Der Niedergang der Wirtschaftsgeschichte als Fach

JetLeechan

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Hallo liebe Leute,

da mein Abschluss doch nun bald naht und ich mir Gedanken um meine berufliche Zukunft mache, habe ich mich in letzter Zeit mit dem Studium der Wirtschaftsgeschichte im Master auseinandergesetzt. Was Deutschland angeht, so war ich allerdings ziemlich ueberrascht, dass am Ende meiner, doch recht intensiven Suche, magere Ergebnisse stehen.
Laut kleinefaecher.de: 38 Professuren, das klingt noch ganz gut, aber gerade mal 3 Bachelorstudiengaenge (wobei Wirtschaftsgeschichte in zwei Faellen "nur" Ergaenzungs- bzw. Vertiefungsfach ist) und mikrige 2 Masterstudiengaenge. Das verwundert mich, wird doch seit Jahren aller Orts der hohe Stellenwert der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft beschworen, genauso wie den Geisteswissenschaften ihr mangelnder Wille gegenwaertige Probleme - derer es im weiten Feld der Wirtschaft nun wahrlich mehr als genug gibt - vorgeworfen wird. Gleichzeitig werden die Wirtschaftswissenschaften kritisiert, fuer die Maengel ihrer Modelle und die Uneinigkeit innerhalb des Fachs. Die Volkswirtschaftslehre aber hat in den letzten Jahren nur an Bedeutung gewonnen, ja es scheint mir fast ein Anliegen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu sein, auf dem Gebiet der Oekonomik mit den Angelsachsen gleichzuziehen. Das Aufkommen des "Dauerrankens" ist insbesondere dort zu verfolgen gewesen, nach anglo-amerikanischem Vorbild werden nun auch die "Errungenschaften" der Wirtschaftsprofessoren regelmaessig verglichen und in eine Rangfolge gebracht.
Was mich jedoch seit je her verwundert ist das wir (Deutschland) in unserem Kreuzzug fuer einen Platz an der Sonne (um mal ein paar historische Begriffe in den Raum zu werfen, die selbstverstaendlich nur als Stimmungsaufheller gedacht sind) in der Academia, immer einen oder zwei Schritte hinterher sind. Waehrend Wirtschaftsgeschichte in den USA oder Grossbritannien einen Ruf hat und neben der klassischen Oekonomik und der Wirtschaftsgeographie, sozusagen als eine weitere Perspektive auf Wirtschaft als Teil der Gesellschaft angesehen ist, und zwar genau auch aus dem Grund, dass die klassische Wirtschaftswissenschaft ihre Maengel hat, streicht man in Deutschland Professuren, wissenschaftle Stellen und Studiengaenge.
Nun braucht man keine Wirtschaftshistoriker um Wirtschaftsgeschichte zu machen, dass koennen auch Historiker, Wirtschaftswissenschaftler und Regionalwissenschaftler uebernehmen, aber meine, subjektive, Ansicht ist, dass wirtschaftshistorische Themen auch hier kaum beliebt sind. Wenn ich eine Hausarbeit schreibe, dann sind 95% meiner Quellen(editionen) und Literatur auf Englisch, wenn es sich nicht um ein Thema handelt, dass direkt auf Deutschland Bezug nimmt, aber auch wenn es um deutsche Wirtschaftsgeschichte geht, koennte man oft genug, wenn man denn wollte, komplett mit englischsprachiger Literatur arbeiten.
Woran mag das liegen? Oder sehe ich das falsch?​
 
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Eine komplexe Fragstellung. Eine schnelle, aber nicht verkehrte Antwort würde auf "Moden" im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses hinweisen.

Themen, die für eine gewisse Zeit einen hohen Stellenwert aufweisen, "spülen" die entsprechenden akademischen Vertreter in die entsprechenden akademischen Positionen.

Sehr deutlich konnte man dieses in der Phase des studentischen Protestes und der Phase danach erkennen mit einem deutlichen Schwerpunkt auf einer "linken Theoriebildung" (Offe, Narr, Senghaas, Wehler, Habermas etc.).

Mit dem generellen Niedergang der Wertschätzung der Geisteswissenschaften im allgemeinen, auch in der Öffentlichkeit der Medien, hat sich diese emotionalisierte Diskussion entspannt, um im Rahmen des Historikerstreits kurzfristig an "alter Schärfe" zu gewinnen. Geisteswissenschaftler sind weitgehend inkompatibel zum seichten Gelaber von Talkrunden und sind spätestens seit der Funktion von Dschungelcamp-Teilnehmern und Comedians als "Welterklärer" in ihren akademischen Turm zurück verbannt worden.

Dennoch unterliegen die einzelnen Teildisziplinen, wie auch die Historiographie, weiterhin den zyklischen Bewegungen von Moden. Und im Falle Deiner These betrifft es das "Ausklingen" der Wirtschaftsgeschichte, die die Diplomatie-Geschichte verdrängte, und heute einer zunehmenden Bedeutung der "Cultural History" ein wenig Platz macht, vereinfacht formuliert.

Und man sollte sich als junger, aufstrebender historischer Trendsetter, sofern man Karriere machen möchte, frühzeitig um die "neuen" Themen Gedanken machen, die noch in der Zukunft liegen. ;)
 
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Nun braucht man keine Wirtschaftshistoriker um Wirtschaftsgeschichte zu machen, dass koennen auch Historiker, Wirtschaftswissenschaftler und Regionalwissenschaftler uebernehmen, aber meine, subjektive, Ansicht ist, dass wirtschaftshistorische Themen auch hier kaum beliebt sind.
Mal aufs regionalwissenschaftliche bezogen: ich bin im Rhein-Main-Gebiet tätig, und muss sagen, dass die Wirtschaftsgeschichte hier stark im Kommen ist.

Hier gibt es in jedem Sommer die Aktion "Route der Industriekultur", um die herum zahlreiche kleinere regionalgeschichtliche Arbeiten entstehen:
Route der Industriekultur Rhein-Main ? Wikipedia

Die Aktionen werden auch sehr gut angenommen.
Auf der wissenschaftlicheren Ebene gibt es in Hessen seit einigen Jahren das "Hessische Wirtschaftsarchiv", meines Wissens hauptsächlich von den IHKs finanziert, mit einer eigenen Publikationsreihe, wobei dessen Leiter m.E. ein gutes Händchen für die Aufnahme interessanter Arbeiten hat.

Hessisches Wirtschaftsarchiv - Startseite

Zentrale Wirtschaftsarchive in ähnlicher Organisationsform gibt es mittlerweile zumindest auch in Baden-Württemberg und Bayern.

Jetzt noch das "aber": So verdienstvoll z.B. die Arbeitsergebnisse rund um die Route der Industriekultur sind, beschränken sie sich meist auf die Schilderung von Baudenkmälern und einzelnen Firmengeschichten.

"Wirtschaftsgeschichte" im klassischen Sinne, also, methodisch gesehen, statistisch gestützter Analysen langer Zeiträume, sprengt meist den Rahmen, was Fähigkeiten und Zeit von Regionalwissenschaftlern betrifft.
 
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Mal aufs regionalwissenschaftliche bezogen: ich bin im Rhein-Main-Gebiet tätig, und muss sagen, dass die Wirtschaftsgeschichte hier stark im Kommen ist.

Hier gibt es in jedem Sommer die Aktion "Route der Industriekultur", um die herum zahlreiche kleinere regionalgeschichtliche Arbeiten entstehen:
Route der Industriekultur Rhein-Main ? Wikipedia

Geklaut aus dem Ruhrgebiet ;)

Wenn man sich den Stellenmarkt für Historiker anschaut, gerade was das privatwirtschaftliche Segment angeht - und damit sind nicht fachfremde Stellen in Unternehmensberatungen, in denen man die erlernten Softskills einsetzen soll, sondern spezifische Historikerstellen gemeint, bei denen die gelernten Historiker auch als solche arbeiten sollen - dann ist die Wirtschaftsgeschichte durchaus gesucht, und zwar sowohl als Archivare in Firmenarchiven (in öffentlichen Archiven werden eher die Leute gesucht, die eine Archivausbildung/-studium oder ein postgraduales Aufbaustudium gemacht haben), als auch als Angestellte in Firmen, welche sich beauftragen lassen, die Firmengeschichte anderer Firmen zu untersuchen. Da gibt es regelrechte Spezialfirmen für.
Seltener werden Wirtschaftshistoriker auch mal im öffentlichen Bereich gesucht, wenn dann in wirtschaftshistorisch ausgerichteten Museen, Verlagen, und/oder Forschungseinrichtungen. Aber gerade bei Museen sind dann häufig eher die Technikhistoriker gefragt, da hier häufig eine enge Verzahnung von Wirtschaft und Technik gegeben ist.

Zur Ausgangsfrage, ob wir einen Studiengang Wirtschaftsgeschichte brauchen (bzw. wir haben ihn ja, ob wir ihn häufiger brauchen). Da stelle ich mich mal ganz naiv hin und sage: Wir brauchen ihn nicht. Solange es im akademischen Bereich Historiker gibt, die fundiert wirtschaftshistorisch ausbilden können und Studenten mit entsprechenden Interessen und Ambitionen entsprechend vertiefen (und sich dann mit der wirtschaftshistorisch ausgerichteten Abschlussarbeit bewerben) können, sind wirtschaftshistorische Studiengänge nicht notwendig.
Aber: Da im Zuge des Bolognaprozesses auf Hochschulseite viel verunmöglicht wurde, was früher an Studiengangkombinationen möglich war, kann es - dies ist rein hypothetisch, also nicht gleich "Feuer!" schreien - auf Dauer durchaus eng werden, was eine fundierte wirtschaftshistorische Lehre angeht. Ich halte es - was man vielleicht zu Recht als als zu sehr von mir und meinen partikulären Interessen ausgehend kritisieren darf - allerdings für fraglich, dass Wirtschaftsgeschichte auf ein breites Interesse bei den Studierenden stößt.

Vom Arbeitsmarkt her halte ich aber eine wirtschaftshistorische Ausrichtung des Studiums - bei gegebenem Eigeninteresse! - für absolut vernünftig.

Ob man von einem "Niedergang der Wirtschaftsgeschichte" in D sprechen kann, weiß ich nicht.
 
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