Wann wäre deiner Meinung nach der richtige Zeitpunk gekommen, die eigenen Rechte zu verteidigen?
Z.B. beim ersten Balkankrieg. An dieser Stelle möchte ich Konrad Canis ausführlich (ich fasse auch z.T. zusammen) zitieren:
"Wien stand allein, unter den Großmächten wie unter den Balkanstaaten, Berchtold wusste,
sich nicht einmal auf Deutschland verlassen zu können. Dagegen gingen die
Ententemächte wohlabgestimmt und geschlossen vor. Um die Rivalen stillzustellen richtete als erstes Poincaré eine Demarche an die Großmächte, in der Berchtolds Vorschläge aufnahm: den Krieg zu verhüten, ihn andernfalls zu lokalisieren und im Einvernehmen vorzugehen. Russland und Österreich sollten die Balkanstaaten zum Frieden aufrufen und andernfalls auf den status quo verpflichten. Während Paris auf diese Weise Wien Kooperationsbereitschaft signalisierte, nahm sich London Berlin vor. Des naiven Annäherungswillen des Rivalen gewiss, ließ Grey auf einmal gegenüber dem Botschaftsrat Richard von Kühlmann, der die Geschäfte führte, eine Bereitschaft, sich zu verständigen, erkennen, die alle bisherigen Schritte weit übertraf. Kühlmann sah sich hochgemut als Wegbereiter des Durchbruchs. In der deutschen Botschaft und in Berlin glaubte man, England könnte von Entente nach Deutschland abschwenken. Das war eine Fehleinschätzung. Für Grey hatte die Entente absolute Priorität und es ging darum, Berlin und Wien ruhigzustellen und in Sicherheit zu wiegen, um Russland den Weg zu ebnen. Ich war lange Zeit auch der Ansicht, dass die Deutschen und die Briten gemeinsam einen Weltkrieg auf dem Balkan verhindert haben, aber Canis deutet (sehr überzeugend) etwas anderes an.
Im Hintergrund hielt Sasonow die Fäden in der Hand, um dem nahen Konflikt auf dem Balkan freien Raum zu geben. Sasonow manipulierte hierzu London, Berlin und Wien. Mensdorff meldete nach einem Treffen mit Sasonow aus London die Erkenntnis, diesem bedeute die Kooperation mit Berchtold den einzigen Hoffnungsstrahl für die Zukunft. Tschirschky drängte Berchtold in Wien inständig, bei einem Kriegsausbruch an Desinteresse, Lokalisierung und territorialem Status quo festzuhalten. Österreich würde sonst als Störenfried dastehen. "Wir sollen uns nicht mucken", hielt der Minister verärgert fest. Er konnte nicht mehr im Zweifel sein, die Lokalisierungsforderung der übrigen Großmächte zielte darauf,
Wien zum Stillstand zu zwingen. Berchtold hatte also erkannt, was wirklich gespielt wurde, in Berlin erkannte man das nicht. Berchtold wusste, dass er mit Stillsitzen nur die Kriegstreiber ermunterte, allein (ohne Deutschland) blieb ihm nur, hilflos zu erkennen, dass er folgen musste. Das meine ich z.B., wenn Deutschland hätte stärker hätte vorpreschen müssen, mit Österreich gemeinsam. Man wusste doch schon länger, was für ein Spiel die Entente trieb, aber man klammerte sich an vergebliche Hoffnungen, mit England eine Übereinkunft erreichen zu können.
Das ganze Schauspiel wurde auf die Spitze getrieben, indem die Großmächte kurz vor Kriegsausbruch in einer gemeinsamen Note an die Balkanstaaten zum Frieden aufzufordern und Gebietsänderungen eine Absage erteilten. Davon gebunden sehen musste sich allein Österreich-Ungarn. Mit der Zusage der Neutralität sollte er den Balkanstaaten einen Freibrief für die Aggression geben, klagte Berchtold. Natürlich sahen die Balkanstaaten die Teilnahme Russlands an der Demarche als eine Finte an, die sie nicht ernstzunehmen brauchten. Selbstverständlich war der erste Balkankrieg dann schneller entschieden, als alle erwartet hatten, dennoch zeigte sich dass die Abstimmung zwischen der Entente reibungslos funktionierte, die des Zweibundes jedoch nicht. Die deutsche Politik war hier nicht konsequent. Man setzte auf den letzten verbliebenen Bündnispartner Österreich-Ungarn, unterstützte diesen aber oftmals nicht. Die Entente setzte beim Zweibund an der Schwachstelle, bei Österreich-Ungarn an und versuchte Deutschland über diesen Weg zu schwächen. Als Deutschland dann im Juli 1914 ernst machte und Österreich tatsächlich unterstütze, war es zu spät: Serbien hatte sich fast verdoppelt und band erhebliche Truppenteile Österreichs, Rumänien hatte sich längst dem Bündnis entfernt, usw. Die Rivalen des Zweibundes hat ihren Höhepunkt und die stärkst mögliche Koalition gegen diesen erreicht.
(Canis, Konrad - Die bedrängte Großmacht S. 396 ff.)
Ich will damit sagen, die deutsche Führung beschäftigte sich mehr, was hätte sein können, was wünschenswert wäre (Übereinkunft mit England) als mit dem zu arbeiten, was man hatte (Österreich-Ungarn) und aus dem Zweibund rauszuholen, was noch ginge, ihn möglichst zu stärken, denn die beiden Kaiserreiche waren immer noch ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher und militärischer Block mit dem Vorteil der inneren Linie. Was mit der richtigen Abstimmung und Stärkung des Bündnispartners hätte durchaus abschreckend wirken können. Die deutsche Armee allein besaß ja durch ihren Ruf allein schon ein gewisses Abschreckungspotential. Frankreich glaubte ja Russland, das ganze Empire, am besten die ganze Welt auf seiner Seite zu haben, um mit Deutschland fertigzuwerden (was ja nicht ganz falsch war).
Ich hoffe, ich konnte es damit etwas besser präzesieren, sehe aber ein, dass ich gerade nicht die Sternstunde meines Schreibens erreicht habe und es nicht so gut erklären kann, worauf ich eigentlich hinaus möchte.
Ich stimme dir auch bei allen genannten Punkten zu, sei es die Liman-von-Sanders-Krise, Marokko usw. Wie gesagt, das Verhalten der Entente will ich in keiner Weise rechtfertigen, nur darüber diskutieren, ob Deutschland hier nicht etwas cleverer darauf hätte reagieren können.
Ich gehe davon aus, das dir die Implikationen des Schlieffenplans bekannt sind.
Ja, mir ist bewusst, dass man in Deutschland glaubte, einen Krieg nur mit dem Schlieffenplan überstehen zu können. Aber wir waren ja schon an dem Punkt, dass Deutschland sich eben nicht auf einen Krieg einlässt und dadurch auch der Schlieffenplan hinfällig wird. Da komme ich zum Ultimatum. Natürlich stimme ich dir auch bzgl. Serbien und Russland zu, aber Wilhelm II. hatte es selbst schon erkannt, der diplomatische Sieg für Österreich war da, für ihn war es genug, es bedurfte keines Krieges. Natürlich wollte Russland die Eskalation (anderseits z.T. auch lieber erst 1917). Aber die deutsche Seite hätte ja sagen können: Wir machen bei diesem Spiel nicht mit, wir lassen uns diesen Krieg nicht aufdrängen und das wäre dann wieder ein Zeitpunkt gewesen, an dem ich wiederum Zurückhaltung für angebrachter gehalten hätte. Man hätte Österreich-Ungarn ganz klar kommunizieren müssen, dass wenn eine wie auch immer geartete Antwort Serbiens auf das Ultimatum zu einem diplomatischen Sieg umgemünzt werden und damit zu einer Stärkung Österreichs beitragen konnte, dann hält man die Füße still bzw. setzt sich zumindest noch einmal zusammen, um eine gemeinsame Vorgehensweise zu besprechen. Mir ist bewusst, dass die geheime russische Mobilmachung schon begonnen hatte, aber auch auf diese hätte man reagieren können. Bis 1913 hatte man den Aufmarschplan Ost ausgearbeitet und Hermann von Staabs hat nachgewiesen, dass eine Umgliederung des deutschen Westaufmarsches, selbst wenn dieser schon stattgefunden hätte (was zu diesem Zeitpunkt nicht der Fall war) noch möglich gewesen wäre. Kein Angriff auf Serbien, keiner auf Belgien. Den Russen den ersten Zug überlassen. Hätte Frankreich da angegriffen? Notgedrungen wahrscheinlich schon, da man Russland nicht allein gegen die Zentralmächte kämpfen lassen konnte und am Ende allein auf dem Kontinent gestanden hätte. Aber wäre England dann gleich mit auf den Zug aufgesprungen? Vielleicht später, um bei der Nachkriegsordnung mitwirken zu können, aber sicher nicht von Anfang an, wenn Russland alleine oder im Verbund mit Frankreich offensichtlich (und nicht insgeheim) die Aggressoren gewesen wären. Man stelle sich drei deutsche Armeen zu Verteidigung im Westen vor und fünf deutsche und vier bis fünf k.u.k.-Armeen im Osten zur Abwehr vor. Acht bis neun Armeen der Mittelmächte gegen die russischen Dampfwalze, den Vorteil der inneren Linie ausnutzend, die eigenen Kräfte zu konzentrieren. Frankreich konnte keine Armee an die Ostfront schicken.
Die sogenannte Weltpolitik des Kaiserreichs, das muss auch betont werden, beschrieb keinen deutschen Sonderweg.
Das deutsche auswärtige Politik ist nichts besonders; sie war nicht außergewöhnlich aggressiv oder rücksichtslos zu Werke gegangen, sondern bemerkenswert ist das grandiose Scheitern. Das grundlegende Dilemma Deutschlands war es, eben nicht so sein zu dürfen wie alle anderen. Es wurde Deutschland einfach nicht zugebilligt. Deutschland durfte nicht imperialistisch und expansionistisch sein.
Die Mächte der traditionellen Groß- oder gar Weltmächte wie Großbritannien, Russland und Frankreich, die schon miteinander genügend Problem hatten, sahen die neuen Aufsteiger und Überflieger Japan, USA und Deutschland nicht eben gern in ihrer Mittel.
Mit Japan und den USA arrangiert man sich; die waren auch weit weg. Mit Deutschland lagen die Dinge anders.
Volle Zustimmung. Es wäre auch viel realitätsnäher von britischer, französischer und russischer Weltpolitik zu sprechen, aber deren Kolonialgebiete sind ja freiwillig dem Empire, dem französischen Kolonialreich und dem Russischen Reich beigetreten.
