Warum sind im 19. Jahrhundert so viele Sekten entstanden?

B

Baal

Gast
Ich habe mir in letzter Zeit viele Gedanken zu diesem Thema gemacht.

Man hätte meinen können, dass Leute wie Voltaire, Kant, Hume, Diderot etc. die Gesellschaft zum Guten verändert haben, indem sie zu mehr Vernunft aufriefen und viele Gründungsväter der USA waren hochintelligente, fortschrittliche Säkularisten, die auch die Wichtigkeit der Vernunft betont hatten. Diese Menschen haben mit ihren Schriften den damaligen Zeitgeist stark beeinflusst. Bücher wurden gedruckt, Menschen konnten lesen, vereinzelnd öffneten Universitäten ihre Türen für Frauen, es gab Salons, in denen man Literatur austauschte und neue Ideen ausdiskutierte.

Für mich hört sich das so an, als wäre das der perfekte Nährboden für Vernunft.

Dennoch sind im 19. Jahrhundert zahlreiche wirre Sekten entstanden. Man denke an die Millerbewegung wo tausende Amerikaner ihr Hab und Gut verkauften, weil sie im Oktober 1844 die Wiederkunft Jesu erwarteten. Oder man denke an den Fakt, dass Menschen wie Mary Baker Eddy, Joseph Smith und Ellen White riesige Menschenmassen mit ihren Ideen überzeugen konnten und dazu beitrugen, dass Menschen fanatisiert wurden, verarmten und freiwillig auf Bildung verzichteten.

Wieso haben sich gerade diese zwei völlig gegensätzlichen Geisteshaltungen zur selben Zeit durchgesetzt?
 
Dass die Gründer der USA Säkularisten gewesen seien, würde ich nicht bestätigen. Aber zum Eigentlichen:

Die Aufklärer stellten als sicher und unumstößlich geglaubte Wahrheiten in Frage. Das verunsichert nicht wenige Menschen und sie halten sich an Leute, die (einfache) Wahrheiten und (vermeintliche) Gewissheiten und Sicherheiten anbieten.

Außerdem förderten die Aufklärer auch die Religionsfreiheit. Also ,man konnte sich eine abweichende religiöse Auffassung leisten, ohne auf einem Scheiterhaufen zu enden. Gerade die USA boten Zufluchtsorte für Menschen, die in Europa immer noch nicht "nach ihrer Facon selig" werden durften.
 
Die Aufklärer stellten als sicher und unumstößlich geglaubte Wahrheiten in Frage. Das verunsichert nicht wenige Menschen und sie halten sich an Leute, die (einfache) Wahrheiten und (vermeintliche) Gewissheiten und Sicherheiten anbieten.
Ich denke, dass weniger die frühere Aufklärung als vielmehr der Scientismus des 19. Jhs. unfreiwilliger Auslöser für allerlei sektiererische Bewegungen war; hie Industrialisierung, Atlantikkabel, Haeckel - da Romantik, Turnerbewegung, Sektiererien
 
Die Sekten und die Wissenschaften basieren nur scheinbar auf gegensätzlichen Geistenshaltungen.
Einige religiöse Bewegungen des 19. Jahrhunderts basieren auf der Fiktion einer Verwissenschaftlichung der Religion.

Mary Baker Eddy nannte ihre Glaubenslehre "Christian Science".
Ein ähnliches Label wählten die "Bibelforscher" (Bible Students), die heute unter dem Namen "Zeugen Jehovas" firmieren.
Auch Joseph Smiths Visionen sind nicht frei von pseudowissenschaftlichen Anleihen, sondern mit angeblichen Erkenntnissen der Archäologie, Ägyptologie u.a. untermauert, wodruch der spätere Bundesstaat Utah zum gelobten Land der Mormonen erklärt wurde.
 
Die Aufklärung bot die Freiheit das so viele religiöse Gruppierungen entstehen.

Joseph Smith hat übrigens sehr viel der wissenschaftlichen Erkenntnisse Stand 19. Jahrhundert bearbeitet. Das die Indianer Israeliten waren, war eine durchaus von vielen Wissenschaftlern geglaubte Theorie. Da ist jede Menge Rassismus drinnen, weil man niemanden außerhalb Eurasisens kulturelle Eigenentwicklungen zutraute und deswegen waren für alle kulturellen Hochleistungen außeramerikanische Menschen zuständig.

Für einen Außenstehenden welcher ein bisschen sich mit dem 19. Jahrhundert auskennt ist das Buch Mormon, eine Ansammlung von Gedankengut aus dem 19. Jahrhundert.
 
Für mich hört sich das so an, als wäre das der perfekte Nährboden für Vernunft.

Hallo Baal,

dein Problem ist grundsätzlicher Natur. Wie Definierst du den Begriff "Vernunft"? Das ist durchaus nicht so trivial wie es sich anhört. Die Vorstellung, es gebe gewisse Vorschriften oder Ideen, die sich aus der Vernunft selbst ableiten würden und diese Ideen seien grundsätzlich der Religion entgegen gesetzt ist relativ neueren Datums.

Betrachte bitte die von dir aufgezählten Autoren! Kant "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", "Was darf ich hoffen".
Voltaire und Diderot hatten deistische Ansichten vertreten. Übrigens, selbst "Materialismus", mit dem wir heute fast automatisch eine atheistische Position assoziieren, war damals nicht zwangsläufig atheistisch. Es gab materielle Gottesbilder, so unglaublich es und heutigen erscheint.

Auch waren aus heutiger Sicht viele "fortschrittliche", "liberale" oder "linke" Geister sogar religiös geprägt: Die Quäker, die sich für Frauenrechte und gegen die Sklaverei einsetzt waren eine solche "Sekte". Und die US-Gründerväter wollten zwar einen religiös-neutralen Staat, aber die meisten sahen die Religion längst nicht als Privatangelegenheit.


Dennoch sind im 19. Jahrhundert zahlreiche wirre Sekten entstanden. Man denke an die Millerbewegung wo tausende Amerikaner ihr Hab und Gut verkauften, weil sie im Oktober 1844 die Wiederkunft Jesu erwarteten. Oder man denke an den Fakt, dass Menschen wie Mary Baker Eddy, Joseph Smith und Ellen White riesige Menschenmassen mit ihren Ideen überzeugen konnten und dazu beitrugen, dass Menschen fanatisiert wurden, verarmten und freiwillig auf Bildung verzichteten.

Das war Zeitgeist. In den USA genießen religiöse Vorstellungen bis zum heutigen Tage einen Respekt, den sie so pauschal in anderen Teilen der Welt nicht genießen können.


Du solltest dir vielleicht die folgende Frage stellen: Könnte es sein, dass die Mitgliedschaft z. B. bei den Mormonen den jeweiligen Mitgliedern einen Vorteil verschafft hat, den sie in der säkularen Welt nicht bekommen würden?
Meines Wissens gehört UHTA heute in den USA zu den Bundesstaaten mit den ausgebautesten Sozialsystem. Kirchen sind sehr häufig karitativ tätig und fördern ihre Mitglieder. Das, zusammen mit der Atmosphäre der Freiheit, die der Liberalismus geschaffen hatte, fördert natürlich eine Pro-Religiöse Stimmung.
 
Die Auswanderer aus Europa bestanden hauptsächlich aus Leuten, die sich in Nordamerika mehr Möglichkeiten zur Selbstentfaltung erhofften, inkl. religiöser Freiheit. Eine wichtige Voraussetzung dafür war, was hier vielleicht noch zu wenig hervorgehoben wurde, nämlich ein entsprechendes Raumangebot (Liborius’ »Zufluchtsorte«). Man konnte sich absondern und eine eigene kleine Welt aufbauen; hatte mit Liberalismus vorerstmal rein gar nichts zu tun. Später jedoch wurde Toleranz gegenüber Andersdenkende die Voraussetzung für die verstärkte Urbanisierung, d.h. zur Notwendigkeit. Nicht mehr und nicht weniger.
 
Man konnte sich absondern und eine eigene kleine Welt aufbauen; hatte mit Liberalismus vorerstmal rein gar nichts zu tun.

Die Gruppen, die aus religiösen Gründen auswanderten, vertraten oft radikale Strömungen, die ihren Mitgliedern strenge Regeln auferlegten.
Zu Massenauswanderungen kam es meist aus anderen Gründen: Krieg, Hunger, wirtschaftliches Elend, teils auch politische Gründe (hierzulande die "Achtundvierziger").

Eine empfehlenswerte Seite (auch wenn es "nur" um die Auswanderer aus dem heutigen Rheinland-Pfalz geht):
Nordamerikaauswanderung - regionalgeschichte.net
 
Die Verfolgung christlicher Splittergruppen war über Jahrhunderte Motor der Migrantionsbewegungen in und aus Europa. Im 19. Jahrhundert war das allerdings zumindest in Westeuropa Vergangenheit.

Die Neugründungen im 19. Jahrhundert sind Vertreter einer sehr modernen Religiösität, die mit den schon mehrere Jahrhunderte alten und traditionsreichen Gruppierungen der Täufer, Calvinisten, Quäker usw. fast nichts zu tun haben.
Die Mormonen sind mindestens so modern wie Jules Verne: Ferne Planeten, außerirdische Artefakte, indianische Hochkulturen mit präkolumbianischen Kontakten, berittene Tapire ... eine echte Wunderkammer des Science-Fiction.
 
Die Verfolgung christlicher Splittergruppen war über Jahrhunderte Motor der Migrantionsbewegungen in und aus Europa. Im 19. Jahrhundert war das allerdings zumindest in Westeuropa Vergangenheit.

Die Neugründungen im 19. Jahrhundert sind Vertreter einer sehr modernen Religiösität, die mit den schon mehrere Jahrhunderte alten und traditionsreichen Gruppierungen der Täufer, Calvinisten, Quäker usw. fast nichts zu tun haben.
Die Mormonen sind mindestens so modern wie Jules Verne: Ferne Planeten, außerirdische Artefakte, indianische Hochkulturen mit präkolumbianischen Kontakten, berittene Tapire ... eine echte Wunderkammer des Science-Fiction.
 
Gibt es irgendeine belastbare empirische Basis für diesen besagten „Motor“ der Migration bis zum 18. Jhdt (?), Treiber, Masse, mehrheitliche Motivation, whatever?
 
Gibt es irgendeine belastbare empirische Basis für diesen besagten „Motor“ der Migration bis zum 18. Jhdt (?), Treiber, Masse, mehrheitliche Motivation, whatever?

Aus der oben verlinkten Seite:

Schätzungsweise 100.000 Deutsche wanderten bis zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten in die britischen Kolonien Nordamerikas aus.[Anm. 1] Ähnlich wie bei den Auswanderern von 1709 waren auch später wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend.
...
Die Nachricht von dem „heiligen Experiment“ in Pennsylvania verbreitete sich rasch in Deutschland. In den nächsten Jahrzehnten fanden besonders Angehörige verfolgter religiöser Gruppen dort eine Zuflucht.[Anm. 5] ...
Die große Mehrheit der Deutschen in Pennsylvania war jedoch lutherisch oder reformiert.

Pennsylvania: Zentrum der deutschen Einwanderung zur Kolonialzeit - regionalgeschichte.net
 
Die Gruppen, die aus religiösen Gründen auswanderten, vertraten oft radikale Strömungen, die ihren Mitgliedern strenge Regeln auferlegten.
Ich dachte eigentlich an die Zeit vor dem 19. Jh. Und an die Frage: Woher die Toleranz gegenüber andere Ideologien im 19. Jh.? Viel Platz zum Ansiedeln fördert das friedliche Nebenaneinder. Wer wenig Platz hat, ist eher unzufrieden mit dem Nachbarn. Und umgekehrt: wer viel Platz hat, entwickelt weniger Berührungsängste.
Außerdem war im 19. Jh. in den USA eine Vielzahl von Glaubensgemeinschaften* schon lange präsent, was Neugründungen geradezu anzog. (*: bei weitem nicht nur deutschsprachige Protestanten)
 
Ich denke es handelt sich auch um ein methodisches Problem bei dieser Fragestellung.

M.E. müsste man zuerst sämtliche entstandenen Sekten erfassen. Dann könnte man womöglich, ähnlich der Stadtneugründungen im Mittelalter, Schlüsse zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ziehen. So halte ich es aber für zu subjektiv gefärbt.
Womöglich ist ja auch ein anderer Ansatz gewinnbringender. Was sind die Entstehungsbedingungen von Glaubensgemeinschaften? Die Abgrenzung Sekte-Religion ist hierbei womöglich von zentraler Bedeutung, um im Fortgang nicht ganze Glaubensrichtungen unter den Tisch fallen zu lassen.
 
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Für mich hört sich das so an, als wäre das der perfekte Nährboden für Vernunft.
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Auf dem 'perfekten Nährboden', den ich auch vermuten würde, gedeiht womöglich auch die Blume der Unvernunft vorzüglich.
Erweitert man den Zugang zu Bildung, so zieht man stets einen langen Schleier der spekulationsfreudigen Halbbildung hinter sich her.

@ dekumatland:
Wäre das dann der versehentliche Beitrag des "Scientismus des 19. Jhs." zur Ausbildung abseitiger Welterklärungen?
 
Als der Buchdruck erfunden wurde, wurde die Verbreitung von Texten plötzlich einfach und verhältnismäßig billig (auch weil Papier zunehmend das teure Pergament ersetzte). Das hatte neben der Erhöhung der Literalität der Menschen auch zufolge, dass auch Texte minderer Qualität gedruckt wurden. Das Internet ist mal für das Militär entwickelt worden. Als es für den zivilen Gebrauch geöffnet wurde, waren damit Hoffnungen verbunden, dass es den Austausch von Menschen und Ideen befördere und damit letztlich zur Demokratisierung beitrage. Aber schauen wir uns die Asozialen Hetzwerke an: Aufreger und Fakenews erhalten mehr Verbreitung als echte Nachrichten, der Ton ist aggressiv geworden. Also: Neue Technologien bieten immer neue Chancen, die Frage ist eben, wie man diese Chancen nutzt: Aufklärerisch oder antiaufklärerisch.
 
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