Ich halte diese Aussagen für grundsätzlich falsch. Die Preußen hatten eine sehr gute und zahlenmäßig starke leichte Infanterie, die in den Revolutionskriegen und bei der Niederschlagung des Kosciuszko-Aufstands mit Erfolg eingesetzt wurde. Das preußische Offizierskorps hat die Erfolge und die Taktik der französischen Truppen vor 1806 intensiv diskutiert. Das Bild von völlig unfähigen Offizieren und Soldaten ist mittlerweile veraltet. Die preußischen Truppen haben trotz ihrer prinzipiell nicht unterlegenen Kampfweise verloren, auch wenn dies in Preußen der Schmach wegen schon immer gerne anders gesehen wurde.
Nichtsdestoweniger wurden die Preußen im Krieg von 1806/07 in jedem größeren Treffen geschlagen. Die Franzosen aggressiver, mobiler, flexibler und weniger schlecht geführt, als sie die hilflosen Preußen aufrollten.
Ich habe übrigens nirgends von "völlig unfähigen [...] Soldaten" geschrieben. "unbefähigt" würde ich hier aber tatsächlich mittragen: Die Truppe hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut gekämpft. Dennoch bestreite ich, dass sie gegenüber den Franzosen die relative Qualität hatte, die sie während der ersten Hälfte des Siebenjährigen Kriegs besass. Und sie war miserabel ausgebildet, miserabel ausgerüstet, miserabel motiviert, miserabel geführt.
Es bringt der besten Truppe aber nichts, wenn sie schlecht geführt wird (und das wurde sie: senile Kommandeure, überhebliche Stabsoffiziere und überalterte Subalterne). Und sie kämpft auch nicht erfolgreicher, wenn neue taktische Konzepte von ihren Offizieren bloß diskutiert werden. Mit Ausnahme einzelner Denkschriften oder Versuche war das gesamte preußische Kriegswesen nach dem Siebenjährigen Krieg stehengeblieben oder hatte sogar Rückschritte gemacht. Das Offizierskorps war überaltert, und mit ihnen ihre taktischen Konzepte. Die krachenden Niederlagen von Jena und Auerstedt waren in erster Linie das Resultat eklatanten Führungsversagens. All diese Symptome von Orthodoxismus gingen Hand in Hand auf dem Weg in das Debakel. Die Verteidigung von Kolberg ist allenfalls eine der wenigen Ausnahmen von der Regel.
Ich erlaube mir, an dieser Stelle Gneisenau zitieren zu lassen:
„Die Unfähigkeit des Herzogs von Braunschweig, einen soliden Feldzugsplan zu entwerfen, die seinem Alter so gewöhnliche Unentschlossenheit, sein Feldherrnunglück, das Mißtrauen der Armee in ihn, die Uneinigkeit der Koryphäen des Generalstabes [z. B.
Massenbach], die Neutralisierung einiger der fähigsten Mitglieder desselben [z. B.
Scharnhorst], unsere des Krieges entwohnte Armee, der beinahe in allen Zweigen sichtbare Mangel an Vorbereitung zu demselben, die in den bisherigen Friedensjahren zur Tagesordnung gewordene Beschäftigung mit nichtswürdigen Kleinigkeiten der Elementartaktik, unser Rekrutierungswesen mit allen seinen
Exemtionen, das nur einen Teil der Nation zu den Waffen verpflichtete, dessen Dienstzeit über die Gebühr verlängerte, der folglich mit Widerwillen diente und nur noch durch Disziplin zusammengehalten wurde; unser
Populationssystem, das dem Soldaten erlaubte, sich mit einer Familie zu belasten, deren Ernährung, wenn ihn der Krieg von seinem Herd abrief, meist der Wohltätigkeit des Publikums überlassen blieb und deren Schicksal oft dem bekümmerten Vater das Ende des Krieges wünschenswert machte; das Beurlaubungswesen, das den darauf mit seinen Einkünften angewiesenen Kompaniechef verleitete, den noch wenig disziplinierten Rekruten in die Heimat zu entlassen; die schlechte Verfassung unserer Regimentsartillerie, die niemals der zahlreichen reitenden Artillerie der Franzosen sich entgegenstellen konnte; die schlechte Beschaffenheit unserer Waffen; die Untauglichkeit der meisten unserer Generale; und, um alles zu umfassen, unser
Eigendünkel, der uns nicht mit der Zeit fortschreiten ließ, pressen dem Patrioten stille Seufzer aus.“
Quelle:
Schlacht bei Jena und Auerstedt ? Wikipedia
Das MGFA schien das zumindest bis 2010 ähnlich zu sehen:
Reform, Reorganisation, Transformation: zum Wandel in deutschen ... - Google Books
Beispiele:
S. 9: "[...] im Folgejahr [1806] war sie [die frz. Armee] das altpreußische Heer nicht nur nieder, sondern zertrümmerte es."
Besonders lesenswert sind hier die S. 15-17. Stichworte aus der Passage: überkommenes Militär- und Staatssystem, Mentalität und Habitus der Heere des Ancien Regime, logistische und rüstungstechnische Unzulänglichkeiten, absurde Folgen der Kompaniewirtschaft, unzureichendes Personal, Offiziere waren in den Kleinigkeiten des Dienstes gefangen, Werbung von "Ausländern" = Negativauslese, schlechte Personalauswahl und Ausbildung, menschenunwürdige Behandlung, selektiv wahrgenommene Wehrpflicht, Zuwenig an kriegerischer Gesinnung, militärtechnisches und gesellschaftliches Versagen, Reform der militärischen Spitzen- und Truppengliederung, der Taktik und Truppenführung, ein neues Konzept von Ausbildung und Allgemeinbildung der Soldaten, Reform des 'inneren Gefüges': Personalauswahl, Menschenführung, Kriegsartikel; Re-Professionalisierung der Armee; Ausbildung, Einsatz, Habitus sowie letztlich die geforderte Mentalit widersprachen dem Alten...
Und all das wurde bereits im Nachgang zum Siebenjährigen Krieg angelegt. Schon im Bayerischen Erbfolgekrieg war die preußische Armee ebenso schlaff aufgetreten wie während des Ersten Koalitionskrieges. Zu den Konsequenzen von Fritzens Beförderungsprinzip siehe u. a. hier:
"Er möchte nur wissen, dass die Armée mir gehöret": Friedrich II. und seine ... - Rolf Straubel - Google Books S. 10: "[...] gab es im Offizierskorps unübersehbare Anzeichen von Lethargie und Verkrustung, war somit das Gegenteil dess eingetreten, was der König [mit seiner Beförderungspraxis] angestrebt hatte."
Zuletzt eine nicht wirklich hochwissenschaftliche Seite, die aber, wie ich finde, mit einer ganz guten Zusammenfassung aufwartet:
Quelle:
Jena und Auerstedt
Äußerlich bot die preußische Armee auf ihren Paraden noch immer ein glanzvolles Bild, und ihre schweren Mängel blieben der Öffentlichkeit des In- und Auslandes verborgen. Einzelne sachkundige Beobachter innerhalb und außerhalb der Armee hatten sie aber genau erfaßt. Die Armee bestand zu einem reichlichen Drittel aus »ausländischen« Söldnern (die zumeist aus deutschen Territorien stammten), zu zwei Drittel aus kantonspflichtigen Inländern, worunter sich ein hoher Prozentsatz Polen befand. Dienstbetrieb, Strategie und Taktik waren ganz von dem Bestreben geprägt, die Soldaten an der Fahnenflucht zu hindern. Trotz aller Vorkehrungen desertierten jedoch allein von Oktober 1805 bis Februar 1806 9558 Soldaten. Nur mit Hilfe der Prügel- und anderer barbarischen Strafen konnte die Disziplin aufrechterhalten werden. Im Feld blieben die Bewegungen der Armee langsam und schwerfällig, da sie darauf angewiesen war, Verpflegung, Zelte usw. in einem riesigen Troß mitzuführen. Auch die Lineartaktik mußte notgedrungen für den weitaus größten Teil der Infanterie beibehalten werden. Ansätze zur Einführung zeitgemäßer Kampfformen gab es bei der leichten Infanterie — den 24 Füsilierbataillonen und insbesondere dem von Ludwig von Yorck befehligten Feldjägerregiment.
Bei der preußischen Infanterie gab es keine Einzelausbildung, sondern eine Art Massendressur. Mit großem Zeitaufwand —und viel Prügeln — wurden die Soldaten regelrecht dazu abgerichtet, taktmäßig wie Automaten zu laden und zu schießen und komplizierte taktische Bewegungen auszuführen. Das Jägerregiment — das von vielen Gamaschenknöpfen scheel angesehen wurde — fiel jedoch völlig aus dem Rahmen. Bei seiner Ausbildung wurde das Schwergewicht nicht auf das Exerzieren gelegt, sondern auf das Scheibenschießen, das sogenannte zerstreute Gefecht und die Geländeausnutzung.
Über das Offizierskorps der preußischen Armee von 1806 sagte der preußische General und Militärhistoriker Eduard von Höpfner später: »Die obere Leitung der Militärangelegenheiten war völlig ohne Geist. Die Führer waren des Krieges entwöhnt, in ihren Ansichten veraltet; die älteren Offiziere bis zu den Hauptleuten hinab mit wenigen Ausnahmen alt und gebrechlich.« Von den 281 Majoren der Infanterie waren 196 älter als 50 Jahre. Über das Vorwärtskommen entschieden in der Regel nicht Fähigkeiten und Verdienste, sondern das Dienstalter war ausschlaggebend. Der Anteil bürgerlicher Offiziere lag unter 10 Prozent. Die höchsten Kommandostellen blieben zumeist Prinzen und Fürsten vorbehalten.
Ich bleibe dabei: Die preußische Armee von 1806 war ein verknöcherter Papiertiger auf tönernen Füssen.