Das Geheimnis des Empedokles

LiaFil

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1990 tauchen in der Straßburger Universitätsbibliothek einige achtzehnhundert Jahre alte Papyrusfragmente auf. Sie gleichen einer Tüte Konfetti und bergen doch eine Sensation: Es ist der erste Fund einer antiken Textausgabe eines vorsokratischen Philosophen in der Neuzeit und er ermöglicht eine Neuinterpretation des Werks von Empedokles.
Insgesamt überstand nur ein kleiner Teil der griechischen Literatur der Antike die Auswahlprozesse des Mittelalters und wurde durch Handschriften vor allem in Klöstern überliefert. Der größere Teil ist verloren. Doch gelingen auch heute noch Textfunde, die neue Erkenntnisse über die antike Philosophie und Literatur ermöglichen und entsprechend umkämpft sind. An einem besonders spektakulären Fall war der LMU-Professor für Griechische Philologie Oliver Primavesi maßgeblich beteiligt.
Die aus dem Jahr 1904 stammenden Fragmente ruhten zunächst unbeachtet in Straßburg. Der Urkundenforscher Alain Martin fügt seit 1990 in jahrelanger Arbeit die Einzelteile wie ein Puzzle zusammen. Um den Autor der Verse zu bestimmen, sucht er in einer Datenbank, auf der die gesamte edierte altgriechische Literatur gespeichert ist, nach übereinstimmenden Worten und Wortfolgen. Die Datenbank identifiziert zwar einige Textstellen, doch andere sind unbekannt. Und was den Fund besonders spannend macht: Alle Belegstellen stammen aus einem einzigen fortlaufenden Text, den man bislang nur in Bruchstücken, nämlich aus Zitaten anderer Autoren kennt: Es handelt sich um das Lehrgedicht Über die Natur des sizilischen Philosophen Empedokles. Damit sind zum ersten Mal in der Neuzeit einige Seiten aus der antiken Textausgabe eines vorsokratischen Philosophen aufgetaucht. Die Diagnose ist ebenso überraschend wie folgenreich. Alain Martin bittet den Gräzisten Oliver Primavesi um Hilfe bei der Edition und Interpretation.
Empedokles bekämpfte die damals für den Zusammenhalt der Polis zentralen Tieropfer, was zu seiner Vertreibung ins Exil führte: Fortan zog er als Wunderheiler durch die Lande. Die Ablehnung des Tieropfers gründet in seiner Lehre von der Wiedergeburt. Wer ein Tier schlachte, so seine Mahnung, laufe Gefahr, einen in diesem Tier neu inkarnierten Vorfahren zu töten. In seinen Schriften heißt es unter anderem:
"Bald kommen sie (die vier Elemente) in Liebe zusammen zu einer harmonischen Einheit, / bald auch bewegen sich die einzelnen Elemente wieder auseinander im Hasse des Streites." Dieses Verspaar wird in der antiken Empedoklesüberlieferung mehrfach zitiert. Bisher völlig unbekannt aber war eine Variation, die sich jetzt an mehreren Stellen im Straßburger Papyrus findet. Dort heißt es nämlich: "Bald kommen wir in Liebe zusammen zu einer harmonischen Einheit, / bald auch bewegen sich die einzelnen Elemente wieder auseinander im Hasse des Streites." Die lautliche Differenz der beiden Formulierungen im Griechischen ist minimal, sie liegt in einem einzigen Buchstaben: Statt wie bisher bekannt und zitiert "synerchómena" ("als zusammenkommende"; gemeint sind die vier Elemente) erscheint auf einmal "synerchómetha" ("wir kommen zusammen"). Diese Abweichung scheint schon den unbekannten Kopisten irritiert zu haben, denn er stellt durch ein über das "th" gesetztes "n" die geläufige Formel wieder her (siehe Abbildung). Doch kann es sich bei dem rätselhaften "wir" keinesfalls um einen bloßen Flüchtigkeitsfehler handeln, weil diese Formel im Papyrus gleich dreimal auftaucht.

Wer aber ist "wir"? Oliver Primavesi kommt zu folgendem Schluss: Die Menschen, Tiere und Pflanzen der Übergangsperioden sind auf das Engste miteinander verwandt, insofern sie alle Fragmente des göttlichen Sphairos darstellen. Der Sphairos ist ihr Ursprung, zu ihm streben sie zurück. Diese Solidarität allen Lebens kommt in dem neuen "wir" zum Ausdruck. Im Hinblick auf ihre Abkunft vom göttlichen Sphairos sind alle Lebewesen Fragmente Gottes, eben Daimones. Der Zyklus von Schuld, Sühne und Erlösung einerseits und der kosmische Zyklus der Physik andererseits sind für Empedokles zwei Seiten der gleichen Medaille, die sich gegenseitig auf allegorische Weise erhellen.
Das naturphilosophische System will die im traditionellen Mythos nur in verdeckter Form angesprochenen Götter auf den eigentlichen Begriff bringen: Die wahre Theologie ist Physik. Der allegorische Mythos von Schuld und Sühne hingegen macht den kosmischen Zyklus auf die in ihm inhärente, leidvolle Erfahrung der Lebewesen hin durchsichtig: Nicht nur der Weltlauf im Ganzen, sondern auch das Schicksal des Einzelnen sind bestimmt durch Trennung und Vereinigung, Liebe und Streit. So zeigt der Papyrus, dass die naturwissenschaftliche Theorie und der allegorische Mythos von der Wiedergeburt bei Empedokles in einem Nahverhältnis zueinander stehen, das durch die Zensur der indirekten Überlieferung systematisch verfälscht wurde.


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