Deine Argumentation ist ohne Frage rund. Sie war für mich aber neu, weil ja sonst immer auf das "Auferstehungserlebnis" der Jünger als Voraussetzung für den Elan der ersten Christen-Generation hingewiesen wird. Du hast ja eindrücklich gezeigt, dass ein Fortleben und Erstarken der jungen Glaubensgemeinschaft auch ohne solch ein "Auferstehungserlebnis" möglich und denkbar gewesen wäre (Stichwort Charisma der Führungspersönlichkeit oder Stichwort geistliche Lehrwahrheit, an deren Gültigkeit ganz unabhängig vom weltlichen "Schicksal" der Führungspersönlichkeit geglaubt werden konnte). Diesen Gedanken habe ich bisher noch nicht gekannt, aber er erscheint mir wert, gedacht zu werden.
Allerdings stehe ich dann an einem anderen Punkte, wie der Ochs vorm Berge: Warum hat die junge Glaubensgemeinschaft dann derart auf die Auferstehung Jesu als Beglaubigung für die Wahrheit des christl. Glaubens gepocht? Oder interpretiere ich da zu viel in die neutestamentlichen Schriften hinein? Eigentlich nicht, oder?
Die Auferstehung nach dem Tod (sowohl Jesu eigene als auch die der anderen Menschen) war ja ein zentraler Teil von Jesu Lehre: "Glaubt und tut Gutes, dann erhaltet ihr euren Lohn im Jenseits." (Grundsätzlich war sie nichts Neues, schon die Pharisäer lehrten die Auferstehung.) Wissenschaftlich nachprüfen konnten Jesu Jünger nach seinem Tod natürlich nicht, ob er jetzt tatsächlich auferstanden war, aber wenn sie von seiner Lehre überzeugt waren (wovon ich ausgehe), mussten sie natürlich auch davon ausgehen, dass er tatsächlich auferstanden war. Dieser Glaube war einerseits sicherlich für die Eigenmotivation wichtig: "Unser Meister ist gar nicht tot, sondern er ist auferstanden. Er hat uns nicht verlassen bzw. er wurde uns nicht endgültig genommen, sondern ist weiterhin bei uns, auch wenn wir ihn nicht mehr sehen können." Andererseits war diese Überzeugung auch ein wichtiges Argument für die Missionierung, um klarzustellen, dass Jesus eben nicht gescheitert war. Die christlichen Missionare betonten dann ja auch stets, dass Jesus seinen Tod vorhergesehen und in Kauf genommen habe, weil er für sein Heilswirken zum Wohle aller Menschen notwendig gewesen sei, danach aber auferstanden sei. So konnte Jesus vom schwachen Opfer, das auf Betreiben von Teilen des jüdischen Establishments wie ein Verbrecher hingerichtet wurde, zum heldenhaften selbstbestimmten Märtyrer, der zum Wohle der Menschheit freiwillig seine Leiden auf sich nahm, uminterpretiert werden.
Zusammenfassung: Weil Jesus so charismatisch war und seine Anhänger davon überzeugen konnte, dass er (wie alle Menschen) nach dem Tode auferstehen würde, war sein Tod auch kein "Scheitern", sondern nur ein Übergangsprozess. Daher widersprach sein Tod am Kreuz seiner Lehre und seinem Wirken nicht nur nicht, sondern fügte sich sogar harmonisch in sie ein.
(Anmerkung: Laut den Evangelien hat Jesus seinen Tod vorausgesehen und auch seinen Jüngern vorausverkündet. Das kann man nun glauben oder auch nicht, aber auch wenn man nicht daran glauben will, dass Jesus prophetische Kräfte hatte, ist es dennoch plausibel, dass er - in anbetracht der Anfeindungen, denen er ausgesetzt war - mit einem gewaltsamen Tod rechnete und seine Jünger darauf vorzubereiten versuchte.)