Lothringen wurde 1871 zwischen Frankreich und Deutschland geteilt. Die Franzosen waren darüber überrascht. Sie waren davon ausgegangen, dass die Deutschen das ganze Lothringen annektieren würden.
Da sieht man ganz gut die unterschiedliche Sicht von Deutschen und Franzosen auf Staatsidee und Völkerrecht.
Die Franzosen sehen das eher pragmatisch. Der Sieger nimmt, was er kriegen kann - hier also die ganze Provinz.
Sprachgrenzen spielen dabei keine Rolle, der Untertan hat sich dem Staat anzupassen (also Französisch zu lernen), die Staatsgrenzen folgen höheren Kriterien und nicht dem Sprachgebrauch der Einheimischen. So fanden es die Franzosen auch völlig normal, ihre Grenzen in fremdsprachige Gebiete vorzuschieben. Nicht nur in Elsaß/Lothringen oder dem übrigen deutschsprachigen Linksrhein, sondern auch in Katalonien oder dem Baskenland.
Umgekehrt gab es auch nie Bestrebungen, französische Bevölkerung außerhalb der Staatsgrenze "heim ins Reich" zu holen. Belgien zu annektieren war ein machtpolitisches Ziel, gezielt die Wallonie anzuschließen m. W. nie ein Thema. Auch gab es keinen Anschluß der französisch-sprachigen Schweizer Gebiete, obwohl das für Napoleon ja gar kein Problem gewesen wäre.
Wichtig dagegen ist die Idee der "natürlichen Grenzen" entlang von Bergkämmen oder Flüssen (obwohl das siedlungsgeographisch meist völlig unnatürliche Grenzen sind). Da kann sich dann das französische Bedürfnis nach rationaler Planung austoben.
Für die Deutschen umgekehrt war dagegen der nationale Aspekt einer Grenzziehung anhand von sprachlichen Gegebenheiten wichtig.
Und wahrscheinlich auch der legalistische - ich weiß nicht, ob das den Akteuren von 1870 bewußt und wichtig war, vermute es aber: "Französisch-Lothringen" (also der bei Frankreich verbleibende Teil) war ursprünglich "legal einwandfrei" französisch geworden. Das Herzogtum Lothringen um Nancy gehörte zwar zum HRR, war aber im Frieden von Wien 1738 einvernehmlich an Frankreich gefallen.
Das Elsaß dagegen wurde von Frankreich über die "Réunionen" annektiert, die
lothringischen Bistümer waren zwar im westfälischen Frieden Frankreich zugesprochen worden - das wurde im Reich aber nie wirklich akzeptiert.
Das ganze 18. Jahrhundert hindurch haben Kaiser und Reich wegen dieser nicht anerkannten Gebietsverluste die internationalen Friedenskonferenzen genervt. Ich kann mich an eine Textstelle erinnern, als irgendwann bei einem völlig anderen Thema (spanischer Erbfolgekrieg?) verhandelt wurde und der englische Gesandte nach Hause schrieb, daß die tumben Deutschen SCHON WIEDER mit den alten Kamellen von Metz/Toul/Verdun anfangen und die Konferenz blockieren würden.
Das ist wohl schon typisch deutsch: Lieber jahrelang vor dem Verwaltungsgericht prozessieren ("es geht ums Prinzip"), als einfach mal akzeptieren, wie die Sachlage ist. Es ist wohl auch ein nationales deutsches Trauma, daß es im Völkerrecht kein Verwaltungsgericht gibt ;-)
Wie gesagt: Ich weiß nicht, ob das 1871 noch eine Rolle spielte. Aber die "Unrechtmäßigkeit" des französischen Besitzes an Elsaß/Lothringen war in Deutschland bis Ende des alten Reichs präsent.