Bolivar und die verlorene Einheit Lateinamerikas

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Andinista

Gast
Bin vor kurzem in Kolumbien gewesen und mir ist der Heldenkult um den Befreier ("Libertador") Bolivar aufgefallen. Ich selbst habe ein zwiespältiges Verhältnis zu seiner historischen Wirkung. Er war zweifelsohne ein großer Mann mit Weitsicht, aber wie viele solcher Weltgeister, um Hegel zu bemühen, hat er letztlich vielleicht mehr kaptt gemacht als Neues gestiftet.

Seine Befreiungszüge - die nebenbei bemerkt auch royalistische Gebiete wie Peru "befreit" haben, die wohl eher unter spanischer Herrschaft bleiben wollten - und die zeitgleichen Feldzüge von San Martin haben die Einheit Hispanoamerikas zerstört., ohne etwas Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen (was an die germanischen Nachfolgestaaten des weströmischen Reiches erinnert).

Hispanoamerika hätte selbst ohne das entfernte Mexiko und das portugiesische Brasilien das Zeug zu einer Weltmacht gehabt. Stattdessen folgten kleinlicher Separatismus, zwei verlorene Jahrhunderte sozialer Konflikte und als Folge der eigenen Schwäche imperiale Eingriffe der Gringos.

Interessanterweise - und jetzt ist eine aktuelle politischer Bezugnahme unabdingbar - sind es gerade sehr linke Politiker wie der verstorbene venezolanische Diktator Hugo Chavez und aktuell der kolumbianische Präsident, die die verlorene Einheit Groß-Kolumbiens, die Bolivar vergeblich bewahren wollte, bejammern und wiederherstellen wollen. Und das mit ausdrücklichem Verweis auf geostrategische Gründe (Beherrschung der Karibik als "Mare nostrum" bzw. höhere Resilienz gegen die USA).

Nachdem mich der Natur- und Ressourcenreichtum Kolumbiens fast überwältigt hat, muß ich sagen: Ja, Hispanoamerika verkauft sich seit seiner Unabhängigkeit stark unter Wert und schuld daran ist vor allem seine territoriale Zersplitterung, die mit den "Befreiungszügen" angefangen hat. Rückblickend wäre es besser gewesen, sich wie später der ebenso riesige kanadische Bundesstaat friedlich und in Einheit aus dem spanischen Kolonialreich allmählich zu extrahieren.

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Anfangs gab es ja durchaus größere staatliche Gebilde: In Südamerika "Großkolumbien"; in Mittelamerika umfasste Mexiko zunächst alle ehemals spanischen Gebiete (außer Panama), dann nach der Abspaltung des Südens gab es dort die "Bundesrepublik von Zentralamerika". Auch diese Staaten zerbrachen, ebenso ein kurzlebiger Konföderationsversuch aus Peru und Bolivien. Das kann man nicht allein mit den rivalisierenden "Befreiern" begründen, und man kann nicht erzwingen, was anscheinend nicht sein soll.

Sogar in den Staaten, die sich letztlich herauskristallisierten, gab es immer wieder Sezessionsversuche. Z.B. war Yukatan mehrmals kurzzeitig von Mexiko unabhängig.

Beim Vergleich mit Kanada sollte man nicht die Separationsbestrebungen in Quebec vergessen. Auch Brasilien blieb von Sezessionsversuchen nicht verschont.
 
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Bin vor kurzem in Kolumbien gewesen und mir ist der Heldenkult um den Befreier ("Libertador") Bolivar aufgefallen.
Ja, da hat Kolumbien kein Alleinstellungsmerkmal: Das Land Bolivien trägt seinen Namen und in Venezuela nennt (oder nannte?) man die Währung Bolívares, sein Portrait hing - zumindest vor 25 Jahren - in Vz. in jedem Klassenraum und jeder Amtsstube und man sah auch oft Murales mit ihm. Ich nehme aber an, dass das noch heute so der Fall ist. Ach ja, Vz. bezeichnet sich selbst ja als República Bolivariana de Venezuela. Ich war damals auf dem Campo de Carabobo (ich wurde dort hingebracht), fand ich etwas befremdlich.

Ich selbst habe ein zwiespältiges Verhältnis zu seiner historischen Wirkung. Er war zweifelsohne ein großer Mann mit Weitsicht, aber wie viele solcher Weltgeister, um Hegel zu bemühen, hat er letztlich vielleicht mehr kaptt gemacht als Neues gestiftet.

Seine Befreiungszüge - die nebenbei bemerkt auch royalistische Gebiete wie Peru "befreit" haben, die wohl eher unter spanischer Herrschaft bleiben wollten - und die zeitgleichen Feldzüge von San Martin haben die Einheit Hispanoamerikas zerstört., ohne etwas Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen (was an die germanischen Nachfolgestaaten des weströmischen Reiches erinnert).
Hier möchte ich gleich in dreifacher Hinsicht widersprechen:
  1. Hispanoamerika war zwar vom spanischen Mutterland abhängig, aber keine Einheit. Es war ein Mix aus Vizekönigreichen und Territorien mit anderem juristischen Status.
  2. Es ist nicht die Schuld von Bolívar, dass Großkolumbien zerbrach.
  3. Dass San Martín, Bolívar und andere sich im Unabhängigkeitskampf hervorgetan haben, war ein in Spanien gemachtes Problem. Die Amerikaspanier (Criollos, Kreolen) als Träger der Revolution waren eben den Europaspaniern nicht gleichgestellt, sondern standen eine Stufe unter diesen. Sie waren benachteiligt. Zudem war die merkantilistische Wirtschaftspolitik der Boubonen eher unvorteilhaft für sie. Als dann Napoleon 1808 die Bourbonen in Hausarrest in Bayonne nahm, Spanien besetzte und seinen Bruder Joseph (Pepe de las Botellas) zum König von Spanien machte, war Bolívar zunächst noch in spanischen Diensten. Die langwierigen Diskussionen um die liberale Verfassung von 1812, bei denen zunächst nicht klar war, ob die Amerikaspanier die gleichen Rechte haben würden, wie die Europaspanier, waren auch nicht geeignet, die Kreolen loyalistisch gesinnt zu stimmen.
: Ja, Hispanoamerika verkauft sich seit seiner Unabhängigkeit stark unter Wert und schuld daran ist vor allem seine territoriale Zersplitterung, die mit den "Befreiungszügen" angefangen hat. Rückblickend wäre es besser gewesen, sich wie später der ebenso riesige kanadische Bundesstaat friedlich und in Einheit aus dem spanischen Kolonialreich allmählich zu extrahieren.
Wie gesagt, das war schon vorher so angelegt, nicht erst durch die Befreiungszüge. Und Patagonien war zum damaligen Zeitpunkt z.B. noch gar kein Teil des spanischen Weltreichs, kam erst nach und nach zu Argentinien und Chile. Auch sind die Unabhängigkeitsbewegungen zwar zeitnah aber nicht zeitgleich gewesen. Es war damals viel im Fluss, auch in Spanien. Bei einigen Ländern hat auch die bourbonische Restauration eien Rolle gespielt.
In México haben tw. dieselben Leute, die gegen indigene Unabhängigkeitsbestrebungen (Grito de Dolores, Hidalgo) kämpften, später gegen Spanien gekämpft, als das nationale Projekt von der weißen Bourgeoisie forciert wurde - aufgrund der bourbonischen Restauration.
 
Rückblickend wäre es besser gewesen, sich wie später der ebenso riesige kanadische Bundesstaat friedlich und in Einheit aus dem spanischen Kolonialreich allmählich zu extrahieren.

In der kanadischen Geschichte ist das allerdings etwas anders gelaufen, da war die Kolonialmacht Großbritannien bereit den Zusammenschluss der verschiedenen kanadischen Territorien zu einer Konföderation und seine Selbstverwaltung innerhalb des britischen Empire als "Dominion" weitgehend zu unterstützen.
Das passierte in den 1860er Jahren und war nicht zuletzt Erfahrungen mit und Befürchtungen im Bezug auf die USA geschuldet.

- Zum einen hatte man erlebt, wie die ehemaligen 13 Kolonien sich aus der britischen Einflusszone verabschiedet hatten, weil sich die Bewohner von London zu sehr bevormundet fühlten und wollte diesen Fehler in Kanada nicht wiederholen, unter anderem deswegen die weitgehende Selstverwaltung.

- Zum anderen wollte man eine einheitliche, einigermaßen widerstandsfähige Struktur haben, die sich die USA nicht so einfach einverleiben konnten. Dazu muss man etwas den historischen Kontext um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum sehen:

1.) Ende der 1840er Jahre, hatten die Vereinigten Staaten Krieg gegen México geführt und sich weitläufige Gebiete (entsprechend den heutigen US-Bundesstaaten Kalifornien, Nevada, Arizona, Utah und New Mexico) einverleibt.
2.) Im den 1850er Jahren, durchaus auch in Verbindung mit der Auseinandersetzung um die Zukunft der Sklaverei tauchten auch Ideen auf, die karibischen Inseln, im Besonderen Kuba und Haiti in die Vereinigten Staaten zu inkorporieren, wenn nötig gewaltsam:
3.) Dadurch, dass Mitte des 19. Jahrhunderts der Nordwesten des nordamerikanischen Kontinents in Teilen noch von europäischen Siedlern unerschlossen war, war auch in diesem Gebieten die letztendliche Grenzziehung zwischen den von den USA und von den britischen Kolonien beanspruchten Gebieten noch nicht eindeutig geregelt/geklärt.
4.) Unter anderem hatten Grenzfragen und bei einigen US-Amerikanern wohl auch die Vorstellung, dass am Besten ganz Kanada an die USA angeschlossen werden sollte schon zu den Ursachen des Krieges von 1812 zwischen Großbritannien und den USA beigetragen:
5.) Im Zuge des US-amerikanischen Bürgerkrieges entstand dort (wenn auch nur kurzfristig) ein militärisches Potential, dass vorher in dieser Form nicht vorhanden war.

Insofern war es für die britische Kolonialmacht strategisch durchaus sinnvoll eine Vereinigung der kanadischen Kolonien zu unterstützen um dem Expansionsdrang, der zu diesem Zeitpunkt durchaus expansionistischen und bis an die Zähne bewaffneten USA mehr entgegensetzen zu können und das ganze nicht komplett an die USA zu verlieren.

Im kanadsichen Fall machte es für die Kolonialmacht durchaus Sinn, diesen Projekten aufgeschlossen gegenüber zu stehen, aber das eine Kolonialmacht dass so sieht oder gesehen hat, ist eher die Ausnahme.

Zum einen war es wesentlich einfacher in einem kleinteilig organisierten Kolonialreich das Übergewicht gegenüber den jeweiligen einzelnen Kolonien zu behalten, zum anderen war auch herrschaftstechnisch eine kleinräumige Ordnung insofern vorteilhaft dass dann die Verwaltung der Kolonien stärker auf die regionalen und naturräumlichen Besonderheiten achten und das in ihre Herrschaftspraxis mit einbeziehen konnte.

Im Fall des britischen Kolonialreichs in Nordmaerika kommt noch hinzu, dass es sich explizit um Siedlungskolonien handelte und dass es lange Traditionen der Selbstverwaltung durch die oligarchischen Kolonialeliten gab. So hatten z.B. bereits im 18. Jahrhundert in der Kolonialzeit, vor der Gründung der USA die meisten der 13 Kolonien zwar königliche Gouverneure (die nur relativ beschränkte Macht hatten), daneben allerdings durchaus eingene, nur von ihnen besetze Parlamente, die Befugt waren innerhalb der Grenzen der jweiligen Bundesstaaten selbst Gesetze zu erlassen, so lange diese nicht dem britischen "common law" widersprachen oder auf Separation von der britischen Krone abzielten o.ä.

Anders als im spanischen Kolonialreich, dass unter völlig anderen Prämissen enstanden war, gab es im britischen Nordamerika (in den afrikanischen und asiatischen Kolonien war das anders) keine ausschließlich von aus Europa kommenden Leuten dominierte Kolonialverwaltung, zu der den kolonialen Eliten der Zugang zum Teil verwehrt oder sehr erschwert wurde, was zum Gefühl der Diskriminierung erheblich beitragen musste, sondern die Bewohner der britischen Kolonien verwalteten sich weitgehend selbst.
Die britische Kolonialmacht betrieb auch eine sehr vorsichtige/zurückhaltende Besteuerungspolitik in Nordamerika und versuchte nicht in dem Ausmaß den Handelsverkehr zentralistisch zu steuern, wie dass von spanischer Seite her versucht wurde.
Zwar gab es bei den Briten auch bis ins 19. Jahrhundert heinen Monopolgesellschaften, die ihre Hand auf dem Handel in einer bestimmten Weltregion hatten, aber was es nicht gab, waren Versuche den Warenverkehr zwischen Europa und den Kolonien in bestimmten Häfen zu monopolisieren oder den Handelsverkehr zwischen den Kolonien zum Teil zu unterbinden und dass alles über Europa laufen zu lassen (auch wenn die Praxis oft anders ausgesehen haben dürfte).

Die Britische und die Spanische Art mit Kolonien umzugehen, schuf sehr verschiedene Grundlagen für deren spätere Entwicklung.


Im Hinblick auf die Vorstellung eines Vereinigten Südamerikas würde ich auch sagen, dass wäre, selbst wenn Bereitschaft dazu vorhanden gewesen wäre, mit der vorhandenen Technik wahrscheinlich in den 1820er Jahren nicht so ohne weiteres möglich gewesen.
Eisenbahnen und Telegraphie gab es noch nicht und in Sachen Verkehrsinfrastruktur hat Südamerika ja bis heute in Teilen Probleme.
Ich habe vor einiger Zeit mal Tim Marshalls Buch "Die Macht der Geographie" in der Hand gehabt.
In dem wird Südamerika bildhaft als "hohler Kontinent" geschildert, womit gemeint ist, dass ein Großteil der größeren Städte an den Küsten liegen, während es kaum direkte Verkehrsachsen durch das vom Amazonasbecken, den dortigen Regenwäldern dominierten Zentrum des Kontinents gibt, was unter Umweltgesichtspunkten zwar ein Segen sein dürfte, wirtschaftlich und für die Vernetzung der Region aber ein Problem darstellt.
Ohne Panama-Kanal waren damit Ost-West Verbindungen erstmal relativ schwierig, während die Anden ein Hindernis in Nord-Süd-Richtung darstellten, jedenfalls auf dem Landweg.
Ein solches Territorium als Ganzes wäre mit vormodernen Mitteln kaum zu verwalten gewesen.
Das war schon in den USA am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, allein wegen der großen Entfernungen sehr schwierig (z.B. die Organisation landesweiter Wahlen, allgemeine Bekanntgabe von Gesetzen etc.) und damals reichte das Territorium nur bis zu den großen Seen im Norden und zum Missisippi im Westen.
Der Umstand dass für das 19. Jahrhundert in den Staaten vom sprichwörtlichen "wilden Westen" die Rede ist, rührt ja unter anderem daher, dass es in diesen Gebieten kaum Infrastruktur und auch keine oder kaum effektive Kontrollmöglichkeiten der an der Ostküste sitzenden Regierung gab, und ohne den Bau von Eisenbahnlinien und die elektrische Telegraphie hätte sich das auch kaum geändert.

Ein vereinigtes Südamerika hätte für viele Gegenden vor den gleichen Problemen gestanden, nur ohne in den 1820er und 1830er Jahren praxistaugliche technische Lösungen dafür in Sicht zu haben.
 
Nur schafften die Spanier es ja auch, ihr lateinamerikanisches Kolonialreich (das allerdings, wie bereits angemerkt, nie ein einheitliches Gebilde war) zu verwalten und über 200 Jahre lang zusammenzuhalten. Auf der anderen Seite der Welt gelang es Russland, trotz schlechter Verkehrsverbindungen (Wald, Steppen und Wüsten, dazu Flüsse, die großteils in die Nord-Süd- oder Süd-Nord-Richtung fließen statt praktischerweise von West nach Ost) nach Sibirien und Zentralasien zu expandieren.
Ich glaube daher, dass von den naturräumlichen Gegebenheiten her allein ein vereinigtes Lateinamerika nicht zwingend zum Scheitern verurteilt war, zumindest nicht, wenn es dezentralisiert-föderal aufgebaut gewesen wäre. In der Praxis ist es aber mit Föderalismus in den meisten lateinamerikanischen Staaten nicht weit her, die Regionen haben meist eher wenig Kompetenzen (zumindest verglichen mit den US-Bundesstaaten, vor allem in den ersten Jahrzehnten nach Gründung der USA).
 
Sogar dreihundert Jahre lang konnten die Spanier ein Riesenreich zusammenhalten (zufällig war ich bei der 500-Jahr-Feier von Santa Marta zugegen, wo man sich der Zeitläufe bewußt wurde).

Ab den 1830er Jahren hätte es in Form der Eisenbahn und des Telegraphen auch die technischen Vorausetzungen für die Erschließung und Beherrschung des weiten Raums gegeben, von denen aber anders als in den USA kaum Gebrauch gemacht wurde (bis heute ist das Eisenbahnnetz in Südamerika völlig unterentwickelt).

Bolivar hatte zwar die Kraft die alte Ordnung zu zerschlagen, aber die neue, die er geschaffen hatte, entglitt sehr schnell seiner Kontrolle. Napoleon dagegen sah von St. Helena mühelos das Potential zur Imperiumsbildung auf dem amerikanischen Kontinent. Es gab zwar unter den Spaniern unterschiedliche Verwaltungszonen ("Vizekönigreiche"), aber die kulturelle Einheit in der Vielheit war - ähnlich wie im klassischen Deutschland oder dem antiken Griechenland - völlig offensichtlich (und ist es bis heute). Anders hätten Bolivar und San Martin auch gar nicht so einträchtig zusammenwirken können.

Das moderne Schicksal Lateinamerikas erinnert ein wenig an das der Araber. Man beschwert sich gerne, daß man vom Westen hin- und hergeschubst wird, bringt aber selbst nicht die Kraft auf, der kulturellen Einheit die politische folgen zu lassen. Statt dessen ist man unablässig mit seiner eigenen mangelnden Effizienz und dem "macroparasitism" (William McNeill) der korrupten 'Eliten' beschäftigt, die statt kolonialer nun einheimischer Herkunft sind.

All das konnte Bolivar als Tatmensch mit einer kurzen Lebensspanne in einer revolutionären Umbruchszeit natürlich kaum in seiner ganzen Weite und Tiefe erahnen, aber in seiner unfreiwillig destruktiven weltgeschichtlichen Wirkung erinnert er rückblickend an die germanischen Föderaten der Völkerwanderungszeit, die mit der Beseitigung der römischen Oberherrschaft auch zugleich die Chance auf eigene zivilisatorische Größe begruben.

Mich würde mal interessieren, wie seine Figur in Panama gesehen wird. Denn der Befreiungspathos richtet sich dort ja nicht so sehr gegen die spanische Kolonialherrschaft, sondern gegen den kolumbianischen Zentralismus, den er selbst vertrat.
 
Sogar dreihundert Jahre lang konnten die Spanier ein Riesenreich zusammenhalten (zufällig war ich bei der 500-Jahr-Feier von Santa Marta zugegen, wo man sich der Zeitläufe bewußt wurde).
Du warst ja auch in Perú, oder?
Neben dem Regierungspalast in Lima liegt die Casa de Aliaga. Die Aliagas sind bis heute eine wichtige Familie in Perú, die in der nationalen Politik mitmischen. Der erste Aliaga (Jeónimo de Aliaga) kam mit Pizarro ins Land und bekam von Pizarro ein Grundstück - eine Huaca/Wak'a - zugewiesen, auf der er seinen Palast errichtete. Sein Nachfahre Diego de Aliaga war 300 Jahre später Militär, Kaufmann und Politiker, der einerseits zwischen dem peruanischen Vizekönig und José de San Martín vermittelte, andererseits der Revolution Geld zukommen ließ, gleichzeitig aber auch wiederum an der Revolution verdiente (indem er z.B. Simón de Bolivar Blei verkaufte). Er wurde im Nov. 1823 Vizepräsident von Perú, trat aber im Februar 1824 schon wieder von diesem Amt zurück und verhandelte mit den spanischen Truppen (gemeinsam mit dem Präsidenten, dessen Vize er war), aus Angst vor der Rache Bolívars begaben sie sich dann in spanischen Gewahrsam, wo neben Diego de Aliaga auch sein Bruder Juan-José de Aliaga an Skorbut starben.
Felipe Pardo y Aliaga - ein Verwandter - wurde später peruanischer Außenminister, die Aliagas mischen bis heute in der peruanischen Politik mit.

Warum rekurriere ich auf diese Familie?

Weil sie gewissermaßen exemplarisch ist: Die Unabhängigkeit in den amerikanischen Kolonien war kein Projekt der indigenenen Bevölkerung oder der Sklaven, keines der Castas. Es war ein Projekt der weißen Oberschicht, die sich - siehe die Brüder Aliaga - manchmal auch ambivalent - verhielt. Auch ein Simon Bolívar oder ein José de San Martín, ein Bernardo O'Higgins, ein Agustín de Iturbide oder ein Antonio López de Santa Anna waren ambivalent - José de San Martín, Agustín de Iturbide und Santa Anna hatten ihre Karriere als Militärs begonnen, bekämpften zunächst den Independentismus, bevor sie zu ihm überliefen und dessen Führungsfiguren wurden. Bernardo O'Higgins* war der (uneheliche) Sohn eines Vizekönigs von Perú (Ambrosio O'Higgins*), Simón de Bolivar hatte bei seiner Grand Tour in Madrid geheiratet, er nahm sein Frau mit nach Caracas bzw. San Mateo, wo sie kurz darauf an Sumpffieber erkrankte und in Caracas verstarb.

Wikipedia (Simón Bolívar - Wikipedia, la enciclopedia libre )

En su obra Bolívar, el historiador español Salvador de Madariaga se referirá a la muerte de María Teresa en los siguientes términos: «Este final súbito de la vida retirada y personal de una joven de ventiún años ha sido quizás uno de los acontecimientos claves de la historia del Nuevo Mundo».​

Also der Tod der 21jährigen Frau des 20jährigen Simón de Bolívar sei einer der Schlüsselmomente der lateinamerikanischen Geschichte. Warum? Simón de Bolivar ging wieder nach Europa, wo er in Kontakt mit den Freimaurern kam und selber einer wurde. Ob man sich Madariaga in seiner Bewertung anschließen muss, sei dahingestellt.

Diese Familien waren alle groß, weil sie Teil der spanischen Oberschicht waren. Gleichzeitig waren sie aber von der spanischen Bevormundung genervt, deren Funktionäre sie ja waren, die sie zu Spaniern zweiter Klasse machte. Als dann Carlos IV. und sein Sohn Fernando (der spätere VII./El Deseado) 1808 von Napoleon in Bayonne in Hausarrest genommen wurden und Fernando nach 1814 eine brutale Restauration durchsetzte (sogar Leute, die in Spanien für ihn gegen die frz. Besatzung gekämpft hatten, hinrichten ließ) brach sich eine lang aufgestaute Unzufriedenheit Bahn. Der Absolutismus hatte abgewirtschaftet und Fernando hatte gezeigt, dass eine konstitutionelle Monarchie mit ihm nicht zu machen war.

Bis 1808/1810 war die spanische Monarchie die Klammer, die die hispanoamerikanischen Kolonien zusammenhielt. Als die Monarchie (dependenztheoretisch die Metropole) nicht mehr da war, bildeten die (dependenztheoretisch) Peripherien ihre eigenen Metropolen. Weil die Partikularinteressen der Akteure eben nicht die waren, wieder von irgendeinem weit entfernten Ort abhängig zu sein. Warum sollten Buenos Aires oder Santiago von Lima abhängig sein? Warum sollten Cartagena und Caracas von Bogotá abhängig sein? Das lag einfach nicht im Interesse der maßgeblichen Akteure.




*die O'Higgins sind vielleicht namentlich etwas überraschend: Aber da im katholischen Irland die Katholiken Repressionen ausgesetzt waren, z.B. keine Schule besuchen durften und im Rahmen der Plantations land an anglikanische (englische) oder episkopale oder presbyterianische (schottische) Siedler verloren, schickte die irische Oberschicht ihre Söhne nach Italien, Spanien oder Frankreich, wo es irische Schulen gab. Die O'Higgins gehörten zu einer solchen irischen Familie.
 
Napoleon dagegen sah von St. Helena mühelos das Potential zur Imperiumsbildung auf dem amerikanischen Kontinent.
Naja, Napoleon hat ja St. Helena nicht mehr verlassen. Was der machtbesessene (und offensichtlich auch sehr charismatische) Napoleon sich da per Ferndiagnose ausmalte, hat er nie umsetzen können, daher können wir allenfalls Wahrscheinlichkeiten bestimmen, ob ihm ein solcher Coup gelungen wäre, oder nicht. Ich würde dies eher verneinen, denn, siehe oben, Stichwort Dependenztheorie: Metropole und Peripherie - die weiße Oberschicht von Quito wollte nicht mehr Peripherie sondern Metropole sein.
 
Auf der anderen Seite der Welt gelang es Russland, trotz schlechter Verkehrsverbindungen (Wald, Steppen und Wüsten, dazu Flüsse, die großteils in die Nord-Süd- oder Süd-Nord-Richtung fließen statt praktischerweise von West nach Ost) nach Sibirien und Zentralasien zu expandieren.

Schon, aber wie sah es mit der tatsächlichen Durchdringung aus?
Bis zum Bau der transsibirischen Eisenbahn und bis vor allem die Sowjets anfingen, auch die Regionen östlich des Ural geplant zu durchdringen und zu modernisieren, , gab es in ganz Sibirien ein paar Hand voll befestigter kleinerer Ortschaften und ein paar Strafkolonien über die St. Petersburg irgendeine Art peripherer Kontrolle hatte, der Rest entzog sich dem doch weitgehend und war staatsferner Raum.
Nun hatten die Zaren dass Glück, dass dort das Klima in Teilen ziemlich extrem ist, der Großteil Sibiriens schon immer dünn und von zum Teil halbnomadischen Gruppen besiedelt war und dass es dort im Prinzip nichts gab, was als Gegenmachtzentrum hätte infrage kommen können, Abgesehen vielleicht von den größeren zentralaisatischen Orten, aber die kamen ja erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum russischen Machtbereich hinzu.

Ich glaube daher, dass von den naturräumlichen Gegebenheiten her allein ein vereinigtes Lateinamerika nicht zwingend zum Scheitern verurteilt war, zumindest nicht, wenn es dezentralisiert-föderal aufgebaut gewesen wäre.
Vielleicht wäre es nicht völlig unmöglich gewesen, aber sehr sehr schwierig.

Sogar dreihundert Jahre lang konnten die Spanier ein Riesenreich zusammenhalten
Aber nicht als Einheit. Nach weitgehendem Abschluss der spanischen Expansion in Lateinamerika gab es dort immer mehrere nebeneinander existierende Vizekönigreiche, Zahl und Grenzziehung zueinander änderten sich zuweilen.

Vor dem Ausbruch der Revolutionen in Lateinamerika gab es auf dem amerikanischen Doppelkontinent mit "Neuspanien", "Neugranada", "Perú" und "Rio de la Plata" vier von einander getrennt regierte Vizekönigreiche.

Ab den 1830er Jahren hätte es in Form der Eisenbahn und des Telegraphen auch die technischen Vorausetzungen für die Erschließung und Beherrschung des weiten Raums gegeben, von denen aber anders als in den USA kaum Gebrauch gemacht wurde (bis heute ist das Eisenbahnnetz in Südamerika völlig unterentwickelt).
Naja, es gab die ersten Prototypen davon.
Es dauert aber bis in die 1840er und 1850er Jahre hinein, bis dass allein in Europa einigermaßen ausgereift und so weit aufgebaut war, dass es die wichtigsten Orte miteinander verband und vor allem, war es auch sehr teuer und Ressourcenintensiv.
Eisenbahnbau war ohne die indusrtrielle Produktion von Stahl und industrielle Kohleförderung in der Weise, wie das in Europa und in den vereinigten Staaten passierte nicht denkbar.
Hinzu kommt ein enormer Finanzbedarf, der von den üblichen kleinen privaten Bankhäusern in der Regel nicht zu stemmen war, so dass entweder de facto Aktiengesellschaften gegründet werden mussten um das zu stemmen oder es mussten enorme staatliche Zuschüsse her um das zu finanzieren, was aber natürlich ein entsprechendes Steueraufkommen voraussetzte.

Und dann hatte man ja zunächst auch relativ leistungsschwache Maschinen, die in beladenem Zustand nicht ohne weiteres hohe Steigungen bewältigen konnten. Mit der Technik von 1830 mal eben eine Eisenbahn durch die Anden zu bauen hätte nicht funktioniert, so weit war man dann technisch vielleicht irgendwann am Ende des 19. Jahrhunderts, aber nicht am Anfang und bei der Überbrückung großer Flüsse durch die Eisenban galt natürlich ähnliches.
Da mussten erstmal Brückenkonstruktionen entwickelt und gebaut werden, die das Gewicht von Zügen überhaupt zuverlässig tragen konnten auch dass erforderte zusätzliche Innovation und war material und kostenintensiv.

Wenn du dir anschaust, wie dass in den USA läuft:

Da ging es mit dem Eisenbahnbau durch die großen unerschlossenen Räume vom Missisippi bis zum Pazifik auch erst in den 1860er Jahren los, weil das vorher überhaupt noch nicht machbar war:


Telegraphie war weniger ressourcenintensiv, aber knickt ein Sturm einen Telegraphenmasten weg, oder wird einer von einem Hochwasser weggespühlt, ist die Leitung dann halt im Zweifel irgendwo mitten im Nirgendwo unterbrochen.


Bolivar hatte zwar die Kraft die alte Ordnung zu zerschlagen, aber die neue, die er geschaffen hatte, entglitt sehr schnell seiner Kontrolle. Napoleon dagegen sah von St. Helena mühelos das Potential zur Imperiumsbildung auf dem amerikanischen Kontinent.
Was genau wusste Napoléon von den Verhältnissen in Südamerika? Napoléon war ja z.B. auch der Meinung gewesen Spanien relativ einfach sozusagen in eine Filliale des Bonaparte-Familienimperiums umbauen zu können. Da hatte er sich allerdings ziemlich verschätzt.
Napoléon kannte sich im französischsprachigen Raum und in Italien, was die lokalen Verhältnisse und Befindlichkeiten angeht recht gut aus und da war er in Sachen Imperienbildung auch relativ erfolgreich.
Schon auf der iberischen Halbinsel scheint er erhebliche Schwierigkeiten gehabt zu haben zu verstehen, wie die Bevölkerung dort tickte und auf seine Schritte und auf die seines Brudes Joseph reagieren würde.

Napoléon mag in den Ergeignissen in Südamerika, soweit sie ihm auf St. Helena zur Kenntnis kamen ggf. Parallelen zur französischen Revolution gesehen haben, wie weit das eiene Berechtigung hatte, steht auf einem anderen Blatt.

Es gab zwar unter den Spaniern unterschiedliche Verwaltungszonen ("Vizekönigreiche"), aber die kulturelle Einheit in der Vielheit war - ähnlich wie im klassischen Deutschland oder dem antiken Griechenland - völlig offensichtlich (und ist es bis heute). Anders hätten Bolivar und San Martin auch gar nicht so einträchtig zusammenwirken können.
Das ist ein Missverständnis.

Die Vizekönigreiche waren nicht einfach "Verwaltungszonen" ein und des gleichen Apparates, die zentralistisch nach den gleichen Richtlinien funktionierten, sondern dass waren völlig unterschiedlich von einander und nach völlig unterschiedlichen Methoden regierte Territorien, die zwar alle eine spanischsprachige Oberschicht hatten, deren Gesamtbevölkerung sich aber deutlich von einander unterschied.

Im Gebiet des heutigen Venezuela z.B. gab es ausgedehnte Plantagenwirtschaft, was zum Jahrhundertelangen "Import" afrikanischer Sklaven führte, die in weiten Teilen von Perú eher gefehlt haben dürften.
Auch unterschieden sich natürlich die indigenen Gruppen im karibischen Raum deutlich von denen im Andenraum.

Kulrurell einigermaßen homogen war wenn überhaupt die amerikaspanische Oberschicht, aber dass allein reicht nicht um einen halben Kontinent zu vereinen.
Die europäischen Adligen, den 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts hatten auch viel gemeinsam. Vielfach den gleichen Glauben/die gleiche Konfession, die Mode, die gleiche Bildung, die gleiche französische Sprache, mit der sie sich verständigen konnten...........
Die Gemeinsamkeiten die ein angehöriger des Französischen Hochadels in Paris mit einem Österreichischen Adligen in Wien oder einem Italienischen in Rom hatte, dürften ähnlich groß gewesen sein, wie die der Eliten der verschiedenen spanischen Vizekönigreiche untereinander.
Trotzdem käme man nicht auf die Idee, dass sie auf Grund ihrer Gemeinsamkeiten mal eben Europa zu einem Riesenreich hätten vereinigen können.

die O'Higgins sind vielleicht namentlich etwas überraschend: Aber da im katholischen Irland die Katholiken Repressionen ausgesetzt waren, z.B. keine Schule besuchen durften und im Rahmen der Plantations land an anglikanische (englische) oder episkopale oder presbyterianische (schottische) Siedler verloren, schickte die irische Oberschicht ihre Söhne nach Italien, Spanien oder Frankreich, wo es irische Schulen gab. Die O'Higgins gehörten zu einer solchen irischen Familie.
Das ist eigentlich überhaupt nicht so überraschend, wenn man weiß dass schottische und irische Katholiken gerne mal auswichen.

Die finden sich vor allem im 18. Jahrhundert auch gerne mal im Europäischen Militäradel, z.B. im Siebenjährigen Krieg.

Z.B In der Schlacht von Lobositz 1756 wurden die Österreicher von eine irischstämmigen Feldmarschall namens Maximillian Ulysses Browne kommandiert, der zuvor schonmal Militärgouverneur von Siebenbürgen gewesen war. Auf der preußischen Seite nahm unter anderem unter dem Oberbefehl Friedrich II. ein aus Schottland gebürtiger General nahmens James Francis Edward Keith teil, der vor Lobositz die preußischen Truppen bei der Belagerung von Pirna kommandiert und vor seiner Karriere in Preußen schon in russischen Diensten gestanden hatte.

Mal eine Rückfrage zu den O'Higgins:

In Chile gibt es ja bis heute eine Provinz, die den Namen O'Higgins trägt, die war mir bei einem Geographie-Quiz im Netz mal aufgefallen.
Handelt es sich da um eine Ehrung, die sich auf Bernardo O'Higgins bezieht?

Provinzen/Verwaltungseinheiten, mit dem Namen "Bolivar" gibt es ja in vielen lateinameriaknischen Ländern, aber andere Ehrungen dieser Art waren mir in den lateinamerikanischen Ländern bislang nicht aufgefallen, außer evt. in Chile.
Warum es das in México in Form eines Bundesstaates "Iturbide" nicht gibt, kann ich mir denken.
 
Zuletzt bearbeitet:
Warum es das in México in Form eines Bundesstaates "Iturbide" nicht gibt, kann ich mir denken.
Dafür gibt es einen Bundesstaat namens Hidalgo.

Schon auf der iberischen Halbinsel scheint er erhebliche Schwierigkeiten gehabt zu haben zu verstehen, wie die Bevölkerung dort tickte und auf seine Schritte und auf die seines Brudes Joseph reagieren würde.
Napoleon selbst schrieb, dass der Krieg in Spanien seine Niederlage verursacht habe.

Kulrurell einigermaßen homogen war wenn überhaupt die amerikaspanische Oberschicht, aber dass allein reicht nicht um einen halben Kontinent zu vereinen.
Wenn diese amerikaspanische Oberschicht das Interesse daran gehabt hätte, hätte es gereicht, denn sie war Träger der Revolution, nicht die indigene Bevölkerung oder die afrikanischstämmigen Sklaven. Wie ich schon schrieb: Es hat mit Metropole und Peripherie zu tun. Es wollte niemand mehr Peripherie sein, sondern alle Metropole.
 
Zuletzt bearbeitet:
In der kanadischen Geschichte ist das allerdings etwas anders gelaufen, da war die Kolonialmacht Großbritannien bereit den Zusammenschluss der verschiedenen kanadischen Territorien zu einer Konföderation und seine Selbstverwaltung innerhalb des britischen Empire als "Dominion" weitgehend zu unterstützen.
Das passierte in den 1860er Jahren und war nicht zuletzt Erfahrungen mit und Befürchtungen im Bezug auf die USA geschuldet.

- Zum einen hatte man erlebt, wie die ehemaligen 13 Kolonien sich aus der britischen Einflusszone verabschiedet hatten, weil sich die Bewohner von London zu sehr bevormundet fühlten und wollte diesen Fehler in Kanada nicht wiederholen, unter anderem deswegen die weitgehende Selbstverwaltung.

4.) Unter anderem hatten Grenzfragen und bei einigen US-Amerikanern wohl auch die Vorstellung, dass am Besten ganz Kanada an die USA angeschlossen werden sollte schon zu den Ursachen des Krieges von 1812 zwischen Großbritannien und den USA beigetragen:
Der Krieg von 1812-14 spielte tatsächlich für die Entwicklung eines kanadischen Selbstverständnisses eine bedeutende Rolle.

Als Begründung für die Kriegserklärung wurde von den USA die britische Praxis, amerikanische Seeleute in den Dienst der Royal Navy zu pressen. Bei Trafalgar waren auch größere Kontingente von amerikanischen Seeleuten anwesend. Doch das war nur ein Teil der historischen Wahrheit, einige der "Falken" in Washington, darunter auch Andrew Jackson betrachteten GBs Schwierigkeiten im Rahmen der napoleonischen Kriege als eine günstige Gelegenheit, kanadische Territorien zu annektieren.

Ein Großteil der Bewohner Kanadas waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts Loyalisten oder die Nachkommen von Loyalisten aus New York, Pennsylvania, Virginia und den Carolinas.

Politisch war Frankreichs Einfluss in Nordamerika seit 1759 gebrochen, Kulturell aber blieb dieser Einfluss dank einer liberalen britischen Politik erhalten, die Frankokanadier wurden nicht gezwungen, Kanada zu verlassen, sie konnten ihre Sprache, Kultur und Religion bewahren.

Der Krieg von 1812-14 trug stark dazu bei, dass sich unter der sprachlich und kulturell sehr heterogenen Bevölkerung (Franko-Kanadier, Loyalisten und deren Nachkommen) ein genuin kanadisches Selbstverständnis entwickeln konnte.
 
Es ist doch auch zu fragen, was für einen Vorteil ein einiges Spanischamerika gehabt hätte. Die Gebiete waren (soviel ich weiß) wirtschaftlich kaum miteinander verflochten.
Staaten wie Mexiko und Argentinien hatten jedenfalls nicht mit dem Problem geringer Größe zu kämpfen.
(In Mittelamerika mögen die Dinge anderes gelegen haben.)
 
Es ist doch auch zu fragen, was für einen Vorteil ein einiges Spanischamerika gehabt hätte. Die Gebiete waren (soviel ich weiß) wirtschaftlich kaum miteinander verflochten.

Eine viel höhere Widerstandskraft gegenüber den 'imperialen' USA und seinerseits eine wesentlich höhere internationale Setzungsmacht.

Umgekehrt muß die Frage erlaubt sein, welchen Vorteil die Unabhängigkeit Lateinamerika gebracht hat? Wie El Quijote schrieb, fand nur ein Elitenwechsel an der Spitze statt, die sozial-ökonomische Hierarchie darunter blieb aber unangetastet. Die sozialen Konflikte und die gesellschaftlichen Instabilitäten nahmen sogar stark zu oder rückten jedenfalls stärker in den historischen Wahrnehmungsbereich.

Dazu kamen bewaffnete Territorialkonflikte wie der Salpeterkrieg, die bis heute das Verhältnis untereinander belasten. Noch vor ein paar Jahren führten Peru und Ecuador gegeneinander Krieg über einen Fetzen Land.

Zur wirtschaftlichen Verflechtung kann ich nicht viel beisteuern, aber der Fernverkehr entlang des Rückgrats dieses Hispanoamerikas, den Anden, war doch mit der Verschiffung des Silbers aus Potosi (Bolivien) über die Häfen von Panama-Stadt und Cartagena bereits früh gegeben. Natürlich dürfte das Gros der Handelsaktivität auf den lokalen oder regionalen Binnenmarkt beschränkt gewesen sein, also ziemlich kleinteilig gewesen sein, aber das war mit einigen wenigen Ausnahmen (England, Holland, italienische Handelsrepubliken) doch bis zur industriellen Revolution die internationale Norm gewesen.

Du warst ja auch in Perú, oder?
Neben dem Regierungspalast in Lima liegt die Casa de Aliaga.

Danke für den Hinweis. Der Platz ist sehr schön, eine gelungene Mischung aus Repräsentation und Wirtlichkeit, vielleicht der gelungenste der großen Plätze, die ich bis jetzt in Lateinamerika besichtigt habe (mit dem von Cusco zusammen). Auch die sonntägliche Parade der Palastwache war sehr eindrucksvoll. Bei uns hat man solche staatsbejahenden Rituale aus falschem kritischen Geist leider schleifen lassen.
 
Eine viel höhere Widerstandskraft gegenüber den 'imperialen' USA und seinerseits eine wesentlich höhere internationale Setzungsmacht.
Aber das spielte ja in den 1820er Jahren beides noch keine Rolle.

Um 1820 herum reichten die USA gerade einmal bis zum Missisippi (der Louisiana Purchase war da gerade mal 20 Jahre her).

1819 hatte Spanien mit den USA den Adams-Onís-Vertrag abgeschlossen, in dem Spanien Florida, dass bis dahin noch zum spanischen Kolonialreich gehört hatte, an die USA abtrat, während sich die USA damals im Gegenzug verpflichteten keine Ansprüche auf Texas (gehörte noch zu Neuspanien und nach der Unabhängigkeit zunächst zu México) zu erheben:


Zu diesem Zeitpunkt war da noch nicht so viel mit US-Amerikanischem Expansionismus in Richtung des spanischen Kolonialreiches, zumal auch zwischen Appalachen und Missisippi, also dem Großteil des seinerzeit vom napoléonischen Frankreich gekauften Louisiana-Territoriums die Bevölkerung noch recht dünn war und dass Land durch die europäischen Siedler erst langsam erschlossen wurde.

Zu wirklich größeren territorialen Reibereien zwischen den USA und México kam es erst durch den "Texanischen Unabhängigkeitskrieg" Texanischer Unabhängigkeitskrieg – Wikipedia mitte der 1830er Jahre.

Der führte zu einer Abspaltung von Texas vom übrigen México. Die kurzlebige Republik Texas (1836/1845) trat in der Folge, dass sich dieser Konflikt nicht lösen ließ den Vereinigten Staaten bei, was die Beziehungen zwischen den USA und México massiv verschlechterte und seinen Teil zum Krieg zwischen beiden Staaten der dann ein Jahr später ausbrach und bis 1848 dauerte, beitrug.

Davon konnte aber in den 1820er Jahren in Lateinamerika noch niemand etwas wissen. Da sah es zunächst so aus, als wären die interessen zwischen den USA und dem spanischen Kolonialreich in einigermaßen friedlicherweise für längere Zeit abgesteckt.


Im Zuge der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege wurde in den USA 1823 die "Monroe Doctrine" formuliert, die dem europäischen Einfluss in den beiden Amerikas kritisch gegenüberstand und jedem Versuch der europäischen Mächte dort neue Kolonien zu errichten oder solche zurück zu gewinnen, die sich von den europäischen Reichen losgesagt hatten, offen den Kampf ansagte.
Da sich die USA im Zuge der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika für die dortigen Revolutionäre und gegen die Europäer erklärten, werden sie von den Beführwortern der Unabhängigkeit in Lateinamerika auch zunächst mal eher freundlich, nicht als potentielle Feinde wahrgenommen worden sein.

Umgekehrt muß die Frage erlaubt sein, welchen Vorteil die Unabhängigkeit Lateinamerika gebracht hat? Wie El Quijote schrieb, fand nur ein Elitenwechsel an der Spitze statt, die sozial-ökonomische Hierarchie darunter blieb aber unangetastet. Die sozialen Konflikte und die gesellschaftlichen Instabilitäten nahmen sogar stark zu oder rückten jedenfalls stärker in den historischen Wahrnehmungsbereich.
Man könnte die gleiche Frage auch hinsichtlich der Frühzeit der USA stellen.

Die organisierten bei ihrer Gründung das Wahlrecht auf der Ebene der Bundesstaaten und das war nicht selten ein ziemlich restriktives Zensuswahlrecht, dass erstmal nur männlichen Personen mit beachtlichem Landbesitz oder Steueraufkommen überhaupt ein Wahlrecht zubilligte (interessanter Weise waren im ausgehenden 18. Jahrhundert Afroamerikaner, die zu entsprechendem Wohlstand gekommen waren, zummindest in einigen Bundesstaaten noch nicht ausgeschlossen), bis die Besitzqualifikationen für das Wahlrecht allgemein abgeschafft wurden, so dass zumindest die männlichen Teile der weißen Unterschichten auch wählen durften, dauerte es bis in die mitte des 19. Jahrhundert.
Damit blieb auch in den USA das Präsidentenamt erstmal über Jahrzehnte komplett unangetastet in der Hand der Großgrundbesitzer an der Ostküste.
Die Sklaverei blieb fast ein jahrhundert lang unangetastet, die verhassten Steuern, gegen die sich vor dem Unabhängigkeitskrieg der Unmut richtete, wurden jetzt nicht mehr von London, dafür aber erst von New York, dann von Philadelphia (waren Hauptstädte, bevor man Washington D.C. aus dem Boden gestampft hatte) eingefordert und "Representation" gab es nur für die Wohlhabende Oberschicht die die Besitzqualifikationen für das jeweilige Wahlrecht erfüllte, für die männlichen Teile der Mittel und Unterschichten galt noch ein halbes Jahrhundertlang weiterhin "taxation without representation".

Gewonnen hatten also erstmal die kolonialen Eliten, der größte Teil der bevölkerung hatte erstmal herzlich wenig davon, abgesehen davon, dass die US-Regierungen weniger strikt darin waren, koloniale Landnahme weißer Siedler auf Kosten indigener Gruppen zu verbieten.

Was die Unabhängigkeit in beiden Fällen gebracht hat, war eben, dass die Gesetze nicht mehr von außerhalb gemacht wurden (wobei das in den 13 Kolonien ohnehin nur in eingeschränkten Maße der Fall war), dass keine Steuern und Abgaben mehr nach Europa abflossen und dass man nicht mehr von der Außenpolitik der Europäischen Staaten, ihren Kriegen und ihren merkantilistischen Handelsrestriktionen (wobei das gesamteuropäisch betrachtet ohnehin ein auf dem Rückzug befindliches Phänomen war) direkt betroffen war.
Alles weitere sind spätere Entwicklungen.

Dazu kamen bewaffnete Territorialkonflikte wie der Salpeterkrieg, die bis heute das Verhältnis untereinander belasten. Noch vor ein paar Jahren führten Peru und Ecuador gegeneinander Krieg über einen Fetzen Land.
Ja aber wäre das unter anderen Umständen anders gewesen? So lange die Kolonialen Verhältnisse bestanden, führten die Kriege in Europa selbst immer wieder dazu, dass auch in den Kolonien gekämpft wurde.
Das wiederrum musste aus Sicht der Bewohner der Kolonin zum Teil doch viel absurder sein, dass bei ihnen zu Hause gekämpft wurde, nur weil irgendwo im fernen Europa irgendwelche Erbfolgestreitigkeiten ausgebrochen waren oder die Europäer sich über Handelsmodalitäten nicht einigen konnten o.ä.

Und auch andere in die Unabhängigkeit entlassene Koloniale Gebilde führten fragwürdige Kriege um Einfluss und Territorien.
Zu nennen wäre etwa, der schon angesprochene Krieg von 1812, den die USA gegen gegen die Briten führten und wo es nicht zuletzt auch um die Grenze zu Kanada ging.
Hätten sich die ehemaligen spanischen Viezekönigreiche zu einem Lateinamerikanischen Staat zusammengeschlossen, der am Ende nach außen hin deutlich stärker gewesen wäre, als die einzelnen Reiche, wäre dessen Regierung wahrscheinlich früher oder später auf die Idee gekommen mal zu versuchen mit Krieg auch Brasilien oder Teile davon zu inkorporieren und die den europäischen Kolonialmächten verbliebenen Territorien, in Französisch, Britisch und Niederländisch Guayana, die karibischen Inseln und Belize zu schlucken.
Möglicherweise hätte man dass sogar selbst versucht irgendwo, z.B. an den Küsten Afrikas Kolonialmacht zu werden.
Die USA sind genau diesen Weg von der Ehemaligen Kolonie zur Kolonialmacht (Kraibische Inseln, Philippinen) gegangen. Hat zwar seine Zeit gedauert, aber es ist faktisch passiert.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine viel höhere Widerstandskraft gegenüber den 'imperialen' USA und seinerseits eine wesentlich höhere internationale Setzungsmacht.
Wäre es das tatsächlich gewesen? Ein vereinigtes Spanischamerika hätte dennoch das Problerm gehabt, statt über ein kompaktes Territorium über ein extrem langgezogenes Gebiet mit äußerst ungünstigen naturräumlichen Gegebenheiten und einer schlechten Verkehrserschließung zu verfügen. Wäre also z.B. in Mittelamerika ein Expeditionskorps aus den USA oder einem europäischen Staat gelandet, hätte es im 19. Jhdt. wohl Monate gedauert, bis relevante Truppenmassen aus Südamerika herangeschafft worden wären.

Außerdem hätte ein vereinigtes Spanischamerika nichts an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen geändert. Ein ordentliches Heer, das den USA und den europäischen Kolonialmächten tatsächlich Paroli bieten kann, muss erst einmal finanziert und unterhalten werden - und das möglichst ohne dauerhaft den ganzen Staatshaushalt und einen erheblichen Teil des wirtschaftlichen Potentials auszuschöpfen. (Was passiert, wenn ein Staat eine enorme Armee unterhalten und Weltmachtpolitik betreiben will, obwohl er im Grunde nicht über die nötigen wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen verfügt, konnte man am Beispiel der Sowjetunion sehen.)
Man denke etwa an den Krieg der Triple-Allianz, als das damals wirtschaftlich relativ gut dastehende Paraguay eine Armee aufstellte, die es zunächst mit den Truppen Brasiliens, Argentiniens und Uruguays aufnehmen konnte. Auf der einen Seite waren die wesentlich größeren Nachbarstaaten zunächst überfordert, auf der anderen Seite übernahm sich Paraguay komplett.
 
Shinigami, die ethnisch-sozialen Verhältnisse waren in Nord- und Lateinamerika nach der Unabhängigkeit nur bedingt vergleichbar. Das spanische Kolonialreich war praktisch ein Überschichtungsstaat, in dem eine dünne Minderheit an Kreolen über viele Millionen Indios und (Ex-)Sklaven herrschte.

In den USA bildeten die europäischen Siedler dagegen die Masse der Bevölkerung. Die schwarzen Sklaven spielten nur in den unterentwickelten Südstaaten demographisch eine Rolle, Indianer fielen noch weniger ins Gewicht und die Kaste (casta) der Mestizen war klein.

Aufgrund dieser sehr unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse stellte die amerikanische Revolutionvon 1775/76 trotz aller Defizite aus heutiger Sicht eine Demokratisierung weiter Bevölkerungsteile dar, der Unabhängigkeitskampf von Bolivar und San Martin aber nicht.

Der springende Punkt ist aber noch ein anderer. Makrohistorisch betrachtet waren Mesoamerika und das nördlich-zentrale Andenhochland über Jahrtausende die beiden Zivilisationszentren des amerikanischen Doppelkontinents gewesen. Die heutigen USA und Kanada waren dagegen tiefstes und allertiefstes Hinterland. Das war auch noch bei der Landung der Spanier und Engländer der Fall.

Als diese wieder abzogen, hatten diese traditionellen nordamerikanischen 'backwater' aber schon deutlich aufgeholt. Und nach dem Unabhängigkeitskampf Bolivars und San Martins hat sich das politische und ökonomische Gewicht auf dem amerikanischen Kontinent vollends von Süd nach Nord verlagert. Solch ein Deklassierungsprozess, der die longue durée der Geschichte auf den Kopf stellte, sieht man sonst fast nirgendwo in der jüngeren Weltgeschichte.

In der Verantwortung dafür steht das unabhängige, nunmehr politisch fragmentierte Lateinamerika, das sich zwar jetzt selbst regierte, aber von Anfang an nicht lieferte.
 
Wäre also z.B. in Mittelamerika ein Expeditionskorps aus den USA oder einem europäischen Staat gelandet, hätte es im 19. Jhdt. wohl Monate gedauert, bis relevante Truppenmassen aus Südamerika herangeschafft worden wären.

Dieselben Probleme des Raums würden aber auch gegen ein schnelles Vorrücken Interventionsarmeen wirken. Je größer die strategische Tiefe, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß solche Schiffsexpeditionen zum Erfolg führen. Nicht umsonst führten die US-Amerikaner direkte militärische Eingriffe nur in Mittelamerika und der Karibik aus, aber niemals gegen die Flächenstaaten Südamerikas. Gegen einen massiven lateinamerikanischen Großstaat mit gewaltigem Hinterland wäre diese Taktik nutzlos gewesen.


Außerdem hätte ein vereinigtes Spanischamerika nichts an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen geändert.

Ja. Ein Großreich alleine schafft noch keinen wirtschaftlichen Wohlstand, siehe Sowjetunion. Aber es kann über Skaleneffekte dazu erheblich beitragen. Und schafft echte außenpolitische Unabhängigkeit.
 
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