Die "Kleinasiatische Katastrophe" - Ein unbewältigtes Trauma

lynxxx

Aktives Mitglied
Die «Kleinasiatische Katastrophe»
Ein unbewältigtes Trauma der neueren griechischen Geschichte

Von Ekkehard Kraft
(Neue Zürcher Zeitung. Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr. 232, Seite 83)


Vor etlichen Jahren machte der Schreibende auf zwei Reisen zwei ähnliche Beobachtungen. In dem Dorf Krinides nahe dem antiken Philippi im Norden Griechenlands war er von einer Bauernfamilie zum Kaffee eingeladen worden; der Grossvater, sein Enkelkind auf dem Schoss, sprach mit diesem auf Türkisch. Einige Jahre später war beim Geldwechseln auf einer Bank in Ayvalik an der türkischen Westküste zu hören, wie sich eine junge Bankangestellte mit einem Mädchen in griechischer Sprache unterhielt. In beiden Fällen handelte es sich um Menschen, die aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben worden waren, bzw. deren Nachkommen. Der ältere Herr in Krinides war zu Beginn des Jahrhunderts mitten in Anatolien geboren worden, seine Muttersprache war Türkisch, aber als orthodoxer Christ galt er als Grieche und musste als solcher nach 1922 seine Heimat verlassen. Die griechischsprachige Familie der Bankangestellten in Ayvalik stammte aus Kreta; als Muslime mussten sie ebenfalls ihre Heimat verlassen. In ihrer neuen Heimat sprechen sie nun weiterhin die Sprache jener, an deren Stelle man sie angesiedelt hatte.
...

weiter:
Die «Kleinasiatische Katastrophe»


Passend dazu auch die Weiterentwicklung der griechischen Beziehungen zur Türkei vor diesem historischen Hintergrund mit weiteren Infos der Selbstreflexion und Beziehungen im Laufe der (Zeit-)Geschichte (hatte ich hier auch schon mal verlinkt):

Prof. Dr. Panos Kazakos - Dr. Gerda Kazakos
Die Türkei-Debatte im griechischen Parlament 1996-2003
Griechischer Beitrag zum Forschungsprojekt
„Europäische Integration und kulturelle Denk- und Wahrnehmungsmuster.
Kulturelle Aspekte des EU-Erweiterungsprozesses anhand der Beziehungen EUTürkei“


Inhaltsverzeichnis

1. Fragestellung und methodologische Grundentscheidungen
1.1. Die griechische Fragestellung im Gesamtkonzept der Untersuchung
1.2. Auswahl des Basismaterials der quantitativen Analyse
1.3. Herangezogene Kontexte der Interpretation
2. Methodisches Vorgehen: Periodisierung, Kategorienbildung, Codierung und
elektronische Verarbeitung des Untersuchungsmaterials
2.1. Periodisierung
2.2. Kategorienbildung
2.3. Kodierung
2.4. Das Programm „Orion“
3. Der Bezugsrahmen der quantitativen Analyse
3.1. Entwicklung der Beziehungen im Dreieck Griechenland-Türkei-EU
3.1.1. Die Beziehungen EU-Türkei
3.1.2. Die griechisch-türkischen Beziehungen
3.2. Der griechische öffentliche Diskurs über einen EU-Beitritt der Türkei und die griechisch-türkischen Beziehungen
3.2.1. Die politische Debatte um die europäische Perspektive der Türkei
3.2.2. Die akademische Debatte
3.2.3. Der Wandel des politischen Islam
3.3. Zusammenfassung
4. Die parlamentarische Debatte. Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse, unter Berücksichtigung qualitativer Aspekte
4.1. Das allgemeine Bild
4.2. Divergenzen und Konvergenzen der großen griechischen Parteien
4.3. Die seltenen Aussagen über Religion, Kultur und Identität. Eine Erklärung
4.4. Muslimische Minderheiten in Europa und Griechenland
4.4.1. Exkurs: Die religiöse Dimension und der europäische Zwiespalt gegenüber der Türkei
4.5. Das Verhältnis der Geschlechter
4.6. Die Dominanz der außen- und sicherheitspolitischen Aspekte
4.7. Wandlung und Kontinuität im außenpolitischen Denkmuster
4.8. Die Einstellung der EU-Institutionen und der USA zur Türkei
4.9. Die Türkei vis à vis der EU: Gibt es Alternativen?
4.10 Die interne Situation. Die Minderheitenfrage in der Türkei
4.11. Die innere Situation: Demokratie und Menschenrechte in der Türkei
4.12. Die Ökonomie wird wenig beachtet
5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
ANHANG


1. Fragestellung und methodologische Grundentscheidungen
1.1. Die griechische Fragestellung im Gesamtkonzept der Untersuchung

In dieser Teiluntersuchung zum umfassenderen Thema „Europäische Integration und kulturelle Denk- und Wahrnehmungsmuster“ geht es um die Frage, wie griechische Parlamentarier die Beziehungen ihres Landes zur Türkei sehen und welchen Wandlungen diese Einschätzungen eventuell im Laufe des europäischen Integrationsprozesses unterworfen waren. In Übereinstimmung mit dem Gesamtkonzept versuchten wir eine Reihe von Fragen zu beantworten, die wir zunächst in einer nicht technischen Sprache stellten: Was genau meinen die Parlamentarier, wenn sie von der „europäischen Perspektive“ der Türkei reden? Welche politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Werte verbinden sich ihnen mit diesem Ausdruck? Sprechen sie sich für oder gegen den „europäischen Weg“ der Türkei aus oder sind sie einfach neutral? Wie oft greifen sie diesen oder jenen Einzelaspekt im Dreieck der Beziehungen Griechenland-Türkei-EU auf? Legen sie das Schwergewicht auf nationale Gesichtspunkte oder auf das größere europäische Interesse? In welchen konkreten Zusammenhängen entwickeln sie ihre Argumentation? In welcher Weise nehmen sie auf die Dimension unterschiedlicher kultureller Kontexte und Identitäten Bezug? Wie gehen sie insbesondere auf die Kulturprägung durch Christentum und Islam ein?
http://www.uni-konstanz.de/FuF/SozW...opoulos/EU/berichte/KAZAKOS Bericht Final.pdf


und zum Schluss meines EDITS hier noch ein kürzerer Artikel, der den historischen Vorlauf beschreibt, und auch bezugnimmt auf den "griechischen Traum":

From Trauma to Self-Reflection:
Greek Historiography meets the Young Turks ‘Bizarre’ Revolution

Vangelis Kechriotis
[August 2004]
The images illustrating the enthusiasm and hope following the Young Turks movement are well known. In the urban centers, in particular, the parades involving members of all communities, Muslims as well as Orthodox, Armenian, Jewish, have been the central theme in the accounts describing the events of that period. A corpus of similar texts which were produced later, sometimes much later, by individuals who participated in those developments, take as their starting point those celebrations. However, this happy period did not last for long. The cheerful colors were succeeded by dark ones and the dream was turned to a nightmare.
http://www.let.leidenuniv.nl/tcimo/tulp/Research/vk.pdf



Viel Spass beim Schmökern, und bei Antworten nicht politisch werden... ;)
LG lynxxx
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke lynxxx, dieser Aspekt war mir so bislang gar nicht bewußt.
 
Hallo Lynxxx,
der Text ist mir seit längerem bekannt. Er beleuchtet allerdings nur einen Teil der Geschichte und läßt die Ereignisse während des WWI -aber auch davor- im Osmanischen Reich außer acht. Dir ist klar, dass man diese nicht außer acht lassen darf, wenn man diesen Artikel verstehen will ?
 
Logo. :) Ich habe auch schon einen weiteren Text aus einem anderen Thread hierein verlinkt.
Ansonsten haben wir in unserem Forum schon oft über die Situation in SO-Europa, die Balkankriege, den Bevölkerungsaustausch, usw. diskutiert...

Immer her mit zusätzlichen Infos... ;)
 
Logo. Ich habe auch schon einen weiteren Text aus einem anderen Thread hierein verlinkt.
Ansonsten haben wir in unserem Forum schon oft über die Situation in SO-Europa, die Balkankriege, den Bevölkerungsaustausch, usw. diskutiert...
Immer her mit zusätzlichen Infos...

Ich lese mir erstmal diese Untersuchung von Prof. Kazakos durch, für 147 Seiten brauche ich ein wenig.
 
Der Zusammenbruch des griechischen Heeres in Kleinasien 1922 stellt nach dem Unabhängigkeitskrieg 1821-1830 die tiefste Zäsur in der neueren Geschichte der Griechen dar, deren in die Antike zurückreichende kleinasiatische Siedlungs- und Kulturtradition zerbrach. Den neuen Tatsachen musste es durch den am 30.01.1923 vereinbarten obligatorischen Bevölkerungsaustausch Rechnung tragen, von dem nur die etwa 70 000 in Istanbul vor 1918 etablierten Griechen und die Türken im griechischen Westthrazien ausgenommen waren.

Über 1,2 Millionen Griechen aus Kleinasien, dem Pontusgebiet und Ostthrazien ließen sich in Griechenland nieder; mehr als 330 000 Türken verließen ihre mazedonische, thessalische oder epirotische Heimat. Dadurch und infolge des freiwilligen Bevölkerungsaustauschs mit Bulgarien veränderte sich die ethnische Struktur der in den Balkankriegen eroberten "Neuen Länder" zugunsten der Griechen. Ab hier datiert übrigens auch der heutige Zwist zwischen Mazedonien und Griechenland im Hinblick auf eine mazedonisch-slawische Vertreibung oder auch nur Verdrängung, die in einem anderen Thread bereits diskutiert wurde.

Allen großgriechischen Plänen, die noch im 19. Jh. die Außenpolitik geprägt hatten, war jetzt der Boden entzogen und die griechischen Ansprüche richteten sich auf die von Italien besetzten Inseln des Dodekanes, auf Südalbanien (d.h. Nordepirus) und das britische Zypern, jedoch nicht mehr gegen die Türkei.

Man kann also sagen, dass der zäh ausgehandelte Friede von Lausanne (24.07.1923), in dem Griechenland die türkischen Reparationsforderungen im Prinzip anerkannte, das jahrhundertelange Ringen der beiden sowohl durch die Geschichte miteinander verbundenen als auch verfeindeten Völker abschloss.
 
In Südanatolien habe ich schon wahre Geisterstädte gesehen. Die griechischstämmige Bevölkerung mußte in den 1920er Jahren emmigrieren, und seit dem hatte sich niemand in dem historischen Ort niedergelassen.
 
Die «Kleinasiatische Katastrophe»
Ein unbewältigtes Trauma der neueren griechischen Geschichte

Von Ekkehard Kraft
(Neue Zürcher Zeitung. Literatur und Kunst, 6. Oktober 2001, Nr. 232, Seite 83)


Vor etlichen Jahren machte der Schreibende auf zwei Reisen zwei ähnliche Beobachtungen. In dem Dorf Krinides nahe dem antiken Philippi im Norden Griechenlands war er von einer Bauernfamilie zum Kaffee eingeladen worden; der Grossvater, sein Enkelkind auf dem Schoss, sprach mit diesem auf Türkisch. Einige Jahre später war beim Geldwechseln auf einer Bank in Ayvalik an der türkischen Westküste zu hören, wie sich eine junge Bankangestellte mit einem Mädchen in griechischer Sprache unterhielt. In beiden Fällen handelte es sich um Menschen, die aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben worden waren, bzw. deren Nachkommen. Der ältere Herr in Krinides war zu Beginn des Jahrhunderts mitten in Anatolien geboren worden, seine Muttersprache war Türkisch, aber als orthodoxer Christ galt er als Grieche und musste als solcher nach 1922 seine Heimat verlassen. Die griechischsprachige Familie der Bankangestellten in Ayvalik stammte aus Kreta; als Muslime mussten sie ebenfalls ihre Heimat verlassen. In ihrer neuen Heimat sprechen sie nun weiterhin die Sprache jener, an deren Stelle man sie angesiedelt hatte.

Das kann ich nur bestätigen! Meine Eltern haben in Sarimsakli ca. 8km von Ayvalik entfernt ein Ferienhaus. Ich kenne Ayvalik sehr gut, mit seinen engen Gassen und den alten romaischen Häusern - die inzwischen sehr begehrt und darum teuer sind. Mein Vater kennt auch einige griechische Bankangestellten aus Ayvalik, also kann ich diesen Bericht nur bestätigen. Im übrigen sind in Kücükköy - zu dem Sarimsakli gehört - irgendwann sehr viele Bosniaken (Bosnak genannt) angesiedelt worden.

Ayvalik besticht durch seine sehr Oxygen-haltige Luft und ist für Astmathiker ein wahres Paradies auf Erden.
 
In Südanatolien habe ich schon wahre Geisterstädte gesehen. Die griechischstämmige Bevölkerung mußte in den 1920er Jahren emmigrieren, und seit dem hatte sich niemand in dem historischen Ort niedergelassen.
Moin scorpio:
Magst du hierauf nochmal antworten, wenn du online bist?
Danke schön. :winke:
 
Falls heute jemand die Phoenix Doku zum Thema gesehen hat: Die fand ich mehr als fad.

Ich bin ja schon einseitige Berichterstattung im Fernsehen gewohnt, wenn es um die Türkei oder deren Geschichte geht, WENN denn mal überhaupt mal was kommt, (Außer Antike!), aber hier waren auch noch Falschinformationen, die man so einfach, selbst durch die in diesen Dingen besonders unzuverlässige Wikipedia hätte recherchieren können.

Jaja, ist ja so schön einfach, die Türken waren die Barbaren [sic!], und die lieben Griechen haben Anatolien mit Blumenkränzen angegriffen.... Ich hör lieber auf, bevor ich mich richtig aufrege, über die Verwendung meiner GEZ-Gebühren...
 
Habs nicht gesehen. Was war daran nicht gut ?
So, als wenn man den 2. Weltkrieg alleine damit einem unkundigen Publikum im Film darstellt, nur ostdeutsche Flüchtlingsströme zu zeigen und diese dann interviewt.

(Wer Angreifer und wer Angegriffene war, wurde teilweise so suggeriert, als wenn es andersrum gewesen wäre.)

Außerdem hätte man ruhig mal einen Musikwissenschaftler interviewen können, was der zu der Herkunft der Melodien und Rhythmen zu Rembetiko sagt (nicht zu den Texten!).
Das wäre so, als wenn man den amerikanischen Jazz eigentlich als genuin schwarzafrikanische Musik bezeichnet, obgleich alles, was den Jazz als Jazz charakterisiert eine amerikanische Entwicklung war, und nur ein paar Einsprengsel afrikanischer Rhythmen es noch nicht zu afrikanischer Musik macht.

Die ständige Negationsrhetorik der Nachkommen der ehemaligen osmanischen Provinzen aufrund mangelndem Selbstbewußtseins und zwei jahrhundetelanger Abgrenzungspolemik geht mir zunehmend auf die Nerven. Was ist denn so schlimm daran, eine Musiktradition anderer zu nehmen, und mit eigenen Texten damit was neues zu schaffen? Machen Fanta4 mit dem Hiphop auch, und sagen auch nicht: "Nein, Hiphop ist eigentlich afrikanische Musik", nur weil Fanta4 Amerika blöd finden...
sorry...Die Schnittmengen der Kulturen sind nach 400-500 Jahren immer noch wesentlich größer, als die Differenz, die in den letzten Jahrhunderten so betont wurde.

Ich finde Dokus immer ein bischen wenig lehrreich, wenn z.B. Leute interviewt werden und aus dem Off kein korrigierender einordnender Kommentar das Gesagte zurecht rücken. Somit wird mit den (ungebildeten/Stammtisch-) Interviews ein Bild erzeugt, das bei den unkundigen Zuschauern eine eigene Realität schafft, die fern den eigentlichen Tatsachen ist, außer, dass man nun als Zuschauer weiß, was an Stammtischen gelabert wird.
Ich hör mal lieber auf, sonst steiger ich mich noch mehr hinein. Ich sollte mal El Quijote fragen, ob ich nicht seinen Namen haben kann, denn der passt viel besser für mich....

Siehe diese Threads für persönliche Erfahrungen von mir mit Griechen und Türken, und Befragungen von Freunden des Bevölkerungsaustausches
http://www.geschichtsforum.de/f40/schicksal-der-griechen-kleinasiens-14710/
und
http://www.geschichtsforum.de/f42/ethnogenese-der-tuerken-15756/index2.html

Die anderen Dokus, z.B. über Arkadien, usw. waren aber ganz gut. Ansonsten schöner Griechenlandnachmittag bei Phoenix.

PS: Soooo schlecht war die Doku auch nicht, aber diese Voreingenommenheit der Macher fand ich beknackt...
 
Zurück
Oben