Sprachwandel

Sepiola

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Aus einer anderen Diskussion:

Die italienische Sprache hat sich erst im Verlauf des Mittelalters von ihren lateinischen Wurzeln vollständig getrennt:

Italienische Sprache – Wikipedia

Diese Behauptung finde ich im Wiki-Artikel nicht, sie ist auch vollkommen unsinnig. Zu keinem Zeitpunkt hat sich die italienische oder sonst eine romanische Sprache von ihren lateinischen Wurzeln "vollständig getrennt".

Die Bewohner der italischen Halbinsel mögen in der Regel, sofern nicht hochgebildet zwar nicht in der Lage gewesen sein das klassische Latein selbst zu reproduzieren oder zu sprechen, sehr wohl aber es in groben Zügen zu verstehen.
Ich weiß nicht, wie das Verhältnis des Altfranzösischen, des Okzitanischen, Katalanischen und der übrigen iberischen Dialekte zum klassischen Latein ist, aber hier wird man vergleichbares vermuten können, würde ich meinen.
D.h. mindestens bis ins Hochmittelalter hinein wird die Bevölkerung des westlichen Mittelmeerraums in Teilen sehr wohl in der Lage gwesen sein ganz gut zu verstehen, was ihre Priester da auf Latein aus der Bibel vorlasen und sofern sich jemand fand, der selbst lesen konnte, ist auch durchaus denkbar, dass eine Gemeinschaft ohne Priester die Bibel auf Latein gut genug verstand, um sie interpretieeren zu können.

Bereits um 800 wurde die Diskrepanz zwischen Latein und der romanischen Volkssprache als Problem erkannt, weshalb die Synode von Tours bestimmte, dass auf Deutsch oder in der lateinischen Volkssprache ("in rusticam Romanam linguam") gepredigt werden solle, damit die Predigt für alle verständlich sei.

Dass noch im Hochmittelalter Latein von Sprechern romanischer Sprachen ohne weiteres verstanden wurde, halte ich für eine optimistische Vorstellung.
 
Bereits um 800 wurde die Diskrepanz zwischen Latein und der romanischen Volkssprache als Problem erkannt, weshalb die Synode von Tours bestimmte, dass auf Deutsch oder in der lateinischen Volkssprache ("in rusticam Romanam linguam") gepredigt werden solle, damit die Predigt für alle verständlich sei.

ja und nein - für die Konzilien in Tours und Reims ist das richtig, also für die nördliche Hälfte des heutigen Frankreichs, aber für die südliche Hälfte stimmt das nicht:

Im 9. Jhdt. gab es in Tours und Reims Konzile, nach dem die Priester in lingua rustica romana (in der verfeinfachten (oder ländlichen) römischen (oder romanischen) Sprache) predigten sollten, so dass man davon ausgehen kann, dass sich das gesprochene Altfranzösische in Nordfrankreich schon so weit vom Lateinischen entfernt hatte, dass es nicht mehr verstanden wurde. Im Süden Frankreichs (Konzile von Châlons-sur-Saone und Arles) sollte es hingegen Latein sein. Selbst heute ist Okzitanisch m. E. deutlich archaischer (näher am Latein) als Französisch.

https://fr.wikipedia.org/wiki/Serments_de_Strasbourg#Donn.C3.A9es_externes
 
Diese Behauptung finde ich im Wiki-Artikel nicht, sie ist auch vollkommen unsinnig. Zu keinem Zeitpunkt hat sich die italienische oder sonst eine romanische Sprache von ihren lateinischen Wurzeln "vollständig getrennt".

War vielleicht etwas ungeschickt ausgedrückt. Ich versuche es mal anders:

Das Altitalienische (deswegen der Wiki-Artikel), als sich gegen das Vulgärlatein und die verwandten italoromanischen Dialekte wirklich fassbar abgrenzende Sprache, ist erst im 13. Jahrhundert fassbar, wohingegen die zuvor in diesem Raum kursierenden Dialekte noch relativ starke Verbindungen zum Latein aufzuweisen scheinen.

Dass noch im Hochmittelalter Latein von Sprechern romanischer Sprachen ohne weiteres verstanden wurde, halte ich für eine optimistische Vorstellung.

Ich denke, da die Überschneidungen des lateinischen Wortschatzes auch mit dem modernen Italienisch noch sehr weitreichend sind, dürfte, mindestens was die italoromanischen Dialekte, möglicherweise auch das Altitalienische angeht, ein großer Teil der Begrifflichkeiten innerhalb lateinischer Texte weitgehend verständlich gewsen sein.
Schwierigkeiten, dürfte lediglich der unsystematische lateinische Satzbau und das Verhältnis der einzelnen Satzbestandteile zueinander bereitet haben, so wie die unteerschiedlichen Gewohneiten im Lateinischen diese Verhältnisse häufig über Suffixe auszudrücken, während diese später entfielen und eigenständigen Ausdrücken und der systematischen Satzstruktur wichen.
Das allerdings war ja nun ein Entwicklungsprozess, der sich nicht über Nacht abspielte.

Ich halte es für durchaus vorstellbar, das Latein, sagen wir um 1.000 herum in Italien noch gut genug verstanden wurde, dass es schwer gefallen sein dürfte in Texte gänzlich andere Dinge hinein zu erfinden und der Bevölkerung jeden Mist als biblisch verkaufen zu können (darum ging es im anderen Faden ja), was sich nördlich der Alpen wo auch der Wortschatz kaum Überschneidungen mit dem Lateinischen aufwies anders verhalten haben mag.
Ich möchte nicht behaupten, dass im Zweifel alle Fein- und Einzelheiten verstanden worden wären oder richtig erfasst worden wären.
 
Ich würde es heute nicht mehr so starr abgrenzen, sondern sowohl in historischer als auch in gleichzeitiger Hinsicht von Kontinuen sprechen, wo dies möglich ist.

Abgrenzungen werden dann zu Konventionen, die je nach betrachtetem Problem anders gesetzt werden können. Anders betrachtet führt es nur zu Widersprüchen.

(Am Rande bemerkt: Problematisch sind Grenzen oft auch da, wo sie 'klar' erscheinen wie zwischen Dänisch und Niederdeutsch: Die Grenze des der gegenseitigen Verständlichkeit ist dort fließend. Und zwischen Slawisch und Deutsch gab es eine Zone der Durchmischung bei klarer Abgrenzung der Sprachen.)

Praktisches Beispiele:

1- geographisch: Wie soll das Westfälische abgegrenzt werden? Das machen schon die Isoglossen der Karte des LWL klar, die zudem nur NRW betrachtet. Gerade im Westen reicht das Westfälische bis zur Grenze des Niedersächsischen Einheitsplurals, also bis weit in die Niederlande.

https://www.lwl.org/komuna/pdf/mundartregionen_westfalens.pdf

2- historisch: Die zweite Lautverschiebung dauerte Jahrhunderte. Ab wann reden wir von Deutsch, bis wann von Germanisch?
 
Das Altitalienische (deswegen der Wiki-Artikel), als sich gegen das Vulgärlatein und die verwandten italoromanischen Dialekte wirklich fassbar abgrenzende Sprache, ist erst im 13. Jahrhundert fassbar, wohingegen die zuvor in diesem Raum kursierenden Dialekte noch relativ starke Verbindungen zum Latein aufzuweisen scheinen.

Sprachgebrauch im 11. Jhdt. (Kein Tippfehler!):

[Sisinius]
Fili de le pute, traite
Gosmari, Albertel traite
Falite dereto co lo palo
Carvoncelle

[Clemens]
Duritiam cordis vestris
saxa traere meruistis

Quelle: Fresco in San Clemente al Laterano

Sisinnius spricht seine Gefolgsleute im Vernacular - italienisch - an, Clemens dagegen spricht Latein (allerdings grammmtisch inkorrekt). Worauf es mir aber ankommt ist, dass dieses Fresko aus dem 11. Jhdt. den Ausdruck Fili de pute verwendet.
Also: o tempora o mores schon im 11. Jhdt.
 
ja und nein - für die Konzilien in Tours und Reims ist das richtig, also für die nördliche Hälfte des heutigen Frankreichs, aber für die südliche Hälfte stimmt das nicht:
Dass in Arles noch klassisches Latein verstanden worden sein soll, glaube ich unbesehen nicht. Ich sehe in den Beschlüssen der Synode von Arles auch keine Bestimmung, in welcher Sprache gepredigt werden soll.
 
Ich denke, da die Überschneidungen des lateinischen Wortschatzes auch mit dem modernen Italienisch noch sehr weitreichend sind, dürfte, mindestens was die italoromanischen Dialekte, möglicherweise auch das Altitalienische angeht, ein großer Teil der Begrifflichkeiten innerhalb lateinischer Texte weitgehend verständlich gewsen sein.
[...]
Ich möchte nicht behaupten, dass im Zweifel alle Fein- und Einzelheiten verstanden worden wären oder richtig erfasst worden wären.

Ja, ob das dann reichte, "dass eine Gemeinschaft ohne Priester die Bibel auf Latein gut genug verstand, um sie interpretieren zu können"?

Hier ein kleiner Textausschnitt aus der Bibel; die Sprache ist Neuhochdeutsch, die meisten Wörter sind identisch mit der Gegenwartssprache. Bist Du ohne zusätzliche Hilfen in der Lage, den Text zu "interpretieren", d. h. in eigenen Worten wiederzugeben?

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Dass in Arles noch klassisches Latein verstanden worden sein soll, glaube ich unbesehen nicht. Ich sehe in den Beschlüssen der Synode von Arles auch keine Bestimmung, in welcher Sprache gepredigt werden soll.

Den Konzilstext selber habe ich nicht gelesen und ist leider nicht im Wiki-Artikel verlinkt (auf die Schnelle konnte ich den Text auch im Internet nicht finden).

Ich habe mich da auf den oben verlinkten Artikel in der Wiki bezogen:

Les évêques se réunissent à Mayence et ils demandent aux prêtres de prêcher de façon que le peuple comprenne, c'est-à-dire en germanique, cependant qu'à Arles et à Chalon-sur-Saône où ils se réunissent également, leurs recommandations sont au contraire plus générales puisqu'elles encouragent l'utilisation du latin, d'un latin plus simple certes. Ce qui signifie globalement que la compréhension du latin ne posait guère de problèmes dans les futurs pays de langue d'oc.​

Serments de Strasbourg — Wikipédia

Ob und wie weit die Angaben in der Wiki hier zuverlässig sind, vermag ich nicht einzuschätzen.
 
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