4
 
Wenn wir das Ganze einmal formal betrachten, ist das Ergebnis auch interessant:

Der Bündnisfall des Zweibundes, also Deutsches Reich / Österreich-Ungarn, galt nicht für einen Krieg mit Serbien, sondern nur für den Fall eines Angriffes seitens Russland.

Der Dreibund diente als Rückversciherung gegen den Angriff einen anderen Großmacht. nach Lage der Dinge kamen nur Frankreich und Russland in Frage; die Spitze war aber gegen Frankreich, defensiv, gerichtet.

Der Bündnisfall zwischen Russland und Frankreich galt genaugenommen nur für zwei Fälle. En Angriff Deutschlands bzw. Italiens mit deutscher Unterstützung auf frankreich oder aber einen deutschen Angriff bzw. einen österreichisch-ungarischen mit deutscher Unterstützung auf Russland. Maßgeblich war also die Beteiligung des Deutschen Reiches.

Zwischen Großbritannien und Frankreich bestand formal überhaupt gar keine Bündnisverpflichtung. In der Entente Cordiale wird in Konjenktiven formuliert.

So gesehen war die Bündnisautomatik also gar nicht gegeben, denn Österreich wollte Serbien, nicht Russland, angreifen.

Wilhelms Blankoscheck war mit der Aufforderung einer schnellen Aktion gegen Serbien verbunden. Hat Wilhelm denn auch ausgeführt, dass das Deutsche Reich sich an dem Angriff auf Serbien beteiligen würde? Ich weiß es nicht.
Wenn Russland jedenfalls angreift, dann griff der Zweibund vom 07.10.1879 und die Bündnispflicht war für Deutschland gegeben.
Das galt aber für Frankreich nicht, denn Russland wäre der Angreifer und nicht der Angegriffene, so das die Militärkonvention von 1892/94 eigentlich nicht greift. Es war Poincarre, der die Bündnisverpflichtung Frankreichs ausdehnte; im vorliegendem Falle genaugenommen für einen Angriff. Und Großbritannien war eigentlich auch nicht gebunden. Der Blankoscheck Poincarres in Petersburg war bedeutsam und nicht umsonst wurde die Reise des französischen Präsidenten im französischen Parlament nach Petersburg misstrauisch beargwöhnt.
 
excideuil schrieb:
Da ich nicht der Fachmann zum WW1 bin, daher die Frage: Geben die Quellen es her, dass Frankreich bezogen auf diese Überlegung gehandelt hat?
Meines Wissens nach nicht. Die Unsicherheit der französischen Diplomatie wuchs in der Endphase der Julikrise hinsichtlich der Teilnahme Großbritanniens. Umso unverständlicher von daher das aggressive Auftreten Poincarres in Petersburg, das Parlament wusste schon weshalb man misstrauisch war, der den Zaren aufforderte fest zu bleiben. Bloß in welcher Hinsicht, denn der hat kein Ultimatum bekommen. Poincarres versicherte auch die Bündnistreue, obwohl die Konvention nur für den Fall eines Angriffes vorgesehen war. Und niemand hatte die Absicht Russland anzugreifen. Hier wurde unausgesprochen das Bündnis einfach erweitert.

Am 24.Juli, das Ultimatum war an Serbien übergeben, sah Sasnow praktisch schon den Krieg vor Augen. Der britische Botschafter Buchanan regte an in Belgrad vorstellig zu werden und gleichzeitig in in Wien/Berlin um Fristverlängerung zu werben. Nur das interessierte weder Sasonow noch den französischen Botschafter Paleologue der meinte, man hätte keine Zeit mehr für so etwas.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hier ein Interview der Zeit mit Jörn Leonhard und Alan Kramer:

Erster Weltkrieg: 1914 kamen die Schrecken in die Welt | ZEIT ONLINE

Und genau daraus lese ich, dass es unter Historikern eben NICHT klar ist, dass alle (mehr oder weniger) gleich schuld sind, sondern dass es - auch in der neueren Forschung - immer noch Historiker gibt, die von einer Hauptschuld Deutschlands und Österreichs ausgehen. Clark vertritt einen interessanten Ansatz, aber ich würde den noch nicht als fachwissenschaftlichen Konsens sehen und von daher ist für mich die Aussage, dass Deutschland zusammen mit Österreich den größeren Teil der Verantwortung trägt, immer noch mehr als zulässig.

"Kramer: Die Hauptverantwortung tragen Berlin und Wien. Insbesondere die Rolle Österreichs wird noch immer zu wenig beachtet. England behielt stets seine ökonomischen Interessen im Blick. Da war ein Krieg nicht gerade förderlich."

"Kramer: Clark schaut vor allem auf Serbien. Und darüber wurde in der Tat bisher zu wenig diskutiert. Allerdings läuft sein Buch auf eine allzu starke Entlastung des Habsburgerreichs und Deutschlands hinaus."

"Leonhard: Es geht in der historischen Diskussion auch nicht mehr primär um die Kategorie der moralischen Schuld. Entscheidend ist die von vielen unterschätzte Frage, wer im Juli 1914 hätte deeskalieren können. Und da haben eben auch die Briten nicht alles getan, was möglich gewesen wäre. Ebenso ist es richtig, dass Clark die französisch-russischen Verhandlungen im Juli 1914 kritisch betrachtet. Denn damals knüpfte auch Frankreich seine Außenpolitik an die Entwicklung auf dem Balkan, nach dem Motto: Wenn ihr Serbien unterstützt und deshalb angegriffen werdet, unterstützen wir euch. Trotzdem bleibt der Blankoscheck vom 5. Juli, die Zusage Berlins, im Kriegsfall voll hinter Wien zu stehen, entscheidend für die Eskalation – was Clark zu wenig herausstellt."
 
Ich habe zu Leomnhards Buch ja schon weiter oben etwas geschrieben. Er misst der russischen Mobilmachung große Bedeutung in der Eskalationsspirale der Julikrise bei.
 
Das ist wohl unstrittig und nichts Neues.

Hier sind - um an Albertini anzuknüpfen - die Kausalketten interessant.
Und die Frage, warum das Phänomen der "Vermiedenen Kriege" (Dülffer) in der Juli-Krise nicht funktionierte. Das ist selbst für die neuzeitliche Konfliktforschung als Fallstudie interessant.

Bethmanns high-risk-Strategy spielt da eine Rolle.
 
Hier wurde unausgesprochen das Bündnis einfach erweitert.

Siehe die Analyse zum Forschungsstand hier:
http://www.geschichtsforum.de/715226-post143.html

Das Bündnis wurde nicht "hier" erweitert, sondern schleichend Jahre zuvor. Und die Ursachen liegen tief.

Diesen einzelnen Aspekt der Julikrise resümiert die Studie von Schmidt:

"Aufgrund der fehlenden Möglichkeit eines deutsch-französischen Rapprochements [Anm: dazu gehören zwei, auf dem s.g. "langen Weg" zum Krieg!], aufgrund einer fast unheimlich anmutenden Machentfaltung und eines überschätzten außenpolitischen Manöverierraumes Rußlands sowie fehlender nationaler Machmittel und internationaler Kompensationsmöglichkeiten konstituierte sich dann aber für Frankreich in der Julikrise eine bündnispolitische Zwangslage, in der Poincaré und Paléologue eine uneingeschränkte Unterstützung des Zarenreiches selbst für den Fall erforderlich schien, in dem sich mit einem solchen Handeln das Risiko verband, den Großen Krieg in Europa führen zu müssen."

Das ist oben mit "Existenzfrage" aus französischer Sicht und dem Wert des Bündnisse beschrieben, der sich für Frankreich aufgrund äußerer Umstände erweitert hat. Die perzipierte Alternative beschreibt Schmidt ebenfalls: isoliert, bündnisunfähig, und mit Einbuße an "großmächtlicher Existenz" (das ist angesichts der befürchteten kontinentalen Hegemonie des DR noch milde umschrieben).

Die fatale "Alternativlosigkeit", so wie sie hier wahrgenommen wird und Teil der Spirale zum Krieg wurde, ist rational nachvollziehbar und hat ihre Ursache in den faktischen Bedingungen, nicht in irgendwelchen kriegslüsternen Umtriebigkeiten einzelner Politiker.

Die Wahrnehmung kann ex post man als Fehler kritisieren, das ändert aber nichts an vermeintlichen "Plausibilitäten" 1914. Zumal die "Abschreckungspolitik" in vorherigen Krisen noch "funktioniert" hat und ebenso vermeintlich oder tatsächlich erfolgreich war(Dülffer, Vermiedene Kriege").
 
Zuletzt bearbeitet:
Somit ist Deutschland am Ausbruch des Krieges zu dem Zeitpunkt unschuldig.

Einmal mehr und auch als Antwort auf Wilfried. Die Diskussion über die Ursachen des Ausbruchs des WW1 gewinnt an vielen Aspekten an Tiefe. Unter anderem kommt verstärkt die komplizierte multiethnische Situation auf dem Balkan in den Fokus und die politischen Friktionen, die sich aus dem Zerfall des Osmanischen Reichs, einem Kampf um nationale Selbstbestimmung der Balkan-Völker und die Rolle von Österreich-Ungarn als quasi hegemoniale Großmacht auf dem Balkan ergeben[1, vgl. beispielsweise Hall zu dieser Problematik]

Die Serben verfolgten seit dem Balkan-Krieg von 1912/13 eine nationalistische Einigungspolitik im Rahmen der Pan-Slawismusbewegung. In dieser Haltung wurden sie durch St. Petersburg unterstützt. Neben der Errichtung eines „Groß-Serbiens“ als direkte Konkurrenz für Österreich –Ungarn auf dem Balkan sollte gleichzeitig die Schutzmachtfunktion von Russland als Gegengewicht zu Ö-U auf dem Balkan etabliert werden [2] Ein Ziel, von dem Russland in 1913 weiter entfernt war wie beispielsweise in 1912. Es stand vor den "Scherben" seiner Balkanstrategie.

Die Ausgangssituation für Österreich –Ungarn war in 1914 durchaus kompliziert. Zum einen erzeugten die multiethnischen Strukturen des Landes nicht unerhebliche innenpolitische Reibungspunkte. Zum anderen war es durch Serbien in seiner Rolle als regionale Schutzmacht herausgefordert. [4 & 5]

Das Attentat auf Franz Ferdinand kam 1914 absolut nicht überraschend, wie Rauchensteiner darstellt, es gab ausreichend Warnungen und folgte fast einer „Tradition“ von Attentaten vor allem in dieser Region wie Mombauer ausführt. Wobei Rauchensteiner deutlich macht, dass prinzipiell jeder aus Wien anreisende Besucher, das Ziel eines Attentats sein konnte [8, S. 64].

In diesem Sinne war das Attentat der Anlass für eine österreichische Reaktion, aber es war definitiv nicht die Ursache. Die Ursache für die österreichischen Planungen sind darin zu sehen, dass Wien die Gefahr sah, dass die „Sarajewo-Krise“ eine Signalwirkung auf die anderen Völker haben könne und Tschechen oder Polen etc. diesem Beispiel folgen und daraus ein Flächenbrand entstehen könnte, der den Bestand von Ö-U gefährdet hätte [3].

Bereits am 7.7. 1914 wurde in Wien eine militärische Lösung, eine „Strafexpedition“, zur Unterdrückung serbischer nationalistischer Strömungen diskutiert. Dabei wurde Berchtold wohl durch seine Mitarbeiter zu dieser Lösung überredet [8, S. 67]. Es sollte durch Militär ein politisches Problem gelöst werden, das nicht durch Militär gelöst werden konnte. Den massiv zunehmenden Nationalismus von Ethnien auf dem Balkan und stellt damit auch Sinnhaftigkeit der Kriegserklärung am 28.07. durch Österreich an Serbien, als Problemlösung, in Frage.

Vor diesem Hintergrund war das Ultimatum an Belgrad so formuliert, dass klar war, dass es nicht angenommen werden konnte, ohne in einer erneuten massiven Staatskrise in Serbien einzumünden, die Serbien ihrerseits politisch destabilisiert hätte. Und die Gefahr barg, dass deutlich radikalere Kräfte an die Macht gelangen konnten [2, S. 209 ff]

Die Haltung von Berchtold, so Tungstall, war einerseits durch Entschiedenheit und andererseits durch einen in Wien weit verbreiteten Fatalismus gekennzeichnet, da ihm klar war, dass dieser „lokale“ Krieg sehr schnell in einen europäischen Krieg einmünden konnte und den Untergang der Monarchie bedeuten würde. Und Hoyos formulierte ganz in diesem Sinne, dass es irrelevant wäre, ob ein Weltkrieg daraus entstehen würde.

Man wollte den Befreiungsschlag und dann Sieg oder – einen ehrenvolle – Untergang im Rahmen eines Kriegs. In diesem Sinne war sich Wien voll und ganz über das Risiko seiner Politik bewußt und es war nicht wie bei Bethmann-Hollweg die Hoffnung auf einer Lokalisierung vorhanden. Dieses Risiko waren sämtliche Entscheider in Wien bereit zu tragen [3, loc. 11599 & 8, S. 67].

In diesem Sinne schreibt Rauchensteiner „Der Krieg wurde herbeigeführt. …Er wurde entfesselt. Und Österreich-Ungarn war es, dass die Fesseln löste. Das Deutsche Reich aber führte immer dann die Hand, wenn diese zittrig zu werden drohte. Es trug aber auch Russland sein gerüttetes Maß zur Entfesselung bei….“ [8, S. 67] Ähnlich sieht es Tunstall [5]. Und der deutsche Blankoscheck machte das DR zum zweiten zentralen Akteur im Rahmen dieser Aktion zur „Pazifizierung“ des – durchaus legitimen - serbischen Nationalismus [3, loc. 11640].

Wichtige Stationen auf dem Weg zur Einleitung des WW1 waren die Sichtweise von Moltke und von Conrad. Es war vor allem Moltke, der die Gefahr der russischen Aufrüstung als massive Bedrohung ab 1916 einschätze und regelmäßig auf einen Präventiv-Krieg gegen Russland drängte [vgl. 10 & 11]. So wies er Conrad (1911?) darauf hin, dass jedes weitere Warten die Chancen in einem Krieg gegen Russland reduzieren würde.

Stellt sich die Frage nach den Ansätzen für die Verhinderung des WW1: Es gab drei zentrale Weichenstellungen in den Krieg:
- Die Entscheidung für einen militärischen Einsatz durch Wien
- Die Entscheidung von Berlin für den Blankoscheck
- Die Entscheidung von St. Petersburg, den Serben militärisch zu helfen

In allen drei Fällen hätte bei einer negativen Entscheidung, der Krieg verhindert werden können. Und in dieser chronologischen Reihenfolge sind dann auch Anteile an der Verursachung zu bewerten.

Das wirft die Frage nach den Gründen für dieses Verhalten auf, bei dem eigentlich „rationale“ Entscheidungen, und die betroffenen Politiker waren weder blöd noch verantwortungslos, zu irrationalen Ergebnissen geführt haben.

Das eigentlich erstaunliche, und da ist Schulin zuzustimmen ist, dass im Juli 1914 kein Staat in seinem Bestand so gefährdet gewesen wäre, als dass er zu dem Mittel des Krieges hätte greifen müssen [7, S. 5]. Und der zweite Punkt ist noch gravierender, „Kein Staat hielt die Erhaltung des Friedens für so vordringlich, dass er dafür Macht- oder Prestigeverlust hingenommen hätte.“ [7, S. 5]. Diese Aspekte verweisen auf die Rahmenbedingungen, unter denen Großmachtpolitik damals – und auch heute – durchgeführt worden ist.

Die Entscheidungen über Krieg und Frieden in den Hauptstädten der Großmächte lag in den Händen einer kleinen Gruppe von Entscheidern, jeweils ca. ein Dutzend. Diese Entscheider, so der aktuelle Erkenntnisstand, traten die Entscheidungen in Richtung Krieg bewusst und sie formulierten ihre Entscheidungen auch unter den Bedingungen einer sehr eingeschränkten Informationslage (fog of war-Problem) [3].

In diesem Sinne stellt Herwig zur konkreten Politik der Großmächte fest [3], dass die betroffenen Großmächte im Juli 1914 im wesentlichen „defensive“ Strategien verfolgt haben. Sie wollten sich als Großmacht gegen andere Großmächte schützen und ihre kriegerischen Pläne zielten darauf ab, zukünftige Bedrohungen zu verhindern.

Das gilt als zentrale Motivation für Österreich-Ungarn in Bezug auf seine ethnischen Probleme und der Herausforderung durch die Ideologie eines „Groß-Serbiens“. Das galt auch für das Deutsche Reich und seiner Anstrengung, seine „semi-hegemoniale“ Position in Europa zu verteidigen. Das galt auch für Russland, wo die Entscheider noch deutlich als anderswo die Bedeutung des neu gewonnenen „Prestige“ des Großmachtstatus für ihre Entscheidungen unterstrichen und deswegen „hart“ bleiben wollten. Und das galt auch für Frankreich, das Sicherheit gegenüber dem Deutschen Reich anstrebte.

Auf dieser Linie formuliert Stevenson: „We are driven to a middle-road interpretation oft he outbreak as a consequenz of decisions to calculated, or miscalculated risks, and when armed diplomacy failed, to go forward rather back down.“ [12, S. 412].

Unabhängig von dieser “systemischen” Sicht, bei der das DR ein Teilnehmer unter anderen am Rüstungswettlauf war und das politische System in Europa genauso stabilisiert oder destabilisiert hat, bleiben die konkreten Entscheidungen und ihr zeitlicher Ablauf.

In diesem Sinne stellt Krumeich den Forschungsstand resümierend fest, dass dem DR eine unmittelbare Verantwortung für den Ausbruch des WW 1zukommt (vgl. Rauchensteiner) [6, S. 15].

Für die Deutsche Diskussion, in der Folge der Fischer-Kontroverse kommt Mombauer zu einem ähnlichen Ergebniss wie Krumeich[9]. Ähnlich fassen Levy und Vasquez den Status quo für die Diskussion im Bereich der Geschichtswissenschaft und Politologie zusammen: „Generally, much of the historical literature sees Germany as central, with other states playing a lesser role“ [13, S. 17].

Und das „deutsche Paradigma“ wie durch Fischer ursprünglich formuliert, ist an vielen Punkten einer deutlichen Revision unterworfen. Gerade auch im Bereich der Frage der Rolle der Eliten im DR und auch im Bereich der These zur langfristigen Planung des Krieges durch das DR.

[1] R. Hall: The Balkan Wars 1912-1913, Prelude to the First World War, 2000
[2] A. Rossos: Russia and the Balkans: Inter Balkan rivalries and Russian foreign policy 1908 – 1914, 1981
[3] H. Herwig: Why did it happen?, in : R. Hamilton & H. Herwig: The Origins of World War I, 2003, S. 443-468
[4] S. Williamson: Austria-Hungary and the Origins of the First World War, 1991
[5] G. Tunstall: Austria-Hungary, in: R. Hamilton & H. Herwig: The Origins of World War I, 2003, S. 112-149
[6] G. Krumeich: The War imaginded 1890 – 1914, in: A companion to World War 1, 2012, S. 3 – 19
[7] E. Schulin: Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: W. Michalka (Hrsg.) Der Erste Weltkrieg, 1997, S. 3 – 27
[8] M. Rauchensteiner: Der Tod des Doppeladlers, 1993
[9] A. Mombauer: The Origins of the First World War. 2002
[10] G. Kronenbitter: The German and Austro-Hungarian General Staff and their Reflections on an impossible war, in: H. Afflerbach & D. Stevenson: An Improbable War: The Outbreak of World War I and European Political before 1914, 2012, S. 149-160
[11] A. Mombauer: Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War. 2001
[12] D. Stevenson: Armaments and the Coming of War: Europe, 1904-1914
[13] J. Levy & J. Vasquez: Introduction: historian, political scientist, and the causes of the First World War, in: J. Levy & J. Vasquez: The Outbreak of the First World War: Structure, Politics, and Decision-Making, 2014, S. 3 - 29
 
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