Hallo,
das Thema finde ich ausgesprochen interessant, aber ich gebe zu bedenken, dass Indien im Bezug zum Komplex "Kolonialisierung" eine gewisse Sonderstellung einnimmt und somit m. E. nicht unbedingt als Paradebeispiel für die wirtschaftliche Entwicklung im Zusammenhang mit der Kolonialfrage dient.
Kolonien werden normalerweise dort gegründet, wo die Kolonialmacht der ansässigen Bevölkerung wirtschaftlich oder militärisch und auch kulturell (aber ich mag Begriffe wie den der überlegenen Kultur eigentlich nicht so...) ist. Jedenfalls spielt eine gewisse kulturelle Differenz eine nicht unbedeutende Rolle.
Überspitzt ausgedrückt wurden Kolonien meistens dort gegründet, wo man es mit vergleichsweise "rückständigen" Menschen zu tun hat (Indianer in Amerika, "Neger" in Afrika [ich benutze hier absichtlich den damals gebräuchlichen Terminus] oder irgendwelche Kannibalen in Südostasien :nono
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Indien passt da nicht so recht ins Schema. Als die Europäer begannen, sich für Indien zu interessieren, d. h. über den Seeweg Handelsbeziehungen aufzunehmen, wurde Indien größtenteils von den Moguln beherrscht. Das Mogulreich war in seiner Blütezeit eine wirtschaftliche und militärische Großmacht, da war an eine Kolonisierung durch Europäer nicht zu denken. Die hätten da keinen Stich gemacht. Auch kulturell hätte sich Indien nicht vor Europa verstecken müssen.
Hätten sich die Moguln für Seefahrt interessiert, wäre die Gefahr für Europa, durch die Inder kolonisiert zu werden wohl größer gewesen als umgekehrt. Auch wirtschaftlich waren die Europäer lange Zeit eher in die Rolle von Bittstellern gedrängt, als dass sie gleichwertige Handelspartner gewesen wären. Die Moguln verstanden sich gut darauf, die Engländer, Holländer und Portugiesen gegeneinander auszuspielen und ihre wirtschaftliche Macht auszunutzen. Indische Waren waren in Europa sehr gefragt, egal ob Textilien oder Salpeter für Schießpulver.
Erst als sich die Briten gegen die europäische Konkurrenz durchsetzten konnten und gleichzeitig das Mogulreich seinen Niedergang erlebte, den seine Herrscher nicht aufhalten konnten und wollten, bekamen sie einen Fuß in die Tür.
Es dürfte nicht leicht zu klären sein, ob die Einflüsse der Europäer den wirtschftlichen Niedergang Indiens wesentlich beeinflussten oder ob der wirtschaftliche Niedergang die Voraussetzung für den zunehmenden britischen Einfluss waren. Ich tendiere aber eher zu Letzterem, wechselseitige Beeinflussungen sind anzunehmen.
Als sich der Niedergang des Mogulreichs abzeichnete waren die Briten quasi gezwungen, das entstehende Machtvakuum selbst zu füllen, wenn sie ihre wirtschaftlichen Interessen wahren wollten. Ich denke, eine Eroberung oder echte Kolonialisierung Indiens war nie wirklich geplant, das Interesse lag auf britischer Seite mehr an den lukrativen Handelsbeziehungen. Genau genommen haben die Briten Indien auch nicht erobert. Durch geschicktes "Gegeneinanderausspielen" der indischen Fürstentümer und Anwerben einheimischer Truppen haben sie es geschafft, dass Indien sich sozusagen in britischem Auftrag selbst erobert hat.
Kurz und gut, ich weiß nicht, ob man Indien als "typisches" Beispiel der Kolonialisierung ansehen kann oder ob man hier nicht eher die Unterschiede zu den "normalen" Kolonien herausarbeiten sollte. Wenn man Indien isoliert betrachtet, sollte man eine gewisse Sonderstellung aber schon herausheben.
Soweit meine Gedanken dazu.
Viele Grüße,
Bernd