Diese Frage hätte ich fast mal als Thema meiner Abschlussklausur bearbeitet. Im Rahmen der Klausurvorbereitung habe ich mir mal eine kleine Art "Musterlösung" erarbeitet, die ich der Einfachheit mal hier reinkopiere:
Einleitung:
Der Beginn des ersten Weltkriegs wird meistens mit Szenen von Kundgebungen, begeisterten, jubelnden Menschenmassen und mit Siegesparolen wie „Eilzug nach Paris“ beschrifteten Eisenbahnwaggons. Dieses Bild, das eine das ganze Volk uneingeschränkt betreffende Kriegsbegeisterung suggeriert, wird oft in den Schulbüchern zum Geschichtsunterricht noch unkritisch wiedergegeben.
Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass dieses Bild der allgemeinen Kriegsbegeisterung so nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Vielmehr ist eine differenziertere Betrachtung notwendig.
2 Das Augusterlebnis in den Quellen.
2.1 Berichte der zeitgenössischen Presse, Fotografien.
In der Zeit zwischen dem Attentat von Sarajewo und dem tatsächlichen Kriegsausbruch waren die Berichterstattungen zunächst eher belanglos. Über das Attentat wurde berichtet, aber mit einer ernsthaften Gefahr für den Frieden rechnete noch niemand. Im weiteren Verlauf finden sich heterogene Darstellungen und Interpretationen der Ereignisse, verbunden mit Spekulationen, da die Einzelheiten der diplomatischen Aktivitäten natürlich nicht bekannt waren. Von der Möglichkeit, den Frieden zu erhalten oder zumindest einen Konflikt zu begrenzen, wurde meistens ausgegangen. Es wurde sowohl Vertrauen in die eigene militärische Stärke, als auch in den Friedenswillen und das diplomatische Geschick der europäischen Regierungen sowie die Erwartung eines lokal begrenzten Konfliktes publiziert. Erst als der Krieg ausbrach, dominierten nahezu durchgehend die bekannten Bilder von der Kriegsbegeisterung in der Presse, die zum lange vertretenen historischen Bild des Augusterlebnisses erheblich betrugen. Übersehen wurde die fehlende Objektivität der wilhelminischen Presse, die weitgehend bürgerlichen Parteien nahestand und die daraus abzuleitende Notwendigkeit einer kritischen Distanz bei der Quellenauswertung. Auch wurden Presseberichte, die dem bekannten Geschichtsbild widersprachen oft einfach ausgeblendet.
2.2 Offizielle Verlautbarungen
Dass sich überhaupt so etwas wie eine Kriegsbegeisterung, die es fraglos auch aber nicht nur, gab, entwickeln konnte, liegt im Wesentlichen auch an den öffentlichen Verlautbarungen der Regierung. Der Bevölkerung wurde suggeriert, dass die Friedensbemühungen erfolglos gewesen seien, weil sich die Gegner Deutschlands dazu entschlossen hätten, den Krieg um jeden Preis zu beginnen. „Mitten im Frieden überfällt uns der Feind“ sprach Wilhelm II in seiner berühmten Ansprache und schuf so die öffentliche Meinung, man sei von äußeren Feinden angegriffen worden und müsse sich nun gegen diese verteidigen. Diese Ansicht, die von weiten Kreisen der Bevölkerung angenommen und geglaubt wurde, trug wesentlich dazu bei, dass sich überhaupt so etwas wie eine weitergehende Kriegsbegeisterung entwickeln konnte. Menschen, die vom Krieg zwar nicht tatsächlich begeistert waren, konnten sich zumindest mit dem Ziel der Verteidigung des Vaterlands identifizieren und wirkten somit nicht gegen die propagierte Stimmung.
2.3 „Private und öffentliche Unterlagen“.
Die Auswertung privater Unterlagen wie Briefen, Fotografien, Gedichten, Augenzeugenberichten etc. ergibt ein differenzierteres Bild über das tatsächliche Ausmaß der Kriegsbegeisterung. Hier wechselt sich die Begeisterung mit anderen Emotionen wie Bedrücktheit, Nachdenklichkeit, Zukunftsängsten und sogar Panik ab. Ein ähnliches Bild zeichnen auch Unterlagen aus Gemeindechroniken.
Hier ist, wie vereinzelt auch in Presseberichten die Rede von Hamsterkäufen. Geld wurde von den Konten abgehoben.
3. Differenzierungsmuster der Kriegsbegeisterung:
3.1 Regionale Unterschiede
Die Quellenlage besagt, dass in unterschiedlichen Regionen das „Augusterlebnis1914“ tendenziell anders empfunden wurde.
3.1.1Zentrum des Reiches vs. Grenzgebiete
Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass die Kriegsbegeisterung in weiteren Kreisen der Bevölkerung im Zentrum des Reiches stärker ausgeprägt war, als in den Grenzregionen. Die Anzahl von patriotischen Veranstaltungen und Umzügen ist im Zentrum des Landes gegenüber der Peripherie in höherer Anzahl belegt. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Grenzregionen eher damit rechnen mussten, von den Kriegshandlungen direkt betroffen sein zu können. Dass diese Befürchtungen nicht unbegründet waren, lässt sich am Beispiel von Freiburg zeigen, welches im Verlauf des Kriegs mehrfach bombardiert wurde. Das Zentrum des Reiches konnte dagegen relativ sicher sein, von feindlichen Kräften nicht direkt beeinträchtigt zu werden.
3.1.2 Großstädte vs. Kleinstädte und Dörfer
Es lässt sich die Tendenz ausmachen, dass sich die Kriegsbegeisterung in den Großstädten stärker entfalten konnte, als in Kleinstädten oder auf dem Land. Zurückzuführen könnte dies vor allem darauf sein, dass in den Großstädten das Militär weitaus stärker vertreten war, als in Kleinstädten, in denen es vergleichsweise wenige Kasernen gab. Auch hatten die großen Industrieunternehmen, die erwarten durften, von einem Krieg profitieren zu können i. d. R. ihren Sitz in Großstädten.
Ebenso dürften die noch anzusprechenden Klassen- und Standesunterschiede sowie das Wohlstandsgefälle gegenüber ländlicheren Regionen hierbei eine wichtige Rolle gespielt haben, bzw. sind hier gewisse Korrelationen anzunehmen.
3.2 Standes- und klassenmäßige Unterschiede
3.2.1 Der Adel
Traditionell stellte im Deutschen Reich der Adel das (höhere) Offizierskorps. Dieses sah sich nun in seiner privilegierten Stellung bestätigt und betrachtete den Krieg als Gelegenheit, sich zu profilieren und seine hervorgehobene Stellung zu festigen bzw. auszubauen. Insofern ist eine weitgehende Kriegsbegeisterung des Adels nur konsequent.
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[/FONT] 3.2.2 Das Großbürgertum und Kreise der Gelehrten
Vor allem die Kreise der Intellektuellen, die den kommenden Krieg oft in Gedichten oder patriotischen Schriften begrüßten, trugen wesentlich zur Etablierung des „altbekannten“ Geschichtsbilds vom allgemein geteilten Augusterlebnis bei.
Diese Kreise waren es auch, die später maßgeblich den „Geist von 1914“ beschworen und zu den „Ideen von 1914“ weiterentwickelten. Darin wurde ein Bild gezeichnet, in dem das ganze Volk zusammenhält und seine Pflicht erfüllt, wobei bisherige politische, soziale und religiöse Differenzen überwunden worden seien. Dies sei allerdings nicht mit einer „Gleichmacherei“ verbunden gewesen, vielmehr sollte jeder auf seinem angestammten Platz verbleiben. Das Augusterlebnis wurde so als eine Art Motor zur Erneuerung der Gesellschaft gefeiert, welche die „Sinnleere“ der Vorkriegsjahre überwunden habe. Teilweise handelte es sich bei den Verlautbarungen aus dem Großbürgertum sicherlich um Kriegspropaganda, mehrheitlich dürfte jedoch eine echte Begeisterung empfunden worden sein.
3.2.3 Kleinbürgertum und Arbeiterklasse
In Arbeiterkreisen und dem Kleinbürgertum bzw. in den unteren Schichten herrschten vielfach Beklemmung, Unruhe, Angst und Entsetzen vor. Für diese Kreise konnte der Krieg der Verlust der Existenzgrundlage sein, wenn z. B. der Familienvater als wesentlicher Ernährer ausfiel, sei es durch Tod oder Verwundung. Den meisten Arbeiterfamilien war dies durchaus bewusst. Finanzielle Reserven waren i. d. R. nicht vorhanden.
Daran änderte auch der Burgfriedensbeschluss der Führung der Sozialdemokratie nicht viel, die sich, nachdem sie alle Friedensbemühungen als gescheitert ansah, dem Dienst am Vaterland nun nicht entziehen zu können glaubte. Besonders in weiten Kreisen der Arbeiterklasse war die Kriegsbegeisterung und Kriegsbereitschaft nicht so ausgeprägt, wie man dies nach dem Burgfriedensbeschluss annehmen könnte. In diesem Punkt versagte die Arbeiterschaft der Sozialdemokratie in größerem Ausmaß als lange angenommen wurde, die Gefolgschaft.
3.3 Unterschiede nach Altersgruppen.
Untersuchungen haben ergeben, dass die Kriegsbegeisterung und Kriegsbereitschaft unter Jugendlichen, vor allem Schülern und Studenten tendenziell ausgeprägter war, als bei älteren Menschen. Festmachen kann man dies u. a. an der großen Anzahl von Kriegsfreiwilligen, die sich (spontan) zu den Waffen meldeten.
Die jungen Menschen hatten i. d. R. noch keine eigene Familie, auf deren Versorgung sie Rücksicht nehmen mussten und konnten daher weitaus unbekümmerter agieren, als Familienväter. Außerdem durften sie sich als Kriegsteilnehmer einen Prestigezugewinn erhoffen, sowie eine gewisse Achtung, ähnlich wie sie den Veteranen von 1870/71 entgegengebracht wurde. Darüber hinaus hatte der Krieg für sie auch so etwas wie eine „touristische Komponente“.
Im August 1914 ging man allgemein von einer kurzen Kriegsdauer im Bereich von Wochen oder einigen Monaten aus, so dass Manchem der Kriegsdienst als eine Art „Ferienlager“ mit Abenteuern erscheinen sein mag, das eine willkommene Abwechslung vom Alltag bieten würde.
4 Zusammenfassung
Es gibt kein einheitliches Augusterlebnis, allenfalls eine Vielzahl unterschiedlicher Erlebnisse. Das frühere Bild einer allgemeinen Euphorie lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten.
Das Erleben einer Kriegsbegeisterung ist individuell, dennoch lassen sich bestimmte Gruppierungen ausmachen, für die dies tatsächlich zumindest weitgehend zutrifft. Andere verspürten diese Begeisterung eher nicht.
Was erheblich zur Ausbildung einer Kriegsbegeisterung in verschiedenen Kreisen beigetragen habe dürfte, war das Ende der Ungewissheit, wie es nun weitergehen würde. Nun war die Situation wieder klarer und die Bewältigung insofern einfacher, als es im Prinzip nur noch eine Strategie zum weiteren Vorgehen gab: Den Krieg aufzunehmen und zu gewinnen.
Als Literatur zum Thema hatte ich damals u. a. folgendes besorgt:
[FONT="]Bölsche Jochen, „Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“, in: Stephan Burgdorff / Klaus Wiegrefe, Der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, 2004, S. 54ff.[/FONT]
[FONT="]Chickering, Roger: Das deutsche Reich und der erste Weltkrieg. München, Verlag C. H. Beck, 2002[/FONT]
[FONT="]Geinitz, Christian: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914. Essen, Klartext, 1998.[/FONT]
[FONT="]Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina u. a.: Enzyklopädie Erster Weltkrieg 2. Auflage, 2004[/FONT]
[FONT="]Piereth, Wolfgang: „Augusterlebnis 1914“ Eine Frage der Quellen, in: Praxis Geschichte, Heft 3/2007, S. 16-19[/FONT]
[FONT="]Stöcker, Michael: „Augusterlebnis 1914“ in Darmstadt. [/FONT][FONT="]Legende und Wirklichkeit. Darmstadt: Eduard Roether Verlag, 1994[/FONT]
[FONT="]Ullrich Volker: Kriegsalltag. Hamburg im Ersten Weltkrieg, 1982[/FONT]
[FONT="]Verhey, J.: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft[/FONT]
Viele Grüße
Bernd