Es hat gewiss Leute in der ukrainischen Oberschicht gegeben, die sich im 18. und 19. Jahrhundert als „Kleinrussen“ bezeichnet haben. Das war aber eine kleine, z.T. auch russifizierte Minderheit. Vielleicht war das auch nicht ihre einzige Selbstbezeichnung sondern eine, die mit anderen Identitäten koexistierte (etwa „Russynen“). Und selbst in diesen begrenzten Zirkeln ist der Begriff schnell aus der Mode gekommen, als er vom großrussischen Chauvinismus vereinnahmt wurde.
Es mag ja sein, dass das aus der Mode gekommen ist, dennoch wäre es schlicht eine Umdeutung ex post wenn man das unter den Tisch fallen ließe.
Freilich, vor allem im 18. Jahrhundert, wird "großrussisch" oder "kleinrussisch" für weite Teile der einfachen Bevölkerung unbedeutender gewesen sein, als orthodox oder katholisch zu sein.
Und sicherlichredet man hier über eine von mehreren Identitäten, die parallel koexistieren konnten. Allerdings das ist ja heute auch nicht anders, mit dem Unterschied vielleicht, dass eine nationale Identität heute vielfach eine größere Rolle spielt als eine Regionale.
Gerade aus diesem Umstand heraus wäre es allerdings ziemlich ahistorisch den Bewohnern des Gebiets zu unterstellen, dass da vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein dezidiert "ukrainisches" Selbstverständnis dominiert hätte.
Wenn wir nun jemanden, der im 18. Jhd. lebte und sich selbst als „Kleinrusse“ sah, heute als „Ukrainer“ bezeichnen, schreiben wir ihm doch nicht eine andere Identität zu. Seine Identität bleibt unverändert ukrainisch.
Natürlich schreiben wir ihm dann eine andere Identität zu, weil das Konzept einer ukrainischen Nation und vor allem auch dasjenige des Vorrangs einer nationalen Identität vor dem 19. Jahrhundert als raumgreifendes Phänomen nicht vorhanden war.
Wenn sich jemand im 18. Jahrhundert als "Kleinrusse" bezeichnete, war das ja unter den damaligen Gesichtspunkten nicht die Aneignung eines nationalen Konzepts sondern eine regionale Identität oder allenfalls die Negation anderer nationaler Ansprüche in dem dadurch postuliert wurde den "Russen" in bestimmten Dingen näher zu stehen, als den Polen, respektive Katholiken.
"Ukrainer" oder "Ukrainisch" hingegen ist von Anfang an ein nationales Konzept, dass eine andere politische Sphäre anspricht und in diesem Sinne auch einen reinen Abgrenzungsbegriff darstellt.
Diese Abgrenzung ist etwas, auf dass die heutigen Ukrainer großen Wert legen und dass ist angesichts russisch-imperialistischer Großmachtsphantasien in der Sache auch nur zu verstänlich.
Es macht allerdings wenig Sinn, dieses Abgrenzungskonzept auch Vorfahren und eine früheren Gesellschaft zuzuschreiben, die ein solches Abgrenzungsbedürfniss eben noch nicht hatten, sondern sich auf anderen Ebene definierten und abgrenzten oder auch anlehnten um sich von anderen Konzepten (Polen) abzugrenzen.
Es geht hier nur um die konventionelle Benennung von Volksgruppen bzw. Sprachen unter Berücksichtigung a) des kolonialen Kontexts (17. bis 20. Jhd) in dem die Begriffe „Kleinrussland“, „Kleinrussisch“ usw. gebraucht wurden, b) des aktuellen Kriegszustandes zwischen der Ukraine und der ehemaligen Kolonialmacht Russland und c) des Selbstverständnisses der heutigen Ukrainer, die sich schon lange nicht mehr „Ruthener“ oder „Kleinrussen“ nennen.
1. Der Umstand, dass bestimmte Begriffe in kolonialen Kontexten gebraucht wurden allein, sagt uns nichts über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit dieser Begrifflichkeiten.
2. Der Umstand, dass bestimmte Begriffe in kolonialen Kontexten gebraucht wurden, ist an und für sich relativ bedeutungslos, sofern es sich nicht um Neuschöpfungen handelt um irgendelche kolonialen Konstrukte zu rechtfertigen, sondern dabei nur Begriffe aufgegriffen wurden, die ohnehin bereits in der Welt waren und das ist hier der Fall.
3. Der Kriegszustand zwischen der Ukraine und Russland spielt hierbei so überhaupt keine Rolle. Der Umstand dieses Krieges als aktuelles Ereignis ändert an der Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit der Verwendung bestimmter Begriffe um bestimmte historische Ereignisse oder Sachverhalte zu beschreiben, absolut nichts. Die Geschichte und ihre Interpretation als Disziplin hat sich damit zu befassen sich so nah als möglich den damaligen Umständen, so weit sie sich rekonstruieren lassen, beschreibend anzunähern.
Ihre Aufgabe ist es nicht aus aktualistischen politischen Gründen diesen oder jenen Nationalismus zu bauchpinseln, in dem bestimmte Kategorien dazugedichtet, weggenommen oder umgedeutet werden, dass ist Aufgabe der jeweiligen Propaganda der beteiligten Seiten.
4. Das Selbstverständnis der heutigen Ukrainerinnen und Ukrainer spielt allerdings im Bezug auf historische Themen, die sich auf Zeiträume beziehen, die Jahrhunderte lang zurückliegen keine Rolle.
Natürlich definieren sich die heutigen Ukrainer nicht mehr als "Kleinrussen" etc. und sie haben natürlich jedes Recht der Welt sich anders zu definieren.
Es ist aber niemandem geholfen, wenn aus diesem verständlichen Abgrenzungsbedürfnis heraus die heutigen Identitätskonzepte in eine Zeit rückdatiert werden, mit der sie historisch nichts zu tun haben.
"Ukrainer"/"Ukrainisch" ist ein nationales/nationalistisches Konzept, der Begriff "Kleinrusse/Kleinrussisch" im 18. Jahrhundert gehört nicht in diese Kategorie, sondern war eine vollkommen andere Form der Identitätskonstruktion (weswegen russische Ausdeutungen, dass dies der Beleg für nationale Zusammengehörigkeit wäre, vollkommener Unsinn ist, es handelt sich im wesentlichen um ein vornationales Identitätskonstrukt).
Die litauische (ursprünglich heidnische, später mehrheitlich katholische) Aristokratie bildete nur einen geringen Teil der Bevölkerung des Großfürstentums Litauen. Die Mehrheit sprach „ruthenisch“ (also altukrainisch und altbelarussisch) und war orthodox.
Nichts destoweniger kooperierte der litauische Adel allerdings recht stark mit der polnischsprachigen, katholischen Oberschicht, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Durchsetzung des Katholizismus und das Zustandebringen der Brester Kirchenunion und die zunehmende Abwertung der orthodoxen Bevölkerungsteile in der Sozialhierarchie des Polnisch-Litauischen Reiches.
Ein Umstand, der gerade die katholischen Litauer bei den orthodoxen Bevölkerungsteilen eher unbeliebt gemacht und der eher für Entfremdung, als für Anlehnung gesorgt haben dürfte.
Das sich vor dem 16. Jahrhundert viele Ukrainer als Untertanen der litauischen Krone definierten, dass mag sein.
Allerdings, nachdem die Ukrainischen Gebiete innerhalb des polnisch-litauischen "Doppelstaats" von der litauischen an die polnische Korne übergegangen waren und die katholischen Litauer inklusive des litauischen Adels letztendlich die polnisch-katholische Herrschaft abstützten, wird das kaum weiterhin der Fall gewesen sein.[/QUOTE]
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