Seit wann ist es in breiteren Bevölkerungskreisen üblich oder gestattet, bei der Aufnahme von dauerhaften Intimbeziehungen bzw. bei der Eheschließung der "Stimme des Herzens" zu folgen und sonstige Aspekte (Tradition, Tabus, Ökonomie, beschränkte Verfügungsmacht usw.) hintanzustellen?
Ich wage hier mal die kühne Behauptung, dass die gesellschaftliche Konvention der Liebesheirat eine Erfindung der Emanzipation ist, die sich nach und nach aus den Menschenrechten und Frauenrechten herauskristallisierte. (Ausnahmen bestätigen die Regel, Herrscher konnten sich manchmal durchaus leisten, unter mehreren Bewerbern den auszusuchen, der ihnen am meisten zusagte. Bsp. wäre Queen Victoria - auch wenn das schon die Neuzeit betrifft)
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ja selbst Anfang des 20. Jahrhunderts war es durchaus nicht immer so, dass die Liebe oberste Priorität hatte, in patriarchalischen Gesellschaften spielt die (GEGENSEITIGE) Liebe zum Teil selbst heute kaum bis gar keine Rolle bei der Eheschließung.
Speziell was das Mittelalter angeht, denke ich, wird sich jeder schwer tun eine klare Aussage zu formulieren. Während die Literatur die Liebe bzw. Minne und ihre Erfüllung als oberstes Glück betrachtet, waren die gesellschaftlichen Konventionen doch meist eher macht- und finanzpolitischer Natur. Zuneigung der Ehepartner kam vor, war aber keine zwingende Voraussetzung.
Zwar gab es auch im Mittelalter bereits die Idee der "maritalis affectus" sprich: der Ehe zweier einander zugeneigter Partner, dies war jedoch eher pro Forma - die Kirche weigerte sich einfach, Menschen zu verheiraten, die sich offensichtlich abgeneigt waren. (Inwieweit dies aber jemals irgendwelche Zwangsehen aus politischen Gründen verhindert hat, weiß ich nicht... vielleicht kann da jemand anders aushelfen
)
Wirkliche Liebesehen zu belegen, wird denke ich auch recht schwierig werden, da die Laien-Literatur des Mittelalters extrem stilisiert ist und bestimmten Schemata folgt und die klerikale Literatur (z.B. Geschichtsschreibung) sich eher selten für die Gefühlswelten der Menschen interessierte und mehr an Fakten orientiert war.
Dennoch denke ich, dass die Ideale der höfischen und Minne-Literatur nicht von irgendwoher kommen, es muss also durchaus oft vorgekommen sein, dass Menschen sich zwar ineinander verliebten, aber nicht zueinander kamen (auf Grund von Unterschieden im Stand, z.B.). Wirkliche Liebesehen dürfte es nur dort gegeben haben, wo sich eben politische und private Interessen der Ehepartner zufällig trafen. Damit meine ich nicht die nach der Heirat evtl. entstehende Zuneigung zueinander, sondern die Liebe als Auslöser der Heirat.