Es wird ja geschildert, dass Valens von einer zu geringen Truppenstärke der Goten ausging. Vielleicht war das einer der Gründe warum er „nur“ 15-30.000 Mann dabei hatte. Generell mussten ja auch sehr viele Truppen im Osten verbleiben, um die dortige angespannte Lage zu kontrollieren. Und zu guter Letzt war ja auch eine gemeinsame Aktion mit Gratians Truppen geplant. All das führte vielleicht dazu, dass Valens Heer nicht allzu groß war.
Ich gebe Dir aber Recht, dass es schwer nachzuvollziehen ist, dass diese eine Niederlage im Prinzip so vorentscheidend für den Verbleib der Goten im Reich war. Vermutlich war es nicht so einfach, große Teile einer „Elitearmee“ zu ersetzten, wenn es auch an vielen anderen Grenzen des Reiches erhebliche Bedrohungen gab.
Klar blieben große Truppenverbände am Euphrat. Weitere größere Bedrohungen sehe ich aber zu der Zeit im Ostreich nicht. Ausser Ägypten, das eher nicht direkt bedroht war, gabs da nix mehr. Heather und andere Historiker beschreiben auch, daß er die Offensive lange verzögerte und erst einen wenig vorteilhaften Frieden mit den Persern schloß, um eben die zentrale Eingreiftruppe Konstantinopels frei zu bekommen. Die Truppen des Magister Militum Orientalis blieben natürlich in Syrien; vielleicht auch Teile des Zentralheeres. Dann bleiben aber immer noch große Teile des Zentralheeres und das illyrische Bewegungsheer. Das hätten immer noch viel mehr Soldaten sein müssen, es sei denn die Annahmen über die Armeestärke der Spätantike, die von 400.000 bis 600.000 Mann reichen sind zu hoch. Eine andere Erklärung wäre, daß der Anteil der Limitanei nicht wie oft geschätzt 50% betrug, sondern weniger. Das würde aber kaum noch mit der Notitita Dignitatum zusammenpassen. Es sei denn die Ist-Stärke von Einheiten der Comitatenses war grundsätzlich deutlich geringer, als die der Limitanei. Auch das wäre ein Hinweis auf Geldmangel und Zwang zur Kostenoptimierung, wegen fehlender Einnahmen.
Heather schreibt, daß Valens wohl die Truppenstärke der Goten falsch eingeschätzt hatte. Diese Fehleinschätzung passierte aber erst vor Ort und veranlasste ihn, nicht auf Gratian zu warten, sondern alleine loszuschlagen. Das hat wenig damit zu tun, wieviele Truppen er insgesamt vorher moblisierte. Aufgrund der Feindaufklärung vor Ort, konnte er davon ausgehen, das die Terwingen und Alanen nicht anwesend waren und er es nur mit den Greutungen zu tun hatte, die er ohne Gratian besiegen konnte und so den ungeteilten Ruhm einstreichen. Dummerweise trafen die aber genau dann ein, als die Schlacht begann. Und gerade die alanische Reiterei wurde zum entscheidenden Problem. Ob Zufall oder Finte ist unbekannt.
Seine Fehleinschätzung kann also Nichts damit zu tun haben, wieviele Truppen er insgesamt mobiliserte, denn zu diesem Zeitpunkt war ihm die insgesamte Stärke der 3 Völker gut bekannt.
Das folgende Ausbleiben eines Vergeltungsschlages erklärt Heather dann wieder mit fehlenden Mitteln. So schnell waren natürlich 2 zentrale Feldheere nicht zu ersetzen; da hat er zu allen Zeiten Recht. Daß es aber auch nach Jahren nicht zu einem Angriff auf die Goten kam erklärt er mit einem Strategiewechsel:
- das Bild vom Barbaren hatte sich insbesondere unter dem Einfluß des Christentums geändert: "Auch sie sind Kinder Gottes und leichter zu bekehren, als Bürger des Reiches, als in ihren Wäldern jenseits der Donau"
- Man brauchte ja jetzt neue Soldaten und machte im Grundsatz Nichts Anderes als die letzten 400 Jahre zuvor. Man siedelte Germanen auf Reichsboden an. Neu war, daß sie dies unter eigener Kontrolle taten. Zwar stellte auch im frühen Kaiserreich der einheimische Adel die mittlere / lokale Führungsschicht und wurde schnell romanisiert, aber die Provinzleitung blieb immer römisch. Ebenfalls nicht neu ist, daß sie keine Steuern zahlten und dafür Truppen stellten. Das taten schon die Bataver unter Augustus in großem Umfang. Neu war allerdings, daß sie auch die Steuern der lokalen Städte bekamen.
Die Goten blieben aber zu Allen Zeiten ein Unruheherd im Balkan. Sie siedelten keinesfalls friedlich im zugewiesenen Gebiet, sondern marschierten öfters nach Gutdünken plündernd bis nach Griechenland. Auch wenn sich die Goten bei der Schlacht am Frigidus gegen des westlichen Usurpator Arbogast/Eugenius als wertvolle Verbündete erwiesen haben, so ist so viel Pragmatismus der Römer eigentlich kaum vorstellbar. Es sei denn, sie konnten nicht anders. Weil es eben dem Osten zwar besser ging, als dem Westen, aber weit entfernt von den ehemals blühenden Landschaften.
Das lange Überleben des Ostreichs und auch seine nachgewiesene Blüte im 6. Jahrhundert ist ja nicht denkbar, wenn das Reich, wie Du sagst, schon Ende des 4. Jahrhunderts in einem „jämmerlichen Zustand“ gewesen wäre. Da würde ich Dir widersprechen.
Manche Historiker führen als einen Hauptrund für das Überleben des Ostreichs auch seine besondere strategische Lage an. Mit dem Bollwerk Konstantinopel, das für alle damaligen Armeen uneinnehmbar war waren die Kernlande geschützt. Das Ostreich konnte jederzeit seine Truppen am Euphrat auf hohem Niveau halten, denn diese Grenze war die größere Bedrohung für Kleinasien, Syrien und Ägypten. Den Balkan und auch Griechenland, hat man mehr als einmal zur Plünderung freigegeben. Der Bosporus war sozusagen eine natürliche Grenzverkürzung, die automatisch immer eintrat, wenn es im Norden zu Einfällen kam. Dadurch konnte man das Niveau der Euphrattruppen hoch halten, ohne im Westen zu viel zu verlieren.
Die Landwirtschaft des Ostreiches war nach Meinung der meisten Historiker in deutlich besseren Zustand als der des Westens, auch waren die wirtschaftliche Leistungskraft und die Bevölkerungzahlen bereits zum Zeitpunkt der Teilung größer als im Westen. Einige Historiker glauben auch einen geringeren Grad der großkapitalistischen Zentralisierung der Landwirtschaft im Osten belegen zu können; also eine andere und ggf. robustere Wirtschaftsstruktur.
Ich würde jedoch nicht wie Heather annehmen wolllen, daß die Wirtschaft im Osten im 4ten Jahrhundert noch das hohe Niveau des 2ten hatte. Dennoch gibt es viele Hinweise, daß Bruttosozialprodukt pro Kopf wie auch die Bevölkerungszahl insgesamt und damit die Gesamtleistungsfähigkeit des Ostens höher war als im Westen, was so gemeinsam mit der strategisch besseren Lage den Untergang verhindern konnte.
Dennoch sprechen alle Hinweise aus der jüngeren Archäologie, wie auch die Zeitgeschichte in der Literatur dafür, daß es Ende des 2ten Jahrhunderts zu einem Niedergang kam durch die oben beschriebenen Belastungen (Pest, Klimawandel, Barbareneinfälle). Die Severer konnten den Zusammenbruch nochmals verzögern, aber bis zum Ende ihrer Dynastie hatte die Inflation und die wirtschaftliche Lage katastrophale Züge angenommen. Unter solchen Umständen brach das labile Akzeptanzsystem des römischen Prinzipats endgültig zusammen und zur ohnehin schon katastrophalen Lage kamen dauernde Bürgerkriege mit zusätzlichen Verheerungen für Volkswirtchaft und Armee hinzu.
Diokletian und Konstantin konnten die Lage dann stabilisieren. Aber die Volkswirtschaft stabilisierte sich auf deutlich niedrigerem Niveau, als in den ersten beiden Jahrhunderten. Dennoch blieb die Bedrohungslage bei nun geringerem Steueraufkommen hoch und damit die Notwendigkeit für eine große Armee. Das kann nur ausgeglichen worden sein, durch geringere Truppenstärke (also eher 300.000 / 400.000 denn 600.000 Mann) und Kosteneinsparung bei den Truppen selbst (Ausrüstung, Rekrutierung, tolerierte Iststärke von Einheiten), was zu Lasten der Qualität ging auch unabhängig von der Disziplin- und Moraldiskussion der antiken Autoren.
Diese reduzierte Volkswirtschaft und ihre Soldaten, waren spätestens nach den vernichtenden Niederlagen von Adrianopel und Frigidus nicht mehr in der Lage die Rheingrenze und auch die Donaugrenze zu halten. Das Ostreich konnte aufgrund seiner etwas besseren Ausgangssituation wneigstens noch den Bosporus und Euphrat halten. Den Begriff "jammerlich" nehme ich in diesem Zusammenhang zurück und ändere ihn für den Osten in "bedenklich".
Alles was dann folgte von 406 bis 476 waren kaum aufhaltbare Dominoeffekte die ungebremst in den Untergang des Westreiches führten, auch wenn oft noch mangelnde Fortune dazukam, wie etwa der zweimal gescheiterte Versuch, Afrika wieder zu erobern. Ein solches Rumpfreich aus Italien und Africa wäre nach Heather wohl in der Lage gewesen, sich zu halten und mittelfristig zumindest das reiche Spanien zurückzuerobern bei dann wirksam verkürzten Grenzen. Gallien und Britannien waren unrettbar verloren. Heather deutet hier auch eine "Verschwörungstheorie" an, nach der genau das schon Ende des 4ten Jhdts. die Strategie des Gesamtkaisers in Ostrom war. Aber es gelang nicht, und so führte die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit das Westreich in den Untergang, auch wenn militärische Erfolge die Entwicklung noch hätten bremsen können.
Das soll kein monokausaler Erklärungsansatz sein. Aber die Bedeutung des wirtschaftlichen Niedergangs scheint mir groß und offensichtlich. Und in jeder Gesellschaft finden sich fast alle Entscheidungen und Entwicklungen irgendwann auch in volkswirtschaftlichen Zahlen wieder.
Hier noch eine Quelle, die meine Meinung zwar nicht belegt, aber unterstützt. Der Artikel beginnt S. 183 "Gibbon was right"
Crises and the Roman Empire: Proceedings of the Seventh Workshop of the ... - Olivier Hekster, Gerda De Kleijn, Daniëlle Slootjes - Google Books