Ich habe mir das von köbis17 anfangs erwähnte Buch mal besorgt und kann es empfehlen. Hinweis: Die Autorin instistiert streng auf dem Frankreich-Bezug; die Verhältnisse im Osten etwa oder in den KZ-Bordellen bezeichnet sie - zu Recht - als nicht vergleichbar. (Auch über die Genese im Ersten Weltkrieg schreibt sie nix, leider.)
Zu den Fragen aus #1 ist ja einiges Beachtliche gesagt worden, insbesondere in #6, #13, #23 und #39; ich bitte allfällige Redundanzen zu entschuldigen.
1. Menschenbild
Hitler wird mit der Auffassung zitiert, Männer bräuchten - von Natur aus - sexuelle Befriedigung. Wie ich schon in #24 mit Bezug auf ein simples Triebmodell angedeutet habe, wusste er sich darin einig mit hohen und höchsten Militärs, welche [#35] auf die "militärische Tradition" und das "soldatische Empfinden" verwiesen. Die Autorin bestätigt, dass dies auch bei den Spitzen der Wehrmacht so gesehen wurde. - Trägt man dem nicht Rechnung, so die implizite Argumentation, drohen weit größere Übel, etwa dass zucht-lose Kameraden gewaltsam über Frauen herfallen oder gar übereinander.
Zwei Beispiele zur dennoch anhaltenden Diskussion: Ein leitender Sanitätsoffizier klagte 1942 über "einzelne Kommandeure und Offiziere", die "immer noch glauben, aus einer mißverstandenen Moralanschauung heraus gegen die Einrichtung der Bordelle Sturm laufen zu müssen. Damit ist den Bedürfnissen des Mannes nicht gedient". Und Heeres-OB von Brauchitsch verwies im Juli 1940 darauf, dass "auf sexuellem Gebiete da und dort Spannungen und Nöte auftreten, denen gegenüber man die Augen nicht verschließen kann". [1] (Ich komme in Ziffer 4 darauf zurück.)
2. Frankreichbild
Es dürfte "kein anderes Land gegeben haben, das so flächendeckend mit Wehrmachtbordellen überzogen wurde wie Frankreich" [2]. Dafür gibt es mehrere Gründe, u.a. auch diesen mentalitätsgeschichtlichen:
"Frankreich galt den Deutschen nicht nur als Metropole des sexuellen Amüsements, sondern ebenso als ein Land der Seuchen, der massenhaften unkontrollierten Prostitution und der Ansteckungsgefahr, in dem zahllose geschlechtskranke Französinnen die Gesundheit der deutschen Soldaten gefährdeten." [3] In einem 1940 erschienenen Frankreich-Buch hiess es, das Land sei "von unzählig vielen Bordellen überschwemmt, in denen hemmungslose Genußsucht ihre giftigsten Blüten treibt". Das OKH nahm in seinen grundlegenden Erlassen vom Juli 1940 diese Darstellung auf; der Generalquartiermeister selbst behauptete darüber hinaus, "ein großer Teil der nicht unter ärztlicher Kontrolle stehenden Prostituierten [in Frankreich und Belgien!] ist geschlechtskrank." [4]
Woher kommt das? Besagtes Buch verweist auf die historisch erwiesene "Frivolität" in der französischen Gesellschaft, die sich gesteigert habe durch "die republikanische Staatsform und 'die Bejahung einer ungehemmten Freiheit des Individuums'"...
3. Mädchenhandel, Geschlechtskrankheiten, Rassenbiologie
Im typischen, in den 20er Jahren stark aufkommenden Klischee des "jüdischen Mädchenhändlers", das auch Hitler selbst benutzte, flossen nationalistische, rassistische und insbesondere antisemitische Ressentiments zusammen, und "selbstverständlich" wurde hier auch ein Grund gesucht, warum die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten so schwierig sei. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die im späten 19. Jh. aufkommende (wissenschaftlich unhaltbare) Lehre von der "erblichen Syphilis", welche die Völker "vergifte" und für die Hitler und andere fanatische Nazis natürlich auch die Juden (mit) verantwortlich machten (siehe Lilis #39).
Zur "jüdischen Gefahr" kommt noch der Verdacht des "Widerstands per Infizierung". Ich hatte ja bereits angeführt, dass auch in Ersten Weltkrieg, der den Befehlshabern des Zweiten sehr präsent war, die wildesten Gerüchte über diese Art von "biologischer Kriegführung" verbreitet wurden. [5] Infolgedessen wurde dann ab 1941 auch verbreitet, dass "die französische Résistance die Ansteckung der Besatzer mit Geschlechtskrankheiten als Kampfinstrument einsetze und gezielt organisiere." [6]
4. "Rest and recreation"
Sehr wichtig finde ich den Gedanken, das Thema auch und gerade unter dem Aspekt der "Belohnung" zu betrachten! [7]
Gesundheitsfürsorge war das eine Motiv, aber die Wehrmachtbordelle waren auch "als ein Angebot des OKH an die Truppe zu begreifen, mit dem Kriegsteilnahme und Loyalität belohnt worden. Als Bestandteil der Truippenführung gewertet, war das Bordellsystem ein Gegenstück zu den massenhaften Exekutionen, mit denen die deutschen Führungsstäbe auf Desertionen reagierten. Denn der wehrmachteigene Bordellbetrieb demonstrierte den deutschen Soldaten, daß sie als Angehörige der Wehrmacht mit sexuellen Dienstleistungen versorgt wurden und daß man keinen Aufwand scheute, um ihnen ein Zusammensein mit französischen Frauen zu ermöglichen, das persönliche Risiken oder Unannehmlichkeiten weitgehend ausschloß, da für militärischen und präventivmedizinischen Schutz ebenso gesorgt war wie für einheitliche Tarife."
Der emigrierte Thomas Mann schrieb in Doktor Faustus "mit Blick auf die deutsche Okkupation Frankreichs, daß der französischen Hauptstadt 'in der neuen [Nazi-] Ordnung die Rolle des europäischen Lunaparks und Freudenhauses zugedacht war'", und tatsächlich nutzte die Wehrmacht "das besetzte französische Territorium - über die eigentliche Okkupation und die damit verbundenen wirtschaftlichen und militärischen Zielsetzungen hinaus - als Hinterland zur Ausbildung, Erholung und Neuzusammenstellung von Verbänden, die im Osten eingesetzt wurden. Ab 1942 verlegte man immer wieder dezimierte und demoralisierte Einheiten von der Ostfront nach Frankreich. Dabei spielte der von den Sanitätsoffizieren organisierte sexuelle Dienstleistungsbereich eine wichtige Rolle." [8]
[1] zitiert bei Meinen, aaO, S. 73, 74. - Brauchitsch persönlich scheint sich sehr intensiv gerade mit dem Bordell-Problem und der Gefahr der "wilden Prostitution" (S. 55) auseinandergesetzt zu haben.
[2] S. 214
[3] S. 10
[4] zitiert S. 53, das folgende S. 50
[5] Ich hatte es in #36 für überflüssig gehalten, darauf hinzuweisen, dass alle einschlägigen Geschichten aus jenem "Spionage"-Werk unbewiesen sind - wichtig ist nur: sie wurden geglaubt!
[6] Meinen, S. 55
[7] Man kann hier durchaus eine Parallele zur Argumentation im Aly'schen Volksstaat ziehen; das folgende Zitat bei Meinen, S. 75
[8] S. 75, 76