Warum sind im 19. Jahrhundert so viele Sekten entstanden?

@ dekumatland:
Wäre das dann der versehentliche Beitrag des "Scientismus des 19. Jhs." zur Ausbildung abseitiger Welterklärungen?
Nein, mir scheinen allerlei quasi mystizistische Bewegungen im 19. Jh. ( das Eine Fülle an dergleichen bot) eher als Abwehrhaltunf gegen den Fortschrittsoptimismus.
 
So einfach ist es aber nicht.
Die protestantischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts gaben entscheidene Impulse zur Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft. Abolitionismus, Frauenbewegung und Prohibition gehen direkt auf Initiativen von Methodisten, Quäker usw. zurück. Die Einführung des Frauenwahlrechts und die Abschaffung der Sklaverei wurde mit "abseitigen" Welterklärungen begründet.

Die Mormonen wirkten stark die amerikanische Science-Fiction ein. Einzelne Tropen aus dem Buch Mormon finden sich in bekannten Serien und Filmen wieder.
 
So einfach ist es aber nicht.
Die protestantischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts gaben entscheidene Impulse zur Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft. Abolitionismus, Frauenbewegung und Prohibition gehen direkt auf Initiativen von Methodisten, Quäker usw. zurück. Die Einführung des Frauenwahlrechts und die Abschaffung der Sklaverei wurde mit "abseitigen" Welterklärungen begründet.

Die Mormonen wirkten stark die amerikanische Science-Fiction ein. Einzelne Tropen aus dem Buch Mormon finden sich in bekannten Serien und Filmen wieder.
So einfach ist es aber nicht.
Die protestantischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts gaben entscheidene Impulse zur Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft. Abolitionismus, Frauenbewegung und Prohibition gehen direkt auf Initiativen von Methodisten, Quäker usw. zurück. Die Einführung des Frauenwahlrechts und die Abschaffung der Sklaverei wurde mit "abseitigen" Welterklärungen begründet.

Die Mormonen wirkten stark die amerikanische Science-Fiction ein. Einzelne Tropen aus dem Buch Mormon finden sich in bekannten Serien und Filmen wieder.



Naja, sie wurden mit abseitigen Welterklärungen begründet, nur ist die Frage, inwiefern sind diese abseitigen Welterklärungen hierfür als Ursaahe und in wiefern nur als Beiwerk zu verstehen, das sich zur Schaffung von Akzeptanz in den entsprechenden Bevölkerungsgruppen einfach gut verwenden lies?

Die letztendliche Abschaffung der Sklaverei in den USA (sicher nicht der Abolitionismus an sich, aber die Abschaffung) ist doch eher als Kriegsmaßnahme zu sehen, denn wirklich als ideologisch motiviert, sonst hätte man sie auch schon vor dem Beginn den Bürgerkrieges verkünden können.

"Wir lassen die Sklaven frei aus (Belibigen abseitigen Erklärungsansatz einfügen".

klingt prinzipiell mal besser als die Tatsache:

"Wir beißen uns an den Rebellen militärisch die Zähne aus, schauen wir mal ob das so bleibt, wenn wir Unordnung in die Gesellschaftsstruktur des Südens bringen".
 
Ich würde die Aussage, dass im 19. Jahrhundert so viele Sekten enstanden mit einem Fragezeichen versehen. Die Gruppierungen der Methodisten, Baptisten, Mennoniten, Hutterer und Quäker sind fast alle im 16. und 17. Jahrhundert entstanden. Großen geschichtlichen Einfluss entwickelten sie vor allem im späten 17. und im 18. Jahrhundert im Zuge der pietistischen Erweckungsbewegung und durch die Einwanderungsbewegungen seit den 1720er Jahren. Neu entstanden sind im 19. Jahrhundert eigentlich nur die Mormonen, deren Einfluss auf die Entwicklung der Staaten Utah und Idaho kaum überschätzt werden kann, deren Einfluss auf die Entwicklung der USA unmittelbar vor dem Bürgerkrieg aber doch begrenzt war.
 
Neu entstanden sind im 19. Jahrhundert eigentlich nur die Mormonen
Da würden mir aber aus dem Stand noch folgende weitere Gruppen einfallen:
- Zeugen Jehovas
- Siebenten-Tages-Adventisten
- Christian Science

nicht auch mancherlei Okkultismus (auch die Satanistenzirkel der Jugendstilzeit), Theosophie a la Steiner (Anthroposophie) sowie völkisch-nationale neuheidnische Spinnereien?
Die hatten ihre Wurzeln allerdings weniger in den USA...
 
Die Wurzeln vieler moderner Okkultismen lassen sich direkt oder indirekt auf die Theosophie von Helena Blavatsky zurückführen. Die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 in New York gegründet. Sowohl die Antroposophie Steiners als auch diverse deutsch-völkische Okkultismen gegen ideengeschichtlich auf die in Amerika diese entstandene Esoterik zurück.
Nach eigenen Angaben ist das natürlich keine Neugründung des 19. Jahrhunderts, sondern ein uralter Geheimbund.;)
 
Rudolf Steiner hat sich offensichtlich darüber geärgert und sich in folgender Weise "distanziert":

"Die Theosophische Gesellschaft ist 1875 in New York gegründet worden durch H. P. Blavatsky und H. S. Olcott. Diese erste Gründung trug einen ausgesprochen westlichen Charakter. Und auch die Schrift «Isis Unveiled», in welcher Blavatsky eine große Summe von okkulten Wahrheiten veröffentlichte, trägt einen solchen westlichen Charakter. Von dieser Schrift muss jedoch gesagt werden, dass sie die großen Wahrheiten, die in ihr mitgeteilt werden, in einer vielfach verzerrten, ja oft karikierten Art wiedergibt. Es ist so, wie wenn ein harmonisches Antlitz in einem Konvexspiegel ganz verzerrt erscheint. Die Dinge, die in der «Isis» gesagt werden, sind wahr; aber die Art, wie sie gesagt werden, ist unregelmäßige Spiegelung der Wahrheit. Es rührt dies davon her, dass die Wahrheiten selbst inspiriert sind von den großen Initiierten des Westens, die auch die Initiatoren der Rosenkreuzerweisheit sind. Die Verzerrung rührt her von der unentsprechenden Art, wie diese Wahrheiten von der Seele H. P. Blavatskys aufgenommen worden sind. Für die gebildete Welt hätte gerade diese Tatsache ein Beweis sein müssen für die höhere Inspirationsquelle dieser Wahrheiten. Denn niemals hätte jemand durch sich selbst diese Wahrheiten haben können, der sie in einer so verzerrten Art wiedergab. Weil nun die Initiatoren des Westens sahen, wie wenig sie die Möglichkeit haben, auf diese Art den Strom spiritueller Weisheit in die Menschheit einfließen zu lassen, beschlossen sie, die Sache überhaupt vorläufig in dieser Form fallen zu lassen. Doch war aber nun einmal das Tor geöffnet: Blavatskys Seele war so präpariert, dass in sie spirituelle Weisheiten einfließen konnten. Es konnten sich ihrer östliche Initiatoren bemächtigen. Diese östlichen Initiatoren hatten zunächst das allerbeste Ziel. Sie sahen, wie durch den Anglo-Amerikanismus die Menschheit der furchtbaren Gefahr einer vollständigen Vermaterialisierung der Vorstellungsart entgegensteuerte. ... "

Theosophische Gesellschaft – AnthroWiki
 
richtig, aber ... darf hier nur erwähnt werden, was in den USA wurzelt?

Weil's gerade so schön ruhig ist, sei ein kleiner Abstecher in die Donaumonarchie gestattet. Der Musiklehrer Jakob Lorber (er war befreundet mit Anselm Hüttenbrenner und soll bei Paganini ein paar Unterrichtsstunden genommen haben) hörte anno 1840 eine innere Stimme, die ihn zum Schreiben aufforderte. Und Jakob Lorber begann zu schreiben, 25 Bücher und viele kleinere Schriften. Das dickste - "Das große Evangelium Johannes" - umfasst 10 Bände mit 5323 Seiten.
Hinter all den fantastischen Ausführungen spürt man immer wieder eine "aufklärerische" Motivation. Die biblischen Geschichte von der Sintflut wird da ausführlich auseinandergenommen. Selbstverständlich kann nicht die ganze Erde überschwemmt worden sein, geht ja gar nicht,

... und das darum, weil es nicht überall regnen konnte und die Flut auch nicht überall vonnöten war. Hätte es wohl in den überkalten Polargegenden regnen können, wo sogar die Luft gefriert?! Und wozu wäre der vierzigtägige Regen in jenen Gegenden gut gewesen, wo noch kein Mensch wohnte und auch wenig oder gar kein Getier?! Oder was hätte der Regen über dem Weltmeere bewirken sollen? Etwa die Fische ersäufen? Und endlich, wenn das natürliche Flutgewässer auf der ganzen Erde über jedem Punkte gleich eine Höhe von dreitausend Klaftern erreicht hätte, wohin hätte es dann wohl abfließen und sich verlaufen sollen?!
...
Darum war die Flut wohl nur dort in ihrem verderblichen Auftritte, wo die arge Menschheit zu Hause war, und bedeckte da besonders Mittelasien wohl auf eine Höhe von viertausend Klaftern über dem Meeresspiegel, von wo aus sie sich dann wohl sehr weit und breit hin nach allen Seiten ergoß! Wenn es aber in der Schrift auch heißt: »Über alle Berge der Erde, und außer, was die Arche trug, blieb nichts Lebendiges auf dem Erdboden!", - so muß das nicht wörtlich auf die Naturerde selbst bezogen werden; denn unter ,Berge' wird nur der Hochmut und die Herrschsucht verstanden von Seite der Menschen. Und daß auf der Erde kein Leben übrigblieb, außer in der Arche, besagt, daß Noah allein ein geistiges Leben in Gott und aus Gott getreuest behielt.
Wer das wohl beachtet, der wird es wohl einsehen, daß die Flut Noahs wohl eine großörtliche, aber deswegen dennoch keine völlig allgemeine war, und das darum, weil nur in Mittelasien die Menschen durch Tollkühnheit dazu selbst die Hauptveranlassung waren, was in den anderen Weltteilen nicht der traurige Fall war.
...
Man könnte hier freilich einwenden und sagen: »Gut, wenn die Flut Noahs nur ein großörtliches Hochgewässer war, wie konnte es dann da natürlicherweise eine so schauderhafte Höhe erreichen, ohne vorher nach allen Seiten sich in hundert Meilen breiten Strömen abfließend zu ergießen?« Auf diese fragliche Einwendung diene folgende Berichtigung: Fürs erste war der vierzigtägige Regen wohl über ganz Asien, einen großen Teil von Europa, wie auch Nordafrika verbreitet und verursachte schon für sich große Tälerüberschwemmungen; aber da in diesen Fremdlanden die unterirdischen Gewässer nicht dazukamen, so konnte die Überschwemmung oder die Flut keine solche Höhe erreichen wie eben in Asien, wo der Austritt der unterirdischen Gewässer den Hauptausschlag gab. Wenn aber jemand ganz sicher annehmen kann, daß fürs zweite in Asien zu dem stärksten Regen mehrere Hunderttausende von den gewaltigsten Springquellen kamen, von denen die kleinste in einer Minute zehn Millionen Kubikfuß Wassers auf die Oberfläche der Erde lieferte, so wird es wohl begreiflich, wie die Flut Noahs über Asien eine solche Höhe hatte erreichen können trotz des allseitigen und gleichzeitigen mächtigsten Abflusses. Von da aus konnte sie sich dann ja wohl in alle Weltgegenden mit der furchtbarsten Gewalt ergießen und jene diluvianischen Gebilde zuwege bringen, die noch die Gegenwart allerorts reichlichst aufweist, die aber jedoch nicht zu verwechseln sind mit jenen, welche von den periodischen Meereswechselungen herrühren. Die Hauptspuren der Noachischen Flut sind das vielfach vorkommende, auf ziemlichen Höhen rastende Stromgerölle, die hier und da vorkommenden versteinerten Knochen vornoachischer Tiere, wie auch die häufig vorkommenden Braunkohlenlager, dann auch die sichtlichen Abspülungen der Berge, daß sie nun ganz nackt dastehen. Alle anderen Gebilde gehören entweder den Meereswanderungen oder großen örtlichen Feuereruptionen an.
 
Aber schauen wir uns die Asozialen Hetzwerke an: Aufreger und Fakenews erhalten mehr Verbreitung als echte Nachrichten, der Ton ist aggressiv geworden. Also: Neue Technologien bieten immer neue Chancen, die Frage ist eben, wie man diese Chancen nutzt: Aufklärerisch oder antiaufklärerisch.

Ich bin überrascht, dass man diesen doch sehr tagespolitischesn Text stehen lässt.

Dennoch muss ich mein Gegengift streuen: Ich glaube, die Bedeutung der Sozialen Netzwerke und der Fake News wird gewaltig überschätzt bei der Ausbreitung populistischer Bewegungen.
Die wahren Ursachen werden weitaus tiefer liegen und gehen bis in die soziokönomische Geschichte.
 
Ich glaube, die Bedeutung der Sozialen Netzwerke und der Fake News wird gewaltig überschätzt bei der Ausbreitung populistischer Bewegungen.
Die wahren Ursachen werden weitaus tiefer liegen und gehen bis in die soziokönomische Geschichte.
Das ist, entgegen der Einleitung, kein Widerspruch zu meiner Ausführung.
 
Weil's gerade so schön ruhig ist, sei ein kleiner Abstecher in die Donaumonarchie gestattet. Der Musiklehrer Jakob Lorber (er war befreundet mit Anselm Hüttenbrenner und soll bei Paganini ein paar Unterrichtsstunden genommen haben) hörte anno 1840 eine innere Stimme, die ihn zum Schreiben aufforderte. Und Jakob Lorber begann zu schreiben, 25 Bücher und viele kleinere Schriften. Das dickste - "Das große Evangelium Johannes" - umfasst 10 Bände mit 5323 Seiten.
Hinter all den fantastischen Ausführungen spürt man immer wieder eine "aufklärerische" Motivation. Die biblischen Geschichte von der Sintflut wird da ausführlich auseinandergenommen. Selbstverständlich kann nicht die ganze Erde überschwemmt worden sein, geht ja gar nicht,

Es ist vielleicht auch eine typische und unbekümmerte Vermischung von Mythos und Logos in dieser Übergangszeit von der einen zur anderen geistigen Grundhaltung.
Einerseits wird Logos bemüht um den biblischen Mythos Sintflut zu widerlegen, und andererseits folgt man einer „innere[n] Stimme“, deren Wurzel sich ja nicht dem Logos erschließen kann.
Man kann ja nun in dieser Zeit neuerdings alles denken, nachdem, im Rahmen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, bisher nicht Gedachtes mit großem Erfolg gedacht wurde.

Doch eine grundlegende Lücke bleibt auch bei jenen die, nun dem Logos optimistisch zugewandt, meinen, man könne mit diesem die Welt restlos erklären.
Denn die Suche nach dem eigenen Selbst fruchtet, selbst bis heute, schwerlich in diesem Rahmen.

In dieser scharfen Soße des Übergangs gedeihen eben diese Vermischungen.
.. und die moderne Esoterik entsteht im 19. Jhd., mitsamt Okkultismus und der sogenannten Theosophie aus diesen.

Wär eine These. …
 
Noch ein paar Gedanken und Beobachtungen:

Seit dem späten 18. Jahrhundert war das traditionelle Weltbild, wonach die Erde und die Menschheit vor ungefähr 6000 Jahren in sechs Tagen von Gott erschaffen wurde, immer mehr ins Wanken gekommen. Georges-Louis Leclerc de Buffon schätzte in seinen "Epoques de la nature" (1778) das Alter der Erde auf immerhin 75.000 Jahre. Die Zahl wurde bald überboten. Und es häuften sich die Indizien, dass in vergangenen Zeiten die Erde von ganz anderen Lebewesen bewohnt war. Die Geschichte der Erde und der Menschheit war ja noch viel phantastischer, als man sich das im bisherigen, schön übersichtlichen Weltbild so vorgestellt hatte! Die Gelehrten stritten sich geraume Zeit darüber, ob sich die heutige Gestalt der Erde und ihrer Lebewesen ganz langsam in unvorstellbar langen Zeiträumen entwickelt hatte, oder ob es durch unvorstellbare Katastrophen immer wieder zu Neuanfängen gekommen war. Eine Weile hatte die Katastrophentheorie die Nase vorn: Pariser Akademiestreit – Wikipedia
Darwin ("On the Origin of Species", 1859) ging von einer langsamen Evolution aus, diese Ansicht setzte sich in den kommenden Jahrzehnten mehrheitlich durch. Das war so ungeführ um 1880.

Nun schließen sich lange Zeiträume und große Katastrophen nicht aus. Und was der Wissenschaft verwehrt ist, nämlich Zeitreisen in die Vergangenheit, um nachzusehen, wie das denn damals wirklich war, ist für die kreative Fantasie kein Hindernis. Madame Blavatsky setzt sich in ihrer "Geheimlehre" (1888) mit einigen damals kursierenden wissenschaftlichen Hypothesen auseinander. Wo diese in ihr Weltbild passen, werden sie eingebaut. Wo nicht, wird über die armselige Wissenschaft gespöttelt. Zumal diese bei vielen Fragen, z. B. "Seit wann gibt es Menschen?" passen musste oder zumindest keine einhellige Antwort geben konnte.

Madame Blavatsky konnte selbstverständlich ihrem neugierigen Publikum die richtigen Antworten liefern: Den physischen Menschen gibt es schon seit 18 Millionen Jahren, die heutigen Menschen hatten bereits vier "Wurzelrassen" als Vorgänger, darunter die "lemurische" und die "atlantische". Die fünfte Wurzelrasse ist die "arische". Und deren älteste Völker - die indischen Arier und die Ägypter - gibt es schon seit fast einer Million Jahre. Blavatsky stellt ihre Geheimlehre in bewussten Gegensatz "zur modernen Wissenschaft ..., ebenso wie zu landläufigen religiösen Dogmen". Dabei werden sowohl wissenschaftliche Hypothesen wie auch alte Mythen verschiedener Völker in beliebigster Weise uminterpretiert und zu einem monströsen neuen Weltbild zusammengefügt (Details später).

Nicholas Goodrick-Clarke* bringt es folgendermaßen auf den Punkt:
"Wie läßt sich die enthusiastische Aufnahme von Madame Blavatskys Ideen durch eine bedeutende Anzahl von Europäern und Amerikanern ab 1880 erklären? Die Theosophie bot eine anziehende Mischung aus alten religiösen Vorstellungen und neuen Konzepten, die den darwinistischen Theorien über Entwicklung und der modernen Wissenschaft entlehnt waren. Dieser Glaube besaß die Kraft, diejenigen zu trösten, die durch das Unglaubwürdigwerden der 'orthodoxen' Religionen, durch den rationalisierenden und entmystifizierenden Prozeß der Wissenschaft und durch die Bürde des rapiden sozialen und wirtschaftlichen Wandels im späten 19. Jahrhundert verunsichert worden waren."

Den Erfolg in Deutschland und Österreich begreift Goodrick-Clarke als "neuromantische Protestbewegung, wie sie im wilhelminischen Deutschland als Teil einer Lebensreform gekannt war. Diese Bewegung repräsentierte einen Versuch der Mittelschicht, den Schmerz der Wunden, die das moderne Leben mit seinen Großstädten und Industrien geschlagen hatte, zu lindern. Eine Vielzahl alternativer Lebensstile, wie z. B. Kräuterheilkunde und natürliche Medizin, Vegetarismus, Nudismus und sich selbstversorgende ländliche Kommunen, wurde von kleinen Gruppen getragen, die hofften, einen natürlicheren Lebensraum für sich zurückzuerobern."

Zu den Menschen, die an der Moderne litten, gehörte auch Guido List. Linderung versprach er sich von Ausflügen in die idyllische Natur und dem Schwelgen in längst vergangenen Zeiten. Ein Erfolg wurde sein Roman "Carnuntum" (1888), in dem heldenhafte Germanen die verhassten Römer in die Pfanne hauen, in der "Sonnwendnacht 375" - in bewusstem Gegensatz zu den historischen Quellen, die List selbstverständlich als Geschichtsfälschung "durchschaut" hatte.**

Die Methode, kraft der eigenen Fantasie die Vergangenheit zu "rekonstruieren", verfolgte List konsequent weiter. Sein Hass auf "Rom" beschränkte sich nicht auf das antike Rom, er zielte insbesondere auf das christliche Rom. Die Päpste waren schuld daran, dass die hochgeistige Literatur der alten Germanen, die in Runenbüchern niedergeschrieben war, vernichtet wurde. Sie waren schuld daran, dass die wissenschaftlichen Einrichtungen der Germanen geschlossen wurden und das germanische Schulwesen zum Erliegen kam:
"Die Halgadomschule wurde natürlich sofort geschlossen, aber durch keine neue christliche ersetzt, und so ward Deutschland mählich entschult, und eine Periode unglaublicher Verrohung und Verdummung unter dem segensspendenden Krummstab trat ein. Nach und nach erwuchsen - aber sehr spärlich - die Klosterschulen, welche nur in lateinischer Sprache unterrichteten, um neue Geistliche zu erziehen und das Entnationalisierungswerk zu fördern und - wenn möglich - zu vollenden."***​
Doch die germanischen Priester waren natürlich nicht dumm, sie trafen die nötigen Vorkehrungen, um ihr Wissen im Geheimen weiterzugeben. Sie gründeten Geheimgesellschaften (deren Erben in den Minnesänger- und Ritterorden, Femegerichten, Freimaurern und Rosenkreuzern zu finden seien) und entwickelten Codes. So wurde ihre Weisheit in codierter Form festgehalten, z. B. von den mittelalterlichen Heraldikern in Wappen und von den mittelalterlichen Maurern in Bauwerken. Und nun musste das Ganze nur noch von Guido List "entschlüsselt" zu werden, der sich Wappen oder spätgotisches Maßwerk anschaute und dann verkündete, was das alles zu bedeuten hatte. Ebenso "entschlüsselte" List die magische Bedeutung der Runen. Sein Antisemitismus hinderte List nicht, auch die Kabbala in sein Weltbild einzubauen. "Er behauptete, daß die alten Priesterkönige ihr Wissen während des 8. Jahrhunderts mündlich an die Rabbiner Kölns weitergegeben hatten, um ihr Überleben während der Zeit christlicher Unterdrückung zu sichern. Die Rabbis hätten dann diese Geheimnisse in den kabbalistischen Büchern niedergeschrieben, welche fälschlicherweise als jüdisch-mystische Tradition betrachtet würden." (Goodrick-Clarke, S. 60)

Noch eine kleine Kostprobe aus Lists politischen Utopien:
"In Hinkunft hat daher nicht mehr das papierene Befähigungszeugnis einer Mittel- oder Hochschule zur Erreichung von Stiftungsplätzen, Unterstützungen, maßgebender und gutbezahlter Stellen im Staatsdienste, an Gerichten, an Hochschulen usw. den Ausschlag zu geben, sondern das rassenkundliche Ergebnis über die Zugehörigkeit zur arischen Rasse deutschen Stammes des Bewerbers. Es müssen und werden Preise auf ario-germanische Reinzucht, Eheerleichterungen reinrassiger Brauptaare, und entsprechend andere, die Reinzucht erleichternde und fördernde Maßnahmen ausgeworfen und gewährt werden und Mischehen zwischen der Edelrasse und minderwertigen Rassen unter allen Umständen verhindert werden."****​


* Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz/Stuttgart 1997, S. 27
** Guido List, Adolf Hitler und Carnuntum - Festschrift Friedrich Brein
*** Von der Deutschen Wuotanspriesterschaft, Berlin/Zürich/Leipzig 1893
**** Die Armanenschaft der Ario-Germanen, Zweiter Teil, Leipzig/Berlin 1911
 
"Rassereinheit" war auch die fixe Idee des Adolf Joseph Lanz. Als junger Mensch trat er in ein Zisterzienserkloster ein. 1897 legte er sein Ordensgelübde ab, 1898 wurde er zum Priester geweiht, aber bereits 1899 verkrachte er sich mit dem Orden und trat wieder aus. Später gründete er dann einen eigenen Orden ("Ordo Novi Templi") als "arische" Vereinigung zur Stärkung des Rassebewusstseins. Besonders beschäftigte sich Lanz mit sexuellen Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Er war überzeugt, dass es in alter Zeit zu vielerlei fruchtbaren Kreuzungen zwischen Mensch und Tier gekommen war. Die "niederen" (also nicht blond-blauäugigen) "Rassen" seien aus solchen Verbindungen hervorgegangen, und die höchste Pflicht der "Arier" sei, sich von Vermischungen mit solchen Wesen (die er als "Äfflinge", "Schrättlinge" oder "Tschandalen" bezeichnete) reinzuhalten. Seine krude religiös-rassistische Lehre nannte er "Theozoologie", später "Ariosophie".

Statt Wotan bevorzugte er die Trinität "Frohdi", "Frauja" und "Teuto". Ein Gebetbuch aus dem Jahr 1926, eine haarsträubende Persiflage der alttestamentlichen Psalmen, heißt "Das Buch der Psalmen teutsch, das Gebetbuch der Ariosophen, Rassenmystiker und Antisimiten" (Tatsächlich denkt Lanz hier an lat. simia = Affe). Lanz bezeichnet dieses Machwerk allen Ernstes als "Übersetzung" und Ergebnis "streng wissenschaftlicher Arbeit" und behauptet andererseits, "daß die modernen (und auch die lutherische) Uebersetzung nur zu stark jüdeln".
Kostproben:
- Psalm 7 ("Herr, mein Gott, ich flüchte mich zu dir; hilf mir vor allen Verfolgern und rette mich...") beginnt bei Lanz so: "Frauja, Gott, erbarmungsreich, / Rett mich vor der Äfflingsmeute..."
- Psalm 8 ("Herr, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde...") wird zu "Teuto, wie ist doch dein Volk göttergleich, / Über die anderen Völker so reich"
- Psalm 29 ("Bringt dar dem Herrn, ihr Himmlischen, bringt dar dem Herrn Ehre und Macht!") wird gar zu "Bringt Frauja Opfer dar, ihr Göttersöhne, / Auf, auf und bringt Ihm dar die Schrättlingskinder..."

Mit dieser "Methode" stülpte Lanz der ganzen Bibel seine eigene Ideologie über. Auch Jesus soll nichts anderes als Rassenhygiene gepredigt haben.

"Aus vielen Stellen der Bibel geht hervor, daß der europäische, weiße Mensch, sagen wir kurz der Germane, der Himmelssohn sei. ... Die Urheimat des weißen Menschen ist Germanien, von dorther kommen seit der Urzeit die Könige und Helden. Deutschland ist die Heimat des eigentlichen Menschen. Ehedem wohnten außer Deutschland nur Affen- und Tiermenschen." *​

Und ebenso waren in Lanz' Fantasiewelt auch Bischof Wulfila, Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen und viele andere Persönlichkeiten ariosophische Rassenfanatiker gewesen. Auch Jakob Lorber wurde von ihm eingemeindet: Jakob Lorber, das grösste ariosophische Medium der Neuzeit von J. Lanz v. Liebenfels - BSB-Katalog
Kreative Fantasie ließ Lanz auch bezüglich seiner eigenen Biographie walten. Geboren wurde er am 19. Juli 1874 in Wien-Penzing als Sohn des Schulmeisters Johann Lanz und dessen Frau Katharina geb. Hoffenreich. Lanz behauptete dagegen, am 1. Mai 1872 in Messina als Sohn des Barons Johann Lancz de Liebenfels und Katharina geb. Skala zur Welt gekommen zu sein. Er nannte sich fortan "Jörg Lanz von Liebenfels", für ihn standen Adel und Rassereinheit in engem Zusammenhang. (Auch Guido List hatte eines Tages behauptet, von adligen Vorfahren abzustammen und nannte sich von da an "Guido von List").

* Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron. Eine Einführung in die älteste und neueste Weltanschauung und eine Rechtfertigung des Fürstentums und des Adels. Wien/Leipzig/Budapest 1905
 
(Details später).

Das komplette Zitat aus Blavatskys "Geheimlehre":

"Was die Entwicklung der Menschheit anbelangt, so stellt die Geheimlehre drei neue Sätze auf, die in unmittelbarem Gegensatze zur modernen Wissenschaft stehen, ebenso wohl wie zu landläufigen religiösen Dogmen. Sie lehrt: a) die gleichzeitige Entwicklung von sieben menschlichen Gruppen auf sieben verschiedenen Teilen unserer Kugel; b) die Hervorbringung des astralen vor dem physischen Körper, indem der erstere ein Modell für den letzteren ist; und c) daß der Mensch, in dieser Runde, allen Säugetieren - einschließlich der menschenähnlichen Affen - vorausging."​

(Dass Mensch und Affe von demselben Ahnen abstammen könnten, hielt Blavatsky, wie viele ihrer Zeitgenossen, für ganz und gar widersinnig bzw. unmöglich.)

Blavatskys erste Wurzelrasse war noch nicht materiell, sondern "ätherisch", "geschlechtslos und gemütslos", sprachlos, unverletzbar und unsterblich. Sie starb demnach nicht aus, sondern "verschwand in der zweiten Rasse ... Es war eine allgemeine Umwandlung."

Die zweite Wurzelrasse, "zusammengesetzt aus den verschiedenartigsten, riesigen halbmenschlichen Ungeheuern - den ersten Versuchen der materiellen Natur, menschliche Körper zu bilden", war nicht mehr unverletzbar, aber immer noch geschlechtslos. Sie hatte eine "Tonsprache", "nämlich gesangartige Töne, die nur aus Vokalen zusammengesetzt waren." Uiuiui.

Die dritte Wurzelrasse (die Lemurier) war ursprünglich androgyn und pflanzte sich durch Eierlegen fort, kam dann aber auf den Trichter, sich in Männlein und Weiblein zu spezifizieren. Sie hatte am Anfang "eine Art von Sprache, die nur ein geringer Fortschritt über die verschiedenen Töne in der Natur war, über den Schrei der riesigen Insekten und der ersten Tiere...", also eigentlich doch noch keine richtige Sprache, jedenfalls "noch nichts Besseres als eine versuchsweise Anstrengung." Immerhin wurden bereits Städte gebaut, und die Zivilisation begann. "Nach ihrer Trennung in Geschlechter und dem vollen Erwachen ihrer Gemüter" entwickelten sie die "einsilbige Sprache" (die Mutter der Sprachen, "welche bei den gelben Rassen in Gebrauch sind"), vorher waren sie noch mehr oder weniger auf Telepathie angewiesen. Der untergegangene Kontinent Lemuria befand sich im Indischen Ozean.

Die vierte Wurzelrasse (die Atlantier) stellte den Höhepunkt "grober Stofflichkeit" dar, sie waren in ihren Glanzzeiten "gewaltige Riesen von göttlicher Stärke und Schönheit und Verwahrer aller Geheimnisse von Himmel und Erde." Auch ihre technischen Fähigkeiten waren beachtlich, so flogen sie bereits in Flugzeugen herum. Ihr Kontinent, Atlantis, ging vor 850.000 Jahren unter.

Die fünfte Wurzelrasse ist nun die "arische", diese ist in Europa zu Hause. (Die sechste und die siebte kommen erst in der Zukunft, diese werden dann wieder "aus ihren Banden der Materie ... herauswachsen".)

Außer den Völkern, die der arischen Wurzelrasse angehören, existieren derzeit noch die degenerierten Nachkommen der dritten (lemurischen) und vierten (atlantischen) Wurzelrassen:
"Denn es giebt, oder gab vielmehr noch vor wenigen Jahren, Abkömmlinge dieser halbtierischen Stämme oder Rassen, sowohl von entferntem lemurischen als auch lemuro-atlantischen Ursprung. Die Welt kennt sie als Tasmanier (jetzt erloschen), Australier, Andamaneninsulaner u. s. w." - "Die Mehrzahl der Menschheit gehört der siebenten Unterrasse der vierten Wurzelrasse an - die oben erwähnten Chinesen und ihre Abzweigungen und Schösslinge (Malayen, Mongolen, Tibetaner, Finnen, und selbst die Eskimos sind alle Überbleibsel dieser letzten Abzweigung)".​
Die bereits ausgestorbenen Bewohner Tasmaniens - "halbtierische Geschöpfe" - waren "die letzten geradlinigen Abkömmlinge der erwähnten halbtierischen Lemurier der letzten Zeit. Es giebt jedoch beträchtliche Mengen gemischter lemuro-atlantischer Völkerschaften, die durch verschiedene Kreuzungen, mit solchen halbmenschlichen Stämmen entstanden waren", doch auch deren Schicksal ist besiegelt:
"Rothäute, Eskimos, Papuas, Australier, Polynesier u. s. w. - sterben alle aus. Jene, welche begreifen, daß eine jede Wurzelrasse durch eine Stufenleiter von sieben Unterrassen mit je sieben Zweigen u.s.w. hindurchläuft, werden das 'warum“ verstehen. Die Flutwelle der inkarnierten Egos ist über sie hinausgerollt, um in entwickelteren und weniger greisenhaften Stämmen Erfahrungen zu ernten; und ihre Verlöschen ist daher eine karmische Notwendigkeit."​
Allerdings haben die Abkömmlinge der früheren Wurzelrassen nichts von den zivilisatorischen Errungenschaften ihrer Vorfahren geerbt, denn:
"Es gab in jener Zeit civilisierte Menschen und Wilde gerade so wie jetzt. Die Entwicklung vollbrachte ihr Vervollkommnungswerk an den ersteren, und Karma - sein Vernichtungswerk an den letzteren. Die Australier und ihresgleichen sind die Abkömmlinge von jenen, welche, anstatt den von den 'Flammen' in sie gesenkten Funken zu beleben, denselben durch lange Generationen der Bestialität verlöschten. Hingegen konnten die ârischen Nationen ihre Abstammung durch die Atlantier von den geistigeren Rassen der Lemurier herleiten, in denen die 'Söhne der Weisheit' sich persönlich inkarniert hatten."​

Wiki:
Der amerikanische Religionswissenschaftler James A. Santucci dagegen vertritt die Ansicht, die theosophische Wurzelrassenlehre könne nicht als rassistisch bezeichnet werden: Blavatsky betone ja den gemeinsamen, göttlichen Ursprung aller Menschen, ihr gemeinsames spirituelles Ziel und ihre wechselseitige Verbindung durch das Prinzip der Reinkarnation; sie habe den Begriff der Rasse, der heute anstößig wirke, nur benutzt, um ihre Lehre von der spirituellen, zyklischen Entwicklung der Menschheit an den wissenschaftlichen Diskurs ihrer Gegenwart anschlussfähig zu machen.
Die Zitate zu Australiern etc. suche ich bei Santucci vergebens.
 
Wenn man sich die (danach weiter) anschwellenden Kuriositätensammlungen seit dem 19. Jahrhundert anschaut, stellt sich auch die Frage:

Sind es "so viele" im Vergleich, oder ist das auch eine quantitativ/qualitative Frage von Verbreitungsmöglichkeiten, Verbreitungsgeschwindigkeiten, Adressaten/Umfang des potenziellen "Publikums"?

Platt gesagt zielt die Frage auf den Einfluss der technischen Entwicklung der Druck- und Papierindustrie vom 19. Jahrhundert bis hin zum Internet x.y. Sind es mehr Kuriositäten, Verschwörungen, Sekten, etc. oder liegt das an gesteigerten Wahrnehmungsmöglichkeiten?
 
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