Nein, es passierte ganz und gar nicht erst in den Neunzigern, dass das Schwulsein in den westeuropäischen Ländern eine gewisse Akzeptanz fand, sondern deutlich früher; ich würde die Veränderung in den 1970-ern orten. Eine Grundlage schufen bereits die 68-er, als der freie Sex proklamiert wurde. Ich würde aber v.a. die Christopher Street der 1970-er als wichtigen Antrieb für die ›Mode‹ halten, deren leather daddies in Europa große Bewunderung fanden, wenn auch z.T. schockiert vorgetragen, wobei recht absurde Geschichtchen die Runde machten. In den 1980-ern waren homosexuelle Pärchen in westeuropäischen Städten keine Besonderheit mehr und Night-Clubs für Schwule und Lesben waren das Schickeste überhaupt, auch für Hetties (insbesondere in Paris, London, Rom, aber auch in kleineren Städten, wie Zürich.)
(Wenn ich hier über die Homosexualität als »Mode« schreibe, dann meine ich die Schwulenszene mit Einbezug der situativ Homosexuellen, d.h. der Mitläufer, wie z.B. in den 1990-ern, als sich manche eingewanderte Jugendliche plötzlich tuntig gebärdeten, um sich als besonders aufgeschlossen zu geben, bzw. um in zu sein. Dennoch will ich die Frage durchaus offen lassen, inwieweit die Neigung angeboren ist, oder in der frühen Kindheitsphase angeeignet wird, z.B. durch Eltern, die sich eigentlich ein Mädchen wünschten, oder aber sich durch sonstige Anreize in der Pubertät entwickeln kann.)
Erstmal gab es also eine ›Szene‹ unter Künstlern und Jugendlichen; aber keine Alternativszene, da es kaum vergleichbare Alternativen für Heteros gab, wenn sie sich in den besten Clubs amüsieren wollten. Die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz kam mit dem Älterwerden dieser Generation. Eine gewisse Rolle gespielt hat auch der große AIDS-Schock in den 1980-ern, als die Homosexualität in breiten Kreisen thematisiert wurde. Direkt war dies allerdings ein Rückschlag für den sorglosen Umgang mit der Sexualität, d.h. der Todesstoß für die 68-er Mentalität.
Die Ausgangsszene war aber m.M.n. sicherlich die Kerngruppe zur Verbreitung der Akzeptanz (die aber heute tendenziell eher rückläufig anmutet). Die Homosexuellen haben dies in erster Linie mit Extrovertiertheit und ihrem ausgeprägteren Sinn für unverkrampfte Unterhaltung geschafft. Also nix mit Wissenschaftlern und Aufklärungsarbeit einer Homosexuellenbewegung…, jedenfalls, wie ich es sehe. :fs:
Ich denke, dass kann man ruhig unterstreichen, dass Homosexualität neu bewertet wurde und als normale mögliche sexuelle Orientierung Akzeptanz erfuhr, war vor allem der Bürgerrechts- und Protestbewegung seit den späten 1960er Jahren zu verdanken. Der § 175, der Homosexualität mit teils empfindlichen Strafen bedrohte, wurde Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik liberalisiert. De iure völlig gestrichen wurde er aber erst 1994, bis 1994 waren homosexuelle Handlungen wenn ein Partner volljährig, der andere minderjährig war noch nicht erlaubt.
Mit den Forderungen nach Abschaffung reichlich miefiger Gesetze wie dem "Kupplerparagraphen" und einer Reform des § 218 (Abtreibung) wurde auch die Abschaffung des § 175 gefordert. Obwohl sich in den 1970er Jahren die bundesdeutsche Gesellschaft liberalisierte, und die Bürgerrechts- und Protestbewegung sicher eine Reihe von Freiheiten erkämpfen konnte, war Homosexualität in den 1980er Jahren sicher noch ein Tabuthema, mit dem viele Homosexuelle nicht offen umgehen konnten, ohne sich unter Umständen erheblichen Problemen auszusetzen.
Ein General Kießling wurde belastet, homosexuell zu sein. Die Quellen waren recht dubios, aber der General wurde vorzeitig ohne Großen Zapfenstreich in den Ruhestand versetzt, da man ihn wegen seiner Neigung für erpressbar hielt. Es stellte sich nachweislich heraus, das an den Vorwürfen nichts dran war, es sorgte aber die Kießlingaffäre für eine Diskussion um den Umgang mit Homosexuellen in der BRD. Seit Kohls Regierungsantritt 1982 und der angekündigten "geistig moralischen Wende" machte sich eine gewisse Restauration bemerkbar, die bereits erreichte Freiheiten in Frage zu stellen drohten, und diese restaurativen Tendenzen verschärften sich Mitte bis Ende der 1980er Jahre mit der Verbreitung von Aids. Aus den USA wurden Stimmen evangelikaler Kreise laut, die Aids als gerechte Strafe Gottes interpretierten, die Leute mit unmoralischem Lebenswandel, Schwule und Junkies, traf.
Dass dem so war, dass die Krankheit sehr schnell und sehr qualvoll viele Schwule und Junkies dahinraffte, schienen manche Zeitgenossen fast euphorisch zu begrüßen, deren kaum verhohlene Freude legte sich aber recht bald, denn schließlich konnten sich auch ganz "normale Leute" an "so etwas" (gemeint war nicht die Krankheit, sondern die Menschen) anstecken. Eigentlich hätte man dazu mit "so etwas" in die Kiste steigen müssen, aber etliche Krimiserien zeigten dauernd irgendwelche total kaputten Typen, die brave Bürger mit Injektionsspritzen bedrohten. Die Angst vor einer Infektion nahm teils skurrile und paranoide Züge an, und reaktionäre Politiker wie Peter Gauweiler forderten eine Kennzeichnungspflicht für Aidskranke.
Allerdings raffte Aids auch Zeitgenossen dahin, bei denen man niemals angenommen hätte, dass sie homosexuell waren wie der Hollywoodstar Rock Hudson. Bekannte und beliebte Volksschauspieler wie Inge Meysel bekannten sich öffentlich zu ihrer Homosexualität, manch andere wurden nicht ganz freiwillig von Kollegen wie Rosa von Praunheim geoutet. Der bekannte Tagesschau-Moderator Wilhelm Wieben wurde von Inge Meysel geoutet, nahm es ihr aber nie übel. Andere wie der beliebte bayrische Volksschauspieler Walther Sedlmayr hätten sich wohl nicht geoutet. Das Image des gemütlichen Bajuwaren und Homosexualität, das passte für viele einfach nicht zusammen.
Die Aidskrise trug aber dazu bei, dass Homosexuelle und Suchtkranke sich öffentlich zu Wort meldeten, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen und die öffentliche Wahrnehmung und Darstellung in Frage stellten. Das führte letztlich dazu dass offener über "Tabu-Themen" gesprochen werden konnte, was wiederum erleichterte, sich zu outen und selbstsicherer garantierte Minderheitenrechte einzufordern.