Die schöne, tote Unbekannte aus der Seine

SRuehlow

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Hallo Leute,

ich bin beim Stöbern im Internet über folgendes gestoßen, dass ich gerne hier vorstellen möchte. Da es sich um eine Person handelt, die ich vorsellen möchte, sollte ich es eigentlich in die Rubrik Persönlichkeiten in der Neuzeit einstellen. Da aber niemand auch nur sagen kann, um wenn es sich bei der Person handelt, stelle ich es mal hier ein.

Im Jahre 1900 wurde an einem unbekannten Tag eine Wasserleiche aus der Seine in Paris gezogen und ins Leichenschauhaus hinter Notre Dame gebracht, wo man für gewöhnlich die unidentifizierten und unbekannten Leichen brachte, um sie aufzubaren, damit vielleicht Angehörige sie identifizieren können. Dieses Leichenschauhaus wurde bis 1907 betrieben und war einer der meistbesuchtesten Orte von Paris zur damaligen Zeit.
Wie auch immer, der tote Körper wurde also ins Leichenschauhaus verfrachtet, wo er erst einmal liegenblieb. Was ist so besonderes an dieser Wasserleiche gewesen? Eigentlich nichts, oder? Oder doch?

Die Leiche gehörte einer jungen Frau um die 20, die, wie die Polizei vermutete eine Selbstmörderin war. Mehr konnte man zum damaligen Zeitpunkt nicht herausfinden. Man vermutete Aufgrund ihrer Art die Haare zu knoten, dass es sich um eine Frau von ländlicher Herkunft handeln müsse, also aus den unteren sozialen Schichten.

Nun gibt es zwei Versionen über den weiteren Hergang:
1. Ein Assistenzarzt soll, weil er aus dem Körper der schönen Frau Kapital schlagen wollte, einen Gipsabdruck ihrer Büste gemacht haben und zum Verkauf angeboten haben. So gelangte die Büste zu einem Photographen, der eine Mehrfachreproduktion anstellte und sich so das Bildnis der Unbekannten in ganz Frankreich und darüber hinaus in Europa verbreitete.
Ein Punkt ist hier sonderbar! Warum ein Arzt in einem Leichenschauhaus? Dafür gibts keinen Grund... denn eine Leiche im Wasser ist eine Wasserleiche und für damalige Verhältnisse kein Grund mehr, weiter nachzuforschen...
2. Ein junger Mitarbeiter des Leichenschauhauses von Notre Dame war so von der Schönheit der jungen Unbekannten angetan, dass er eine Totenmaske anfertigte - man sprach auch davon, dass er sich in die Tote verliebt hatte und so das Abbild für immer bewahren wollte. Als er die Totenmaske angefertigt hatte, wurde sie durch irgendeinen Zufall von der Pariser Gesellschaft als chic empfunden und avancierte mit der Zeit als beliebtes Möbelaccessoire der Reichen und Nochreicherern. Es wurden zahlreiche Abdrücke der Totenmaske angefertigt.
Diese Maske hing später in vielen Atelies von namhaften Künstlern und in den Stuben der Dichter und Denker. Rilke, Camus, Muschler, von Horváth sind nur einige Literaten, die Stücke der Unbekannten gewidmet haben.
In den 1960´er Jahren wurde die internationale Rettungspuppe für Erste Hilfe mit dem Gesicht der schönen Unbekannten versehen und so kann man zurecht behaupten, sie sei die Meistgeküsste aller Zeiten...

Trotzdem sollte man sich vom Bild der Schönen nicht täuschen lassen. Wasserleichen dunsen und schwemmen auf und werden sehr, sehr unansehnlich. Die Haut schimmert wie Wachs und die Zellstrukturen verflüsigen sich, abgesehen davon, dass der Körper von Tieren und Fischen angeknappert wird. Das Bild, das von ihr im Umlauf ist, muss also bearbeitet worden sein... denn ein so engelhaftes Gesicht kann nicht aus der Seine gekommen sein... Sie ist einfach nur die l'Inconnue de la Seine.

Außer Wikipedia gibts hier noch einen interessanten Artikel, der sich vor allem mit der literarischen Verarbeitung auseinandersetzt:

http://williamgaddis.org/recognitions/inconnue/index.shtml
 

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zu 1. :
Warum denn kein Arzt?
Wenn er an Körpern als Arzt interessiert war, kann er doch in ein Leichenschauhaus gehen, das sowieso schon wie du sagtest gut besucht war (und ich denke du meinst damit nicht nur leichenbeschauende Totengräber oder Leichenschauhausbetreiber ;) )
Erst recht, wenn er Assistenzarzt war, denn gerade dann müsste er sich ja für das Aussehen eines Körpers einer Wasserleiche und der Haut interessieren, also wenn er ein interessierter, vielleicht sogar ehrgeiziger Arzt war in jedem fall ;) .

MfG
Tokugawa
 
Ich denke, dass es eher unüblich war, im Leichenschauhaus von Notre Dame, einen Arzt zu finden. Ich denke eher, dass es Anatomen waren, die dort ihren Dienst versahen, wenn überhaupt. Der Leichnam wurde dorthingebracht, wenn man die gefundene Person noch nicht identifiziert hatte und sie dort für die Bevölkerung aufgebahrt wurden, damit diese vielleicht einen vermissten Angehörigen finden konnte...
Eigentlich kann ich das Argument, dass sich ein Assistenzarzt für Wasserleichen interessiert nicht entkräften, aber man könnte vermuten, dass es eine Photographie von ihr gesehen hatte oder war durch das Gerede und die Zeitungsartikel aufmerksam geworden?!
Mir würde die zweite Version der Geschichte eher freuen....
 
Seit ich diesen Beitrag vor Jahren gelesen habe, bin ich sensibilisiert für das Gesicht und fand es auch prompt als Büste in einem Restaurant wieder, das ich regelmäßig aufsuchte. Fast am Kaffee erstickt wäre ich allerdings, als ich vor wenigen Tagen Aufnahmen Boris Becker in seinem Privathaus sah, als er seiner EX-Sandy zum Kind gratulierte: Hinter ihm die Büste der Unbekannten aus der Seine. Ob Bobbele wohl weiß, was er sich da ins Haus geholt hat?
 
Die zweite Version der Geschichte ist doch sehr romantisch und erinnert mich eher an einen Hollywood-Schinken.

Ich finde es eigentlich gar nicht unwarscheinlich, dass ein Arzt, der Autopsien im Leichenschauhaus durchführte, den Abdruck gemacht hat. Ich weiss jetzt grad nicht, wie dieser Beruf heißt (Autopsien durchführen), aber das sind doch auch so was wie Ärzte?
 
Anatomen, die sich in Leichenschauhäusern mit Autopsien befassen, sind Ärzte. Und die Pathologen und Rechtsmediziner sowieso.
 
...
Trotzdem sollte man sich vom Bild der Schönen nicht täuschen lassen. Wasserleichen dunsen und schwemmen auf und werden sehr, sehr unansehnlich. Die Haut schimmert wie Wachs und die Zellstrukturen verflüsigen sich, abgesehen davon, dass der Körper von Tieren und Fischen angeknappert wird. Das Bild, das von ihr im Umlauf ist, muss also bearbeitet worden sein... denn ein so engelhaftes Gesicht kann nicht aus der Seine gekommen sein... Sie ist einfach nur die l'Inconnue de la Seine.
Frage: Wie können überhaupt These eins oder zwei zutreffen? Eine Wasserleiche ist nach Tagen des "Wasserns" grässlich, abstossend, erschreckend ...
Wie sollte man sich also in die "Schönheit" verlieben können? Wer hätte, ohne die heutige Methodik, ihre frühere Gestalt nachempfinden können? :grübel:
 
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Unbekannte aus der Seine

Ich frage mich, ob nicht die "Unbekannte aus der Seine" eine spätromantische Inszenierung der Zeit um 1900 ist. Ein wenig verwoben mit Ophelia (J.E.Millais Bild von 1852) ein wenig (Brachial-)Symbolismus und durchaus kommerziellen Interessen ?
 
Noch eine kleine Ergänzung:

Der Schriftsteller Ödön von Horvath (1901, Susak bei Fiume, Österreich-Ungarn [heute: Rijeka] - 1938, Paris) (sein bekanntestes Werk ist vermutlich: "Geschichten aus dem Wienerwald", das zumindest auf österreichischen Bühnen noch immer aufgeführt wird) hat zu dem Stoff zwei Theaterstücke geschrieben:
- "Die Unbekannte aus der Seine" (1933) (eine fiktive Geschichte zu der jungen Frau, die unter diesem Namen bekannt wurde, die inhaltlich deutliche Parallelen zu seinen bekanntesten Werken zeigt)
- "Mit dem Kopf durch die Wand" (1934) (eine Komödie, wo eine Gruppe von Schauspielern/innen versucht, mit diesem Stoff zu einer Anstellung zu kommen).https://de.wikipedia.org/wiki/Ödön_von_Horváth#cite_note-1
 
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