Die Frage der Ortswahl (Locarno) ist ein interessantes formales Detail, das die Schwierigkeit der Verhandlungen beleuchtet. Schon bei dieser "Formalität" gab es beachtliche Probleme, die sogar ein Scheitern der Gespräche schon vor Beginn hätten bedeuten können.
Großbritannien bestand auf einem Gesprächsort in England oder in einem neutralen (also Nicht-Teilnehmer-)Land. Mussolini bestand auf einem italienischen Tagungsort. Frankreich konnte sich mit einem neutralen Ort anfreunden, Deutschland hatte keine Vorbehalte, war aber bemüht, an dieser Frage nicht den Erfolg scheitern zu lassen.
Da blieb also nicht viel. Tatsächlich - wie auch aus dem oben verlinkten Statement aus Locarno ersichtlich - suchte man einen "italien-nahen"/neutralen Tagungsort, um Mussolini entgegen zu kommen. So kam der Vorschlag Locarno zustande.
Unmittelbar vor Beginn und in der Eröffnungsveranstaltung am 5.10. in Locarno wurde deutlich, dass Mussolini, dem zuliebe diese Lokalität ausgesucht wurde, wegen der internen Probleme nicht kommen wollte. Das wiederum hätte eine Brüskierung Chamberlains bedeutet, der anreisen würde, und drohte wieder den Erfolg schon vor den materiellen Aspekten in Frage zu stellen.
Hintergrund waren bei Mussolini die innenpolitischen Probleme Italiens, mit denen er im Oktober voll beschäftigt war: schwelende außerparlamentarische Opposition der
Aventinianer, Richtungskämpfe in der Faschistischen Partei, Gewaltakte radikaler Faschisten in der Toskana (
Squadristi). Selbst die Unterzeichnung des Vertrages in London war gefährdet, als Anfang November ein Attentatsplan gegen Mussolini in Rom aufgedeckt wurde.
Nach Stresemann wurde Locarno ebenfalls allein aus dem Grund ausgewählt, damit "Mussolini nicht verschnupfe", wenn der gewünschte Tagungsort in Italien nicht möglich sei.
"Der Reichsminister des Auswärtigen Er erblicke keinen Vorteil in der Verzögerung der Konferenz. Briand habe ihm heute durch den französischen Botschafter als erwünschten Termin Montag, den 5. Oktober, mitteilen lassen. Er halte es für dringend erwünscht, an diesem Termin festzuhalten. Es sei nicht ausgeschlossen, daß sich die militärische Lage Frankreichs in Marokko bessere. Ferner sei nicht ausgeschlossen, daß Caillaux, der demnächst nach Amerika reise, infolge seiner glänzenden Eigenschaften große Vorteile für Frankreich bei der Verhandlung des Schuldenproblems mitbrächte. Es sei also nicht ausgeschlossen, daß nach einigen Wochen das Interesse Frankreichs an dem Abschluß des Sicherheitspakts geringer sei. Als Ort werde neuerdings Locarno vorgeschlagen, und zwar hauptsächlich im Hinblick auf die Teilnahme Mussolinis. Die Presse habe ihm, Stresemann, allerdings technische Bedenken hinsichtlich der Fernverbindungen und der Unterbringungsmöglichkeiten der Presse geäußert. Er sei aber trotzdem dafür, Locarno zuzustimmen, damit insbesondere Mussolini nicht verschnupfe."
"Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik" Online "[Einladung zur Locarno-Konferenz; Sicherheitsp..." (2.158.1
Vgl. Akten der Reichskanzlei, Luther I, Band I, Dokument 158.
Turonsky, Entente der Revisionisten? - Mussolini und Stresemann 1922-1929, S. 97-98.