Vielen Dank für die ausführliche Antwort, Silesia
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Ich bevorzuge nach wie vor Sekundärliteratur, die unmittelbar Primärquellen auswertet, oder Primärquellen direkt.
Da die Schiffsversammlung vor Istanbul im November 1912 nirgends separat in den bekannten Dokumenten-Sammlungen behandelt wird, meine ich, dass eine detaillierte Darstellung der Chronologie erschwert ist. Weiterhin scheint sie für die Nachkriegsaufbearbeitung der Kriegsverantwortung keine Rolle gespielt zu haben, man erkennt auch ohne Aufwand, dass die Großmächte mit weitaus wichtigeren Ereignissen beschäftigt waren, eben mit der Frage, wie weit die bulgarische Armee noch vordringen wird und mit welchen Folgen, mit der Zuspitzung der zeitgleich ablaufenden Auseinandersetzungen um die Frage eines serbischen Adria-Hafens.
Wir sind, soweit ich sehe, was die Primärquellen-Auswertung, Details und Chronologie der Flottenversammlung vor Istanbul angeht, weitgehend auf Tutenbergs Dissertation "Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenzen" (1987) angewiesen. Ergänzend dazu können wir dann sogar z.B. auf die BD IX, 2, zurück greifen.
Tutenberg notiert S. 18/19:
Goschen, britischer Botschafter in Berlin, unterrichtet am 2.11.1912 Grey, britischer AA-Chef, von der Frage des dt. AA-Staatssekretärs nach den britischen Absichten, worauf Goschen antwortet, das man beabsichtige, ein Schiff nach Besika Bay zu schicken.
Tutenberg wörtlich weiter:
"Der deutsche Staatssekretär hielt das für eine gute Idee und teilte ihm mit, daß die deutsche Regierung gleich Maßnahmen ergreifen würde."
[Tutenbergs britische Quelle: PRO FO 424, No 233 v. 2.11.1912, No 52]
Tutenberg referiert S. 18:
Am
2.11.1912 fand eine Botschafterversammlung der Großmächte in Istanbul statt in Istanbul statt, die u.a. die Bitte an die Pforte formuliert, die Erlaubnis zur Entsendung eines Kriegsschiffes je Großmacht [nach Istanbul] zu erwirken.
Wir finden in den
BD, IX, 2, S. 89 oben, entsprechend die inhaltliche Zusammenfassung eines Telegramms des türk. Außenministers Gabriel Effendi vom
3.11.1912, in dem u.a. die Erlaubnis der Einfahrt
je eines Kriegsschiffe pro Großmacht aufrund der Nachfrage ihrer Botschafter postuliert wird.
S. 93, BD, IX, 2, # 120, schreibt der britische Botschafter in Istanbul am
4.11. bzw.
5.11.1912 von der Meinung des türkischen Außenministers,
dass die Großmächte je ein zweites Kriegsschiff entsenden sollten [vor Istanbul, es geht ja immer um die Erlaubnis der Einfahrt in die Dardanellen. Dafür waren schon wegen der Minengürtel ganz konkret türkische Lotsen notwendig]
Tutenberg bestätigt S. 23 den Vorgang vom
4.11.1912: Botschafter Wangenheim berichtet am 4.11.1912 ebenfalls von einer Erlaubnis für ein zweites Kriegsschiff pro Großmacht durch die türk. Regierung.
Tutenberg S. 23, referiert sinngemäß weitere Mitteilungen von Wangenheim am
4.11.1912:
"Der russische Botschafter hab auf der letzten Versammlung der europäischen diplomatischen Vertreter [in Istanbul] für eine allgemeine Freigabe der Meerengen angesichts der bedrohlichen Lage plädiert. Sein Vorschlag sei am Widerstand des österreichischen Vertreters gescheitert."
Tutenberg, S. 26: Am
6.11.1912 traf u.a. der russ. Panzerkreuzer Kagul [vor Istanbul] ein.
Am
8.11.1912 fanden sich auf Anregung des französischen Admiral Dartige du Fournet die anderen Schiffs-Kommandanten auf dessen Panzerkreuzer "Léon Gambetta" ein. Man arbeitet dabei einen gemeinsamen Plan für mögliche Unruhen aus.
Tutenberg, S. 60:
Die Goeben traf am
15.11. vor Istanbul ein, Kommandant Admiral Trummler wird dort mitgeteilt, dass der franz. Admiral der Léon Gambetta, du Fournet, "
den Vorsitz bei der Regelung der internationalen Schutzmaßnahmen übernommen hatte."
Noch S. 60:
Die Goeben war am
11.11.1912 vor Malta eingetroffen. Sie wie die Breslau ergänzten dort [also im britischen Marine-Stützpunkt] ihre Kohle-Vorräte.
Im Zusammenhang der Absprachen und Kooperation zwischen britischer und reichsdt. Marine hatte ich oben
Römer, zitiert:
Römer, S. 26, bemerkt weiterhin, dass reichsdt. Schulschiff Hertha sei mit Auftrag des Schutzes der Deutschen in Mersina am 5.11.1912 im britischen Marinestützpunkt auf Malta eingelaufen. Der britische Admiral und Befehlshaber Milne habe den dt. Kommandanten gebeten, den Schutz der Engländer in der Provinz Adana [an deren Küste Mersina lag] zu übernehmen. Milne hätte im Gegenzug versichert, dt. Bürger in Alexandretta durch ein britisch. Kriegschiff schützen zu lassen und hätte die Erfordernis gemeinsamen Handelns bekräftigt.
Zum Kreis der Großmächte-Botschafter in Istanbul gehörte auch der russ., der entsprechend an der gemeinsamen Sitzung am 2.11.1912 teilgenommen haben dürfte und ebenfalls von den jeweiligen Erlaubnissen für die Einfahrt zunächst eines Kriegsschiffes, 3.11., und der für die Einfahrt eines zweiten Kriegsschiffes, 4.11., Kenntnis erhalten haben dürfte.
Dass am 6.11. bereits das russ. Kriegsschiff
Kagul eingetroffen war, bestätigt wohl diesen Ablauf.
Cambons Äußerung gegenüber Grey bezieht sich daher erkennbar - wie schon sprachlich eindeutig - NICHT auf die am 7.11. bereits laufende Entsendung von "Schutz-Schiffen" für Istanbul.
Nach wie vor bin ich begründet nicht der Meinung, dass alle Großmächte völlig solitär einfach nach reinem Gutdünken irgendwann irgendwelche Kriegsschiffe in rein selbst festgelegter Anzahl entsendet hatten. Zumindest für Istanbul war dies sowieso nicht möglich. Siehe Botschafter-Treffen in Istanbul.
Die Kooperation zwischen der britischen und reichsdt. Marine ist ebenfalls erkennbar, siehe
Breslau und
Goeben im britischen Marine-Stützpunkt Malta, siehe Admiral Milnes Bemerkung gegenüber dem Kommandanten der entsendeten Hertha am 5.11. Im Thread "Mittelmeer-Division hatte ich bereits anhand von weiteren Primärquellen darauf hingewiesen.
Wir können vorsichtig sogar formulieren, siehe Tutenberg, dass die Berliner Diplomatie/Politik durchaus von Seiten der britischen zur Entsendung von "Schutz-Schiffen" und nachfolgend zu verschiedenen Aktionen/Aufgaben
mit angeregt worden war.
Wie Du schon oben bemerkt hast, sind gewiss viele Dokumente zu diesem "Projekt" noch nicht veröffentlich. Tutenberg hat dazu einige Grundlagen-Arbeit geleistet, als einziger bisher, soweit ich sehe.
Deine Aussage im Beitrag ein weiter oben
Zu dem Zeitpunkt 5./7.11. war es die britische Regierung, die sich lediglich mit der Frage von counterdemonstration befasst, was deutlich macht, dass sie hier nicht agierte, sondern reagierte.
ist so nicht aufrecht zu erhalten, meine ich. Für Deine abschließende Bewertung fehlen Publikationen mit umfassenden Auswertungen/Erschließungen in Frage kommender, auch noch nicht veröffentlichter Primärquellen.
Das britische Kriegsschiff "
Weymouth" war am
6.11. in Istanbul eingetroffen, am
2.11. hatte
Goschen, der brit. Botschafter in Berlin, gegenüber dem dt. AA-Staatssekretär (wohl
Kiderlen-Wächter) bemerkt, eine Entsendung eines Schiffe in die
Besika Bay sei beabsichtigt. Weiterhin, wie schon notiert, war der britische Botschafter in Istanbul an den dortigen Botschafterkonferenzen beteiligt.
Wir sehen entsprechend auch in den
BD, IX, 2, S. 89, dass die britische Regierung am
3.11. bzw. am
4.11. vom türkischen Außenminister /Botschafter in London davon unterrichtet wurde, dass die Einfahrt je eines Kriegsschiffes pro Großmacht in die Dardanellen mit Ziel Istanbul gestattet würde.
Nein, das war korrekt.
Grey lehnte ab, eine Marinedemonstration vorzunehmen, und er lehnte nicht etwa ab, keine Marinedemonstration vorzunehmen:
"we should not make a naval demonstration there"
Danke für die Klarstellung, im Englischen war natürlich erkennbarer, was gemeint war.
Ansonsten erwarte ich keine (Zeit fressende) Rückantwort, wir befinden uns ja bei zwar interessanten Fragen, doch es sind im Rahmen des Thread-Titels mehr Nebenfragen, wenngleich mir die damalige Situation dadurch noch nachvollziehbarer und anschaulicher geworden ist.
Viele Grüße,
Andreas