Das Heilige Römische Reich - eine verunglückte Staatsbildung?

Die Fragestellung war ganz offen und ließ auch keine Präferenzen erkennen.

Im Übrigen ist das Thema noch längst nicht ausgelotet, denn zu betrachten sind Auswirkungen der Reichsstruktur in kultureller, machtpolitischer und gesellschaftlicher Hinsicht, ferner wäre eine Perspektive aus Sicht der Herrschenden und Beherrschten wünschenswer, sowie ein Vergleich zu zentralistischen Staatsstrukturen angebracht. Vielleicht finden sich ja noch einige, die diese Sichtweisen untersuchen wollen.
 
Hallo,

ich denke, daß die Beantwortung nicht so einfach abzutun ist - auch wenn es "nur" um die Reichsstruktur samt ihren Auswirkungen als auch die verschiedenen Perspektiven geht.

Es stellen sich dabei - zumindest für mich - nämlich daraus wieder Einzelfragen, welche immer im Kontext ihrer Zeit etc. beantwortet werden müssen. Dabei sind die verschiedenen Phasen, Epochen, Zeitalter oder wie auch immer man es nennen will von einiger Bedeutung....

Frage:
Über welche Reichsstruktur soll gesprochen werden: gehen wir auf die karolingische Rechsbildung zurück hin zu den Verhältnissen im ostfränkischen Reichsteil ODER die Reichsstruktur zum Ottonischen Imperium ODER die zu Zeiten der Salier ODER das Stauferimperium ODER den Zustand nach dem Interregnum... ?

In den Jahrhunderten zuvor war es wohl doch etwas anders. Natürlich ist dieser Überblick nur grob und vereinfacht, um die Entwicklung aufzuzeigen, ohne welche wir aber meines Erachtens nicht auskommen.

Frankenreich/Ostfrankenreich:
Hier wird der König nach dem fränkischen Geblütsrecht gewählt: das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Kombination aus Wahl- und Erbmoment (Erhebung des Königs aus dem Adelsgeschlecht, welches Träger des sog. Königsheils ist). Dies ist wichtig, weil es auch später im Deutschen Reich nicht einfach endet.
Der Adel allerdings - oder genauer die Adelsgeschlechter, welche nicht den König stellen (später in Deutschland die Stammesherzöge) - schiebt sich zwischen König und Volk, womit er sich zum Gegenspieler des Königs entwickelt. Auch dies wird im HRR immer mehr an Dimension gewinnen, wie schon mehrfach hier angesprochen wurde.
Nach den Verträgen von Verdun (843 - Teilung in West-, Ost- und Mittelreich), Mersen (870 - östl. Lothringen zum Ostreich) und Ribemont (880 - westl. Lothringen ebenfalls zum Ostreich) wird letztendlich nicht nur die während des ganzen Mittelalters gültige Grenze zwischen den späteren Frankreich und Deutschland festgelegt, sondern endgültig ein eigenständiges Königtum im Ostfränkischen Reich etabliert, welches nie mehr auf den bereits durch Karl d. Gr. beanspruchten Kaisertitel verzichten wird.
Ständig durch Normannen und Ungarn bedroht und verwüstet, wird das Ostreich durch innere Fehden zu Zeiten von Ludwig dem Kind (900/11) schließlich zerrissen und zerfällt in die ebenfalls schon angesprochenen Stammesherzogtümer (Franken, Schwaben, Lothringen, Bayern, Sachsen, Thüringen).
-> Zentralgewalt schwach geworden

Reichsgründung/Ottonisches Imperium:
Wieder Königswahl nach Geblütsrecht (Konrad I. von Franken), doch der König kann sich nicht gegen die Herzöge durchsetzen - außerdem bröckelt das Reich (Abfall Lothringens).
-> Zentralgewalt schwach
Aufgrund der ernsten Bedrohung (die Ungarn mal wieder) erheben Franken und Sachsen Heinrich I. zum König, der die anderen Herzöge besiegen kann und mittels Heiratspolitik Lothringen zurückgewinnt.
-> Zentralgewalt wird stärker
Es gelingt Heinrich zudem, die Ungarn zu besiegen (933 Riade a.d. Unstrut).
-> Zentralgewalt wird stärker
Er setzt sich gegen die Herzöge durch und läßt seinen Sohn Otto (I.) zum Nachfolger bestimmen (Erbmonarchie).
Otto I. festigt die Reichsstruktur weiter und setzt den Anspruch des dt. Königs auf den röm. Kaisertitel durch (962 Kaiserkrönung). Dieses Kaisertum wird schließlich sogar von Byzanz anerkannt!
Seine und die seiner Nachfolger betriebene Politik stützt sich auf die Kirche (Otton. Reichskirchenpolitik) und auf die karolingische Tradtion (Kaiser- und Italienpolitik).
-> Zentralgewalt stark

Erstes Zwischenfazit: nach dieser Reichs- bzw. Staatsbildung den Terminus "verunglückt" zu verwenden, erscheint mir nicht passend. Aber es geht ja bekanntlich weiter....

Fränk. o. Salische Kaiser:
Rückkehr zur Erhebung des Königs durch das fränkische Geblütsrecht (1024 Konrad II.); Konrad II. gewährleistet den Vasallen Erblichkeit und Unentziehbarkeit der Lehen.
-> erste Stärkung der particulären Gewalten
Zeitsprung - während der ersten offiziellen Regierungsjahre von Heinrich IV. (als er eben noch nicht selbst regierte) erweitern die Reichsfürsten ihre Macht.
-> zweite Stärkung der particulären Gewalten
Nun kommt unglücklicherweise (für den König) das Reformpapsttum des 11. Jh. ins Spiel, wobei die Auseinandersetzung zwischen König und Papst im Investiturstreit gipfeln. Während jener Zeit wird unter Mißachtung des Geblütsrecht ein Gegenkönig gewählt, und erneut versuchen sich die Reichsfürsten weiter durchzusetzen.
-> trotz Erfolgen der Zentralgewalt dennoch Stärkung der particulären Gewalten

Jetzt könnte man in einem Zwischenfazit die zuvor gemachte Aussage schon überdenken.

Stauferimperium:
Trotz daß sich die Hohenstaufen durchsetzen können, ist ihre Zeit durch den Wechsel zwischen Auseinandersetzung und Ausgleich mit verschiedenen Reichsfürsten bestimmt. Zudem sehen sich die Staufer oftmals einem Bündnis von Fürsten und Papst gegenüber - alles wie schon erwähnt recht vereinfacht ausgedrückt.
Ausschlaggebend ist dann v.a. das Scheitern des Italienzuges von Heinrich VI., womit kein neues Erbreich geschaffen werden kann. Im Gegenteil: Papst Innozenz III. sichert seinen Einfluß und zieht einzelne Reichsgüter ein, in Deutschland werden zwei Könige gewählt, und das Reich befindet sich damit in einer sehr "unruhigen" Phase und damit in einem instabilen Zustand.
Als Freidrich II. schließlich an die Macht kommt, muß er die immer mehr erweiterten Zugeständnisse an den Papst einerseits und die Fürsten andererseits bestätigen. Zur Verdeutlichung: die Zugeständnisse wurden nicht durch die Staufer, sondern einen der erwähnten Könige (Otto IV. - soweit ich weiß, ein Welfe) gemacht!
-> trotz daß man Friedrich II. nicht als schwach bezeichnen kann, nun doch bereits starke particuläre Gewalten
Nach Friedrich II. und seinem Sohn Konrad IV. gehen mit dem Tod Konradins die Hohenstaufen unter, und es folgt das Interregnum.

Das Fazit nach dem Ende der Staufer fällt jedoch sehr ernüchternd aus: die particulären Gewalten im HRR konnten ihre macht stetig erweitern und ausbauen, womit sie soweit erstarkten, daß ihnen eigentlich von da an kaum mehr Einhalt geboten werden konnte - mit einigen Ausnahmen natürlich. Die Zersplitterung der einst territorialen Einheit ist also eine direkte Folge daraus... - eine Wertung muß wohl jeder für sich selbst finden.

Sehr lang und vielleicht auch nur bedingt hilfreich, aber meines Erachtens für die Diskussion um das Machtpolitische notwendig.

Viele Grüße

Timo
 
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