Silesia
Hier ist zu unterscheiden (siehe Trachtenberg, aber auch Lieven, Albertini etc.):
Die von Dir zitierte Aussage Trachtenbergs bezieht sich (nur) auf die Mobilisierung vom 30.7.1914.
Bzgl. derTeilmobilisierung (und der Kriegsvorbereitungsphase 24 Stunden zuvor) geht es um den Entscheidungshorizont der Reaktion auf das ÖU-Ultimatum, und hier resümmiert auch Trachtenberg, dass dies zu einem "softening" der deutschen Position geführt hat, ..
Das ist zutreffend. Trachtenberg beschreibt das so:
„Die politischen Führer – nicht nur Sazonov – sondern auch der britische Außenminister
Sir Edward Grey und sein deutscher Gegenpart Gottlieb von Jagow, die beide in ihrer Weise
bezüglich der russischen Teilmobilisierung übereinstimmten, - glaubten sicher nicht, dass diese
unweichlich zum Krieg führen würde.“
Meaning Of Mobilisation - Seite 131 – Übersetzung durch mich
Was die Generalmobilmachung angeht so ist Trachtenberg der Ansicht:
„Die Vorstellung die Russen hätten, als die Mobilisierung anordneten, im Glauben gehandelt, „Mobilisierung wäre eine Abschreckung vor dem Krieg“ entbehrt jeder Grundlage. Sie verstanden genau, dass mit der Ausrufung der Mobiliserung der Rubikon überschritten wurde: es gab kein Zurück mehr.“
Meaning Of Mobilisation - Seite 126 – Übersetzung durch mich.
Der Aspekt der Kriegserklärung - wer wem zuerst? - ist kein innenpolitischer in den russischen Quellen gewesen. Hier drehte sich alles um die Außenpolitik, Innenpolitik war nicht von Wichtigkeit, wie an den russischen Eskalationsentscheidungen (insb. Teil-Mob und Mob-Entscheidungen) im Detail ablesbar ist.
Ich kann das nicht bestreiten. Aber es wäre doch verwunderlich wenn dem so gewesen sein sollte oder war.
„Aber in den zwei Jahren nach 1912 gab es eine dramatische Zunahme bei den Fabrikstreiks sowohl an Zahl auch an Militanz. Sie kulminierte im Juli 1914 in einem Generalstreik in St. Petersburg, wo es während eines Staatsbesuchs des fränzösischen Präsidenten zu Straßenkämpfen und zu Errichtung von Barrikaden kam. ….
Trotz aller Anstrengungen für politische Reformen befand sich das städtische Russland am Vorabend des Ersten Weltkriegs am Rande einer neuen und potenziell gewaltsameren Revolution, als es die „Kostümprobe“ von 1905 gewesen war“
Orlando Figes, Russland – Die Tragödie eines Volkes – Seite 252.
Interessant ist auch die These von Imanuel Geiss (Der Lange Weg In die Katastrophe -Seite 60),
„Nikolaus II. hatte nach dem verlorenen Krieg [1905 gegen Japan, Anmerkung durch mich] nur noch die Wahl zwischen sozialer Revolution von links und panslawistischem-chauvinistischem Umsturz von rechts als Reaktion auf ein Zurückweichen vor dem deutschen Ultimatum [ die Generalmobilmachung vom 30.07.1914 zurückzunehmen, Anmerkung durch mich] .“
Und nimmt man noch das Durnovo-Memorandum vom Februar 1914 hinzu,
http://novaonline.nvcc.edu/eli/evans/his242/documents/Durnovo.pdf
also das Memorandum in dem der ehemalige Innenminister auf die besonderen innenpolitischen Gefahren für Russland im Falle eines europäischen Krieges, mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die erste Russische Revolution 1905/06, hinweist,
dann muss man ja geradezu erstaunt darüber sein, dass der Aspekt wer zuerst den Krieg erklären würde nicht erheblich gewesen sein soll.
Wenn also dem so war, so frage ich mich, wie ich das in das in das Netz der mühsam gewonnenen Vorstellung hineinweben könnte.
Man könnte vermuten, dass hier eine nicht ungewöhnliche Ignoranz zu sehen ist, deren Gipfel der Zar selber ist. Es gäbe ja nicht wenige Anhaltspunkte dafür.
Ebenso könnte man annehmen, dass es überhaupt keine Option war den Krieg als erster zu erklären.
Das würde nicht nur den innenpolitischen Rahmen abbilden, sondern auch den außenpolitischen.
In beiden Fällen aber wäre die Quellenlage bezüglich innenpolitscher Erwägungen wohl eher dürftig.
Und da bleibt es erstmal wahrscheinlich so wie Du sagst:
Der Erste Weltkrieg wird von den verschiedenen "beteiligten"/engagierten wissenschaftlichen Disziplinen als eines, oder sogar als das komplexeste Ereignis der Weltgeschichte angesehen.
Und wie sagt der Schüler so 'schön', der Faust aufsuchen wollte, und dann auf Mephisto traf: "mir wird von Alledem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum."