Geschichtslose Völker? Die Winter Counts der Plains Indianer

El Quijote

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Zunächst einmal Begriffliches: Vergangenheit und Geschichte sind nicht dasselbe. Geschichte ist gewissermaßen erinnerte und rekonstruierte Vergangenheit. Geschichtslose Völker - weiterlesen, nicht sofort Schnappatmung bekommen, - sind also keine Völker, die keine Vergangenheit haben - wie sollte das auch gehen - sondern Völker ohne historische Überlieferung.

Historische Überlieferung muss dabei nicht zwangsläufig schriftlich fixiert sein, sondern kann auch mündlich tradiert werden. Für „westlich“ geprägte Historiker ist dies - je nach Forschungsinteresse - höchst interessant oder der Supergau.

Interessant, wenn man sich die Narrative untersuchen will, der Supergau, wenn man der Ereignisgeschichte, dem „wie es wirklich gewesen ist“ näher kommen will.
De facto aber sind wir der Homo narrans, der erzählende Mensch, so gesehen ist im Prinzip wohl keine menschliche Gesellschafts geschichtslos, weil in der Zeit vor den schriftlichen Aufzeichnungen am gemeinsamen Lager- und Herdfeuer vor allen an Winterabenden erzählt wurde. Und wir kennen das alle: wer von uns eine Geschichte schon mehrfach erzählt hat, wird sich dabei erwischt haben, dass sich Formulierungen einschleichen und verfestigen, die Erzählung also in sich geschlossener und homogener wird. Und je öfter eine Geschichte am Lagerfeuer erzählt wird, desto mehr werden auch Zuhörer, die in die Erzählerrolle wechseln die Geschichte genauso erzählen, wie sie sie ihre Kindheit lang gehört haben.

Aber solche mündlich tradierten Erzählungen passen sich gleichzeitig geänderten Bedingungen und Notwendigkeiten an, d.h. unwichtig gewordene Dinge werden fallen gelassen und anderes aufgegriffen.

Oft denken wir, dass es aus schriftlosen Kulturen keine historischen Überlieferungen gäbe, außer eben der mündlichen Überlieferung, auf die sich Ethnologen, Mythenforscher und Geschichtsdidaktiker freuen, die aber für Ereignishistoriker, der sich über statische Erzählungen freut, ein Graus ist.
Aber das ist falsch. Einige der Plainsindianer, z.B. die Sioux, kannten die sogenannten Winter Counts. Offensichtlich im Winter auf Tierhäute gemalte Ereignisse, welche monatsweise angeordnet waren und so die wichtigsten Ereignisse eines Jahres für die historische Überlieferung festhalten sollten. Im Prinzip ähneln sie so der annalistischen Geschichtsschreibung (annus, 'Jahr') unseres Mittelalters, die auf Osterberechnungen basiert. Irgendwann fingen Mönche an, stichwortartig herausragende Ereignisse zu diesen Jahren aufzuzeichnen, woraus sich eine anspruchslose aber von Historikern als verlässlich eingestufte Überlieferung entwickelte, die nach und nach ausführlicher wurde.

Bei der Quellengattung der Winter Counts der Plains Indianer stehen wir nun vor zwei Problemen: es sind nur wenige erhalten (um 100 Stück, davon nicht alle original) und die Bilder sind nicht immer ganz einfach zu interpretieren. Sie waren wohl auch eher als Gedankenstütze gedacht. Eben nüchtern, wie eben Annalen. Sie wurden, wie gesagt, auf Tierhäute gemalt und darauf spiralförmig angeordnet, oft monatsweise, mit den Monaten mehrerer Jahre in einer Spirale.

Weshalb nur so wenige Exemplare dieser Quellengattung erhalten sind? Da gibt es wohl mehrere Gründe: zum einen sind sicherlich manche der Häute verloren gegangen in kriegerischen Auseinandersetzungen, bzw. wenn ganze Dörfer an Epidemien zugrunde gingen, und es niemanden mehr gab, der die Geschichten begriff und lesen/kopieren könnte. Auch dass ihr Wert von Weißen nicht erkannt wurde jemals, wie die daran kamen, ob nach einer Auseinandersetzung oder nach einer Epidemie, ist dabei ohne Belang. Zu guter letzt könnte es aber auch im Interesse von indianischen wie europäischen Feinden sein, den Indianern ihre historische Identität zu nehmen und daher solche Winter Counts zu zerstören, wenn man die Gelegenheit dazu hatte. Die Winter Counts zählen somit zur Gruppe der Monumente bzw. Traditionsquellen.
 
Historische Überlieferung muss dabei nicht zwangsläufig schriftlich fixiert sein, sondern kann auch mündlich tradiert werden. Für „westlich“ geprägte Historiker ist dies - je nach Forschungsinteresse - höchst interessant oder der Supergau.
Das ist sogar immer noch der Fall.
Interessant, wenn man sich die Narrative untersuchen will, der Supergau, wenn man der Ereignisgeschichte, dem „wie es wirklich gewesen ist“ näher kommen will.
De facto aber sind wir der Homo narrans, der erzählende Mensch, so gesehen ist im Prinzip wohl keine menschliche Gesellschafts geschichtslos, weil in der Zeit vor den schriftlichen Aufzeichnungen am gemeinsamen Lager- und Herdfeuer vor allen an Winterabenden erzählt wurde.
Perfect. Stimmt absolut. Vor allem Sagen und Maerchen wurden wieder und wieder erzaehlt, bis auf den heutigen Tag. Oft ueber hunderte von Jahren hinweg. Die so beschriebenen Naturereignisse wurden nachgeprueft und als richtig betrachtet.
Und wir kennen das alle: wer von uns eine Geschichte schon mehrfach erzählt hat, wird sich dabei erwischt haben, dass sich Formulierungen einschleichen und verfestigen, die Erzählung also in sich geschlossener und homogener wird. Und je öfter eine Geschichte am Lagerfeuer erzählt wird, desto mehr werden auch Zuhörer, die in die Erzählerrolle wechseln die Geschichte genauso erzählen, wie sie sie ihre Kindheit lang gehört haben.
Das ist der Idealfall. Der Umkehrfall wird 'Chinese telephone'* genannt: was beim Ersten hineingeht, kommt beim Letzten bis zur Unkenntnis heraus.


Deutsche Maerchen sind praktisch synonym mit den beruehmten Gebruedern Grimm. Diese sammelten Maerchen aus allen deutschen Landen und machten ein Buch daraus.
Es gibt ein deutsches Pendant zu den Brüdern Grimm, sein Name ist Franz Boas.....https://talonbooks.com/authors/franz-boas.....Er reiste entlang der Pazifikküste von Oregon; Washington bis British Columbia. Da er die Sprache und Dialekte der vielen Indianerstämme entlang der Pazifikküste verstand, konnte er sich deren Geschichten anhören, sie aufschreiben und sammeln. Die Mehrheit des von ihm gesammelten Materials stammt von den Stämmen der Küstenindianer British Columbien's.....https://talonbooks.com/books/indian-myths-legends-from-the-north-pacific-coast-of-america.....
Sein Buch nennt sich 'Indianische Sagen von der Nord-Pacifischen Küste Amerikas' von Franz Boas und kam 1895 in Berlin in heraus. ....... Indianische Sagen von de Nord-Pacifischen Küste Amerikas [microform] : Boas, Franz, 1858-1942 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive habe die 2002 annotierte , kanadische Ausgabe von Talon Books mit unzaehligen Erklaerungen, Verbesserungen und Klarstellungen. Allerdings kein leicht lesbares Material. Auch darf man bedenken dass jede der Tierarten wie z.B. Baeren; Biber; Woelfe; besonders auch Raben, weil die so klug sind; Adler usw, in den Mythen der Indianer eine besondere Bedeutung einnimmt.
Ich moechte hinzufuegen, dass die Kernaussagen der dort im Buch beschriebenen Themen wie Eifersucht, Diebstahl, Neid, Vergewaltigung usw, praktisch identisch ist wie die Kernaussagen bei den Gebr. Grimm, oder Anderon oder sonst welchen Maerchen. Denn im Grunde genommen sind wir ja alle verwandt miteinander, deshalb ------>> "De facto aber sind wir der Homo narrans, der erzählende Mensch, so gesehen ist im Prinzip wohl keine menschliche Gesellschafts geschichtslos"
Leider scheint es so zu sein, dass wir uns heute mit mehr und mehr Homo confabulatus, der konfabulierende Mensch, rumplagen muessen.

* 'Chinese telephone' ist ein Kinderspiel: einige Kinder sitzen in einer Reihe; das Erste fluestert einen Satz in's Ohr seines Nachbarn, dieser wiederholt das bis es zum Letzten kommt, dieses sagt was es gehoert hat...und das ist meistens urkomisch.
 
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