Das Kind braucht einen Namen. Braucht das Kind einen Namen?

Dion

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Bis vor wenigen Jahren - vielleicht auch noch heute - haben Ethnien am Amazonas ohne mittelbaren Zivilisationskontakt ihre Kinder getötet, wenn sie zu viele bekamen, denn jeder Elternteil kann nur ein Kind tragen, wenn die Gruppe weiterziehen muss, insbesondere dann, wenn dieses Weiterziehen von außen forciert ist (Flucht).
Ja – und weil bei diesen Ethnien die (Klein)Kindersterblichkeit hoch war wie bei uns bis zum 18./19. Jahrhundert, haben sie ihren Kindern bis zu einem Alter von 2 Jahren keine Namen gegeben. Das heißt, erst wenn ein Kind dieses Alter erreicht hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass es weiterleben wird. Ich vermute, dass dahinter Schutz vor zu großer emotionaler Bindung an ein Kind stand, das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lange leben würde.
 
Ja – und weil bei diesen Ethnien die (Klein)Kindersterblichkeit hoch war wie bei uns bis zum 18./19. Jahrhundert, haben sie ihren Kindern bis zu einem Alter von 2 Jahren keine Namen gegeben.
Bei welchen Ethnien ist das konkret der Fall?

Unsere Gewohnheiten sind ohnedies nicht auf alle Kulturen anwendbar, in ostasiatischen Hochkulturen gab und gibt es z. B. einen ganz anderen Umgang mit Eigennamen. Es wird vermieden, sich mit Namen anzusprechen, in der (Groß)-Familie gibt es differenzierte Verwandtschaftsbezeichnungen, z. B. eigene Wörter für "mittlerer Bruder", vielerlei Wörter für "Onkel", z. B. in der Bedeutung "älterer Bruder des Vaters" oder "Ehemann der Schwester der Mutter", und in alter Zeit trug eine Person auch verschiedene Namen für verschiedene Lebensabschnitte oder führte je nach sozialem Kontext verschiedene Personennamen.
 
Mich würde eben der Hintergrund interessieren.

"Es wurden bis ins 2. Lebensjahr keine Namen vergeben, weil die Säuglingssterblichkeit hoch war", ist ja keine Erklärung.
In unserem Kulturkreis wurden Namen sofort nach der Geburt vergeben, eben weil die Säuglingssterblichkeit hoch war. (Damit ein Kind im Fall seines plötzlichen Ablebens auch sicher in den Himmel kam, wurde es möglichst noch am Tag seiner Geburt getauft, und bei der Taufe erhielt es seinen Namen.)
 
Bei den Hopi war es wohl so (ist aber etwa zehn Jahre her, dass ich mich damit beschäftigt habe, nur falls sich ein Fehler in der Darstellung einschleichen sollte), dass neugeborene Kinder in einer abgedunkelten Hütte, die innen mit Maismehl bemalt war für mehrere Tage blieben, bevor sie der Familie - dann mit blauem Maismehl bemalt (blaues Maismehl gilt wohl als besonders heilig) der Familie präsentiert wurden und die Säuglinge auch erst dann ihren Namen bekamen. ich erkläre mir das durchaus so ähnlich, wie Dion das oben tat, nämlich, dass in dieser kritischen Zeit der ersten Tage nach der Geburt sicherlich die Bindung der Familie an das Neugeborene noch nicht so eng werden sollte.
 
[QUOTE="Dion, post: 882608, member: 25645"... haben sie ihren Kindern bis zu einem Alter von 2 Jahren keine Namen gegeben[/QUOTE]
Manchmal bis 5, wie die Vita Danielis Stylitae, §2, zeigt:
So he was born; and when in course of time he had reached the age of five years his parents took him with offerings of fruit to a monastery near the village and the abbot asked them, 'By what name is the child called?' And when the parents mentioned some other name, the old man said, 'He shall not be called that, but whatever the Lord shall reveal to us, that shall his name be' . And the archimandrite said to the child in the Syrian dialect, 'Go, child, and fetch me a book from the table'. For it is a custom in monasteries that many different books should be laid in front of the sanctuary, and whichever book a brother wants he takes and reads. So the child went and fetched the book of the prophet Daniel, and from this he got that name.
 
Der Junge bekam im Alter von fünf Jahren einen neuen Namen; er hatte aber sehr wohl zuvor auch schon einen Namen.
Pardon, da habe ich zu rasch gelesen. Ich hatte es zunächst so verstanden, dass die Eltern einen Namen ausgesucht hatten, den er dann vom Abt erhalten sollte. Aber das war wohl schon sein Name. Hm.
 
Nach der englischen Wikipedia erhalten Hopi-Neugeborene ihren Namen am/ab dem 20. Lebenstag.

Traditionally, Hopi are organized into matrilineal clans. When a man marries, the children from the relationship are members of his wife's clan. These clan organizations extend across all villages. Children are named by the women of the father's clan. On the 20th day of a baby's life, the women of the paternal clan gather, each woman bringing a name and a gift for the child. In some cases where many relatives would attend, a child could be given over 40 names, for example. The child's parents generally decide the name to be used from these names. Current practice is to either use a non-Hopi or English name or the parent's chosen Hopi name. A person may also change the name upon initiation into one of the religious societies, such as the katsina society, or with a major life event.
Hopi - Wikipedia
 
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Dann wird die Mutter wohl mit in der Hütte gewesen sein, und irgendwer wird sich wohl auch um die Wöchnerin gekümmert haben.
Ob sich jemand speziell um die Wöchnerin kümmern musste, weiß ich nicht*. In bäuerlichen Gesellschaften war es ja oft so, dass Mütter ihre Kinder auf dem Feld bekamen, die wurden dann irgendwo sicher abgelegt und die Feldarbeit wurde fortgesetzt. Vermutlich nicht beim ersten und zweiten Kind, aber beim fünften und sechsten Kind.

*Höchstens, wenn diese die Hütte nicht verließ, dass sie mit Nahrungsmitteln versorgt wurde.
 
War das so? Mir kommt da vor allem die Szene aus Monty Pythons "Sinn des Lebens" in den Sinn; die spielt allerdings noch nicht mal auf dem Feld, sondern in der Küche des trauten Heims.
In dieser Filmszene ging es meiner Erinnerung nach um den Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten im Vereinigten Königreich. Während die Babys bei den Katholiken sogar bei der Küchenarbeit nur so aus den Frauen herauspurzelten, wagten sich prüde protestantische Paare kaum anzufassen.

Die Geburt bei der Feldarbeit halte ich allerdings auch für ein übertriebenes Klischee. Schwangerschaft und Geburt können auch beim fünften oder sechsten Kind kein Zuckerschlecken sein. Ich weiß von einer bäuerlichen Familie, dass Säuglinge früher im Wagen oder einer Wiege am Feldrand oder im Stall lagen, während die Mutter dort arbeitete, aber das war einige Zeit nach der Geburt, wenn sich beide von der Geburt schon längst erholt hatten.
 
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Geburt während der Feldarbeit, Kind abgelegt ... das klingt natürlich für uns extrem brutal und herzlos.
Da stellt sich mir natürlich die Frage, waren die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft wirklich so rar, dass man der Mutter nicht wenigstens ein paar Tage Ruhe gönnen konnte?
Feldarbeit hochschwanger, kurz Entbinden und dann wenig später wieder mit Vollgas weiter ... das Risiko, dass Mutter und Kind dabei drauf gehen ist doch nicht unerheblich, oder?
Oder waren die Frauen damals so extrem hart im Nehmen, dass ihr Körper und Kondition das locker zuließen.

Ja, natürlich waren sie um einiges robuster was das Körperliche anging.
 
Geburt während der Feldarbeit, Kind abgelegt ... das klingt natürlich für uns extrem brutal und herzlos.

Für mich klingt das vor allem unglaubwürdig. Ich lasse mich gern durch Quellen eines besseren belehren.

Dass Bäuerinnen schon am Tag nach der Entbindungen wieder begonnen haben, Aufgaben im Haushalt zu erledigen, ist bezeugt. Aber unmittelbar nach der Entbindung? Und dann auch gleich Feldarbeit? Und dass man das Neugeborene auf dem Feld beiseite gelegt hat? Wo ist denn sowas bezeugt?


Feldarbeit hochschwanger, kurz Entbinden und dann wenig später wieder mit Vollgas weiter ... das Risiko, dass Mutter und Kind dabei drauf gehen ist doch nicht unerheblich, oder?

Natürlich, das wussten die Leute auch. Eine Geburt war - mehr noch als heute - eine Sache auf Leben und Tod für Mutter und Kind. Auch in den eigenen vier Wänden und mit Unterstützung erfahrener Frauen und/oder einer Hebamme.
Neulich habe ich eine Thema zu Leichenpredigten zwischen 1550 und 1800 aufgemacht. Von den Frauen, die dort erwähnt sind, starb rund ein Viertel während und kurz nach der Geburt:
Leichenpredigten
 
Sepiola, Danke für die Relativierung.
25% sind richtig viel. Vielleicht aufgrund mangelnder Hygiene?
 
Sepiola, Danke für die Relativierung.
25% sind richtig viel. Vielleicht aufgrund mangelnder Hygiene?

In den Fällen, wo die Mutter ca. eine Woche nach der Geburt verstorben ist, wird die Hauptursache in einer Infektion ("Kindbettfieber") zu suchen sein, da spielt mangelnde Hygiene sicher die Hauptrolle.

Es sind aber auch viele Frauen während oder gleich nach der Geburt verstorben, da werden Komplikationen die Hauptursache gewesen sein. Kaiserschnitte an lebenden Müttern wurden erst im späten 19. Jahrhundert häufiger durchgeführt, und auch da endeten sie noch meistens tödlich.
 
Dass Bäuerinnen schon am Tag nach der Entbindungen wieder begonnen haben, Aufgaben im Haushalt zu erledigen, ist bezeugt. Aber unmittelbar nach der Entbindung? Und dann auch gleich Feldarbeit?
Dass Bäuerinnen und Mägde bei der Feldarbeit von der Geburt überrascht wurden, dürfte nicht selten gewesen sein, schließlich werden auch heute noch Kinder in den Taxis geboren, weil die Schwangeren es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen. Vor allem ab der zweiten Geburt kann es schnell gehen, noch schneller bei den späteren Geburten.

Und auf dem Feld gibt es schwere und leichtere Arbeiten. Die letzteren erledigten oft Kinder, da wird jede Hand gebraucht. Für mich klingt das Weiterarbeiten nach ein paar Stunden Pause glaubhaft, wenn auch es sich hierbei eher um Ausnahmen handeln dürfte. Es gibt oder gab es auch Frauen, die Stolz darauf waren, die vielen Schwangerschaften wie die Geburten quasi nebenbei erledigt zu haben.
 
Wenn die Wehen einsetzen, weiß man doch, dass es jetzt nicht mehr klug ist, aufs Feld zu gehen. Es kann natürlich mitunter auf dem Feld zu einer Sturzgeburt gekommen sein, aber dann legt die Frau doch nicht das Baby beiseite und ackert weiter.
 
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