Wenn nicht irgendwann mal neue Quellen erschlossen werden, wird sich wohl nicht klären lassen, ob es den Brauch der Freilassung zum Passahfest wirklich gegeben hat.
Flavius Josephus Philo oder andere jüdische Autoren schreiben nichts davon, wohl aber, dass es immer wieder zu Reibereien kam, und dass die Anwesenheit von römischen Amtsträgern und Militär in Jerusalem durchaus aus als Provokation interpretiert werden konnte und auch als solche gedeutet wurde.
Amtssitz der römischen Statthalter war jedenfalls Caesarea maritima.
Judäa war ohnehin keine leicht so regierende Provinz, Aufstände lagen häufig in der Luft, zumal in Jerusalem zu Pessach.
In Jerusalem lag das zentrale Heiligtum, und das Passahfest war/ist der höchste Feiertag der Juden. Es wird dabei an die Befreiung der Juden in Ägypten erinnert. Ob die römischen Statthalter wirklich über alle theologischen Feinheiten und Riten informiert waren, kann bezweifelt werden, was ihnen aber nicht entgangen sein konnte, war dass sich während der Feier ein Vielfaches der normalen Bevölkerungszahl in Jerusalem aufhielt. Aus allen Ecken und Enden des Imperiums pilgerten Juden während der Feiertage nach Jerusalem. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich während der Feiertage mehr als 100.000 Juden, eher noch mehrere 100.000 Menschen in Jerusalem aufhielten. Die Erfahrungen der Geschichte haben gezeigt, dass es äußerst unangenehm war, Jerusalem belagern zu müssen, und wenn es während der Feiertage zu einem Volksaufstand kam, konnte sich das, wenn erst einmal Jerusalem unter Kontrolle von romfeindlichen Kräften geriet, zu einem Flächenbrand entwickeln.
So etwas galt es aus Sicht der Römer unbedingt zu vermeiden, und es blieb den meisten Statthaltern gar nichts anderes übrig, als in Jerusalem Präsenz zu zeigen, um vor Ort so etwas schon im Keim ersticken zu können. Sehr wohl werden sich die römischen Amtsträger in Jerusalem sicher nicht gefühlt haben. Immer wieder gab es Ärger. Da wurden an der Feste Antonia mal Adler aufgehängt, und schon gab es Reibereien. Eine Legion hatte einen Keiler als Feldzeichen, und das musste manchen als Affront erscheinen. Dann gab es den "verhängnisvollsten Furz der Weltgeschichte"- und die Volksseele war am kochen.
Prinzipiell wäre es schon möglich, dass es so etwas wie eine gewohnheitsrechtliche Freilassung eines Gefangenen gegeben hat, dass die römischen Statthalter so etwas als eine Geste des guten Willens und des Respekts vor dem Judentum praktizierten, um die Gemüter etwas zu beruhigen. Mag sein, dass die Römer das einführten, mag sein, dass sie damit auf Brauchtum der Heroden zurückgriffen.
Es gab ähnliche Bräuche im antiken Rom. Tempel und Tempelbezirke waren so etwas wie eine Freistatt, ein Asyl, ganz ähnlich wie später im Mittelalter Kirchen. In der Caligula-Biographie des Sueton berichtet dieser, dass Caligula den "Waldkönig" (Rex Nemorensis) eines Diana-Heiligtums bei Aricia erschlagen ließ.
Sueton, Caligula 34.
Dieser Waldkönig war ein Freigelassener, ursprünglich wohl ein entlaufener Sklave, der einmal jährlich um seine Würde als Vorsteher des Heiligtums kämpfen musste. Zu Caligulas Zeiten war dieser Kampf aber anscheinend nur noch symbolisch. Ein Gefangener oder Delinquent, der das Glück hatte, auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte einer Vestalin zu begegnen, musste unverzüglich freigelassen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Freilassungsbrauch zu Ehren des Passahfestes existierte. Immerhin wäre ein solcher Brauch doch ungewöhnlich und sicher auch erwähnenswert als Zeichen der Milde, als Kuriosum, als ethnologisch bemerkenswert. Man könnte daher schon erwarten, dass ein Autor wie Flavius Josephus einen solchen Brauch zumindest erwähnt, dass er erklärt oder zu erklären versucht, auf welchen Traditionen ein solcher Brauch basiert. Das umso mehr, wenn er sonst Marginalien und (fast) jeden Furz überliefert. Auch Philo und die rabbinische Literatur berichten nichts darüber. Es spricht schon sehr viel dafür, dass es eine gewohnheitsrechtliche regelmäßige Begnadigung von/eines Gefangenen auf Bitten des Volkes nicht gab.
Haben sich also die Evangelisten das alles aus den Fingern gesogen? War der angebliche Freilassungsbrauch ein Stilmittel, ein Kunstgriff, um eine Botschaft zu transportieren? Wir wissen es nicht!
In diesem und anderen Threads hat ein Diskussionsteilnehmer wiederholt die Unglaubwürdigkeit des Prozesses Jesu betont. Es stellt sich die Frage, wie lief eigentlich ein Prozess, eine Verhandlung ab?
Glücklicherweise gibt es da zumindest eine Quelle, die Auskunft gibt, auch wenn es sich dabei um eine Parodie handelt. Gemeint ist Apuleius Metamorphosis. (Appuleius met 3, 2-11). Diese Handlung spielt in Thessalien. Es geht um eine städtische Gerichtsverhandlung. Amtsdienerschleppen den Angeklagten vor ein Tribunal, das auf dem Forum tagt. Herolde sorgen für Ruhe und der Ankläger muss in einer begrenzten Redezeit die Klage vorbringen. Der Angeklagte kann dazu Stellung nehmen. Ergaben sich dann noch Unklarheiten, konnten die städtischen Magistrate einen Delinquenten sofern er nicht das Bürgerrecht besaß foltern lassen.
Die Prozessführung wurde immer mehr formalisiert, die Rechtspflege hatte aber, wie viele Satiren beweisen durchaus Mängel. In der ApG werden Paulus und Silas verklagt, weil sie einer jungen Frau die Fähigkeit nahmen, wahrsagen zu können und ihrem Besitzer dadurch finanziellen Schaden zufügen. Der Geschädigte verklagt Paulus und Silas bei Strategen und beschuldigt sie des Aufruhrs. Der lässt sie unter Einfluss einer wütenden Menschenmenge ins Gefängnis werfen und auspeitschen, ohne Rücksicht zu nehmen, dass beide römische Bürger sind. Das war modern gesprochen eine glatte Rechtsbeugung und Verstoß gegen Rechtsnormen und vorgeschriebene Formalien. Ist das unglaubwürdig, ist das ein Indiz, dass der Vorfall nicht historisch ist? Verstöße gegen Rechtsnormen und fast parodistisch anmutende Formlosigkeiten kamen zweifellos vor. Sueton berichtet, dass Galba gegen Rechtsnormen einen römischen Bürger kreuzigen ließ. Deswegen zur Rede gestellt, lässt Galba diesen Delinquenten an ein geweißtes Kreuz nageln, als würde er ihm damit eine Ehre erweisen.
Sueton Galba 9