Die Bosnische Annexionskrise von 1908/09

Turgot

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In letzter Zeit, aber auch schon davor, wird immer wieder die Annexionskrise von 1908 mit in die Diskussion eingebracht. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, hier einem entsprechenden Faden zu eröffnen.

Beginnen möchte ich mit den beiden wichtigsten Protagonisten dieser schweren diplomatischen Krise; Iswolsky und Aehrenthal.

Iswolsky

Alexander Iswolsky wurde 1856 geboren. Schon als neunzehnjähriger trat er in dem diplomatischen Dienst des Zarenreichs ein.

Nach Dienstleistung im Osmanischen Reich, Rumänien, Bulgarien und den USA wurde er 1894 zum Ministeresidenten am Vatikan ernannt.1897 wurde er nach Belgrad versetzt und im gleichen jähr ging es weiter nach München. 1900 erhielt er seinen ersten bedeutenden Ministerposten in Tokio.
Seine Tätigkeit dort stand aber nicht unter einen besonders glücklichen Stern.(1)

Nach Tokio hatte er, so schreibt Iwolsky selbst, wenig Aussicht auf einen Posten von Bedeutung zu erhalten; er hatte eine Politik kritisiert, in die sicher Zar selbst stark engagiert hatte. Iswolsky hatte es der Kaiserinwitwe Maria, geborene Prinzessin Dagmar von Dänemark, zu danken, das er 1903 den Posten in Kopenhagen erhielt.

Dänemark war zwar keine bedeutende Großmacht, aber immerhin machte die Verwandtschaft zwischen der russischen und dänischen Dynastie, Nikolaus war der Enkel von Christian IX., Kopenhagen zu einen sicher nicht unwichtigen Posten. Er trat im Jahre 1903 dort seinen Posten an.

Aus Mangel an qualifizierten Konkurrenten konnte sich Iswolsky Hoffnung machen, eines Tages Außenminister zu werden und das ohne je eine wirklich bedeutende Botschaft geleitet zu haben. Das war Iswolsky selbst auch bewusst und er wollte gerne eine große Botschaft, Berlin oder Paris vorher geleitet haben.

Iswolsky hatte eine liberale Einstellung und bewunderte den britischen Parlamentarismus.

Am 05.Mai 1906 erhielt Iswolsky von Lambsdorff den Bescheid, das er Nachfolger Lamsdorffs wird. Der Zar hatte Lamsdorffs Abschied wegen dessen Erkrankung bewilligt gehabt.(2)

Nelidow hatte nicht das geringste Interesse Außenminister zu werden (3) und Muraview, Iswolsky Vetter, besaß zwar die Gunst des Souveräns. Zog aber einen wohldotierten Botschafterposten der Sängerbrücke vor,(4) zumindest nach der Ansicht von Aehrenthal.

Iswolsky wurde von zeitgenössischen Beurteilen recht einstimmig u.a. der Eitelkeit, Feigheit, des Opportunismus, Snobismus, der Schöntuerei, Unzuverlässigkeit und Verschwendung beschuldigt. Eine Charakteristik findet sich bei Taube, (5) der ISwolsky auch einen richtigen Staatsmann nannte. Aber seine Kritiker erinnern sich auch an seine diplomatische Begabung und Geschick, seine Belesenheit

Die russische Presse feierte die Ernennung. Iswolsky sei berufen zu den wichtigen, den Lebensinteressen Russlands entsprechenden Prinzipien zurückzukehren. (6)


(1) Berichte Ambro an Goluchowski von 16.10 und 02.12.1902 und des Weiteren Boutiron an Delcassé vom 04.12.1902 in DDF 2: II. S.643f

(2) Telegramm Wydenbruck an Goluchowski vom 07.05.1906

(3) Iswolsky, Mémoires, S.38f

(4) Bericht Aehrenthal an Goluchowski vom 30.06.1905

(5) Michael Taube, Der grossen Katastrophe entgegen S.96 ff

(6) Bericht Aehrenthal an Goluchowski vom 01.August 1906


Ich werde nach und nach, ist ja schließlich ein Stück Arbeit, hier weiter machen. Fortsetzung folgt; in der nächsten wird dann Aehrenthal vorgestellt werden.
 
Aehrenthal

Aehrenthal wurde 1854 in Groß Seal, Böhmen, geboren. Bereits 1877 trat Aehranthal in den diplomatischen Dienst seines Landes ein.

Sein erster Auslandsposten war Paris. Ab 1878 folgte Petersburg , zunächst als Attaché später bis 1894 als Legationsrat. Von 1895 bis 1898 war er Gesandter in Bukarest.

Ab 1899 war Aehrenthal dann Botschafter seines Landes in Petersburg bis zur seiner Berufung als Außenminister im Jahre 1906.

Aehrenthal hatte also beispielsweise nie in den großen Botschaften London und Paris Dienst getan. Daher vielleicht auch, eben aufgrund fehlender eigener Anschauung, die Neigung, den Einfluss der Volksvertretung und öffentlichen Meinung zu unterschätzen.

Durch seine lange Dienstzeit in Petersburg verfügte er über sehr gute Kenntnisse des Landes und hatte auch entsprechende Kontakte zur Führungsschicht.

Aehrenthal war eine entschlossene und tatkräftige Persönlichkeit. In der Verfolgung seiner Ziele zäh und erfinderisch.. Ängstlichkeit oder Zweifel waren seine Sache nicht. Gegenüber Personen, die ihm in Wege standen, konnte Aehrenthal durchaus rücksichtslos sein.

Er verfügte über umfassende außenpolitische als auch diplomatische Kenntnisse, eine Fähigkeit, glänzende und weitreichende großpolitische Projekte klar und logisch darzustellen. Er war ein ausgezeichneter Berichterstatter und geschickter Unterhändler, und die Selbstständigkeit und offenherzige und furchtlose Kritik an seinem Chef Goluchowski, die sein Schriftwechsel mit diesem während seiner Botschafterzeit in Petersburg zeigt, dürften wohl in der österreichischen Diplomatie in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg wohl recht ungewöhnlich sein. Erwähnenswert ist sein glühender Patriotismus.

Seine Verschwiegenheit, sein dialektisches Talent führten ihn zuweilen über die Grenze einer absichtsvollen Irreführung. Er wurde auch schon mal heftig, schulmeisterlich und schuf sich so unnötigen Widerstand, was wiederum seine Arbeit erschwerte.

Eine Charakterisierung Aehrenthals ist bei Friedjung, Das Zeitalter des Imperialismus 1884 - 1914, Band II, S.236ff zu finden.

Mit allen seinen Vorzügen und Fehlern war Aehrenthal -genau wie Iswolsky- bei seiner Ernennung wohl unstrittig ein hervorragender Anwärter auf den Posten des Außenministers. Er selbst strebte aber gar nicht nach dieser Beförderung und nur weil Franz-Joseph förmlich darauf bestand, nahm er die Ernennung schließlich im Oktober 1906 an.

„Im Folge des Bestehens Seiner Majestät habe ich das patriotische Opfer gebracht und mich, als treuer Diener, auf die Bresche gestellt, in der Hoffnung , vielleicht doch in der Lage zu sein, das weitere Hinzugleiten auf der schiefen Ebene aufhalten zu können. (1)

Aehrenthal strebte an, da in Anlehnung einer Idee von Bismarck, den Balkan in Interessensphären zwischen Russland und Österreich-Ungarn aufzuteilen. Im Prinzip war er ein Anhänger des alten DreiKaiserbündnisses und wollte gewissermaßen eine konservative Interessengemeinschaft der europäischen Kaisermächte herbeiführen. (2)


(1) Aehrenthal an Franz Ferdinand am 25.10.1906 nebst einen Promemoria, das er bei seiner ersten Audienz dem Kaiser vorlegte (Nachlass Franz Ferdinand)

(2) Musulin, Das Haus am Ballplatz,S.85 über Aehrenthals Zukunftspläne

Fortsetzung folgt.
 
Die ersten zwei Jahre Iswolskys als Außenminister können sich sehen lassen. Im Sommer 1908 war ein Abkommen zwischen Dänemark, Schweden, Deutschland und Russland unterzeichnet worden, welches vorsah, den Status Quo in der Ostsee zu erhalten.

Des Weiteren war 1907 das bahnbrechende Abkommen über den weltweiten kolonialen Ausgleich zwischen Großbritannien und Russland vereinbart worden.

Iswolsky erhielt von Aehrenthal eine Einladung, die das Datum des 01.Mai 1908 trägt, um über die österreihisch-ungarischen- russischen Beziehungen zu sprechen.

Iswolsky antwortete zustimmend am 02.Juli. Die Antwort hat wohl so lange gedauert, weil Iswolsky die Meinung Urussows uns mutmaßlich sich mit den Botschaftern in Berlin, London, Rom und Konstantinopel besprach.(1)

iswolsky Antwort war sehr präzise und behandelte Punkt für Punkt der Reihe nach die Balkanbahnen, die 1897er Entente und die mazedonischen Reformen. Es wurde festgestellt, die russische Regierung habe zwar davon abgesehen, den Demarchen Aehrenthals für die Sandshakbahn entgegenzuarbeiten, dadurch aber keineswegs zum Artikel 25 des Berliner Vertrages Stellung genommen.

Iswolsky war beispielsweise, ganz im Gegensatz zu Lambsdorff, bereit, die Sandshak-Bahn zu akzeptieren; erwartete aber als Gegenleistung das die Monarchie die Gesuche um die Erlaubnis zu Vorstudien und um die Konzession für die Donau-Adria-Bahn stütze, die ein für diese Bahn gebildetes internationales Syndikat zu gegebener Zeit die der Hohen Pforte einreichen werde.

Des Weiteren stellte Iswolsky mit Freude die zwischen Petersburg und Wien herrschende Einigkeit fest, sowohl in Bezug auf die Notwendigkeit, des Status Quo auf dem Balkan solange es die Zeitumstände zuliessen, zu erhalten (2)

Iswolsky kommt dann auf die Provinzen Bosnien und die Herzegowina zu sprechen. Er erklärt, das die russische Regierung die Annexion dieser Provinzen und Novibazars für eine frage von europäischen Charakter halte, die nicht allein von Russland und Österreich-Ungarn allein geregelt werden könne. Der gleiche Vorbehalt gelte für die Meerengenfrage.

Nichtsdestoweniger sei man im Hinblick welche beide Länder den für sie günstigen Lösungen dieser Fragen beimessen müssten, russischerseits bereit, sie im Geiste freundschaftlichere Reziprozität zu diskutieren.

Iswolsky bot Aehrenthal also zum Preis von Gegenleistungen in Bezug auf Konstantinopel , , das umliegende Territorium und natürlich die Meerengen, die russische Zustimmung zur Annexion nicht nur Bosniens und der Herzegowina sondern darüber hinaus auch Novibazars an.

Soweit war wohl vor iswolsky noch kein russischer Außenminister gegangen. Lamdsorff hatte es völlig vermieden und Muraview sich direkt geweigert.Giers hatte der Annexion zwar prinzipiell zugestimmt, aber signalisiert, das die Monarchie davon bis auf weiteres kein Gebrach machen dürfe.

Iswolsky schickte diese positive Antwort an Aehrenthal, ohne das er seine Kabinettskollegen informiert hatte. Er nahm das in Kauf, um die Zustimmung für die Lösung der Meerengenfarge zu erreichen. Das wäre natürlich auch ein riesiger Prestigegewinn.

(1) Bericht Berchtolds an Aehrenthal vom 04.07.1908

(2) Die Worte „la nécessité de maintenir le stausquo actuel aussi longtemps que circonstances le permettront“ sind im Original des russischen Aide-Mémoire 1909, GeheimXXXVII d, gesperrt.


Fortsetzung folgt mit dem Treffen zwischen Aehrenthal und Iswolsky in Buchlau.
 
Aehrenthal antwortete am 27.August. Sie enthielt alle Gedanken, die der neuen Entente zugrunde liegen sollten.

Im Mittelpunkt der Denkschrift steht der folgende Satz;


„Die beiden Kabinette werden ihren Beschluss treu bleiben, den gegenwärtigen Status Quo in der Türkei solange aufrechterhalten, solange es die Umstände es erlauben werden. Sie verpflichten sich, von jeder Intervention im Nahen Osten abzusehen, außer nach voriger zwischen Ihnen geschlossenen <übereinkungt.“


„Sollten aber zwingende Umstände Österreich-Ungarn verpflichten, Bosnien und die Herzegowina zu annektieren, wird die kaiserliche Regierung die Zusicherung geben, gegenüber dieser Maßnahme eine wohlwollende und freundschaftliche Haltung einzunehmen. Ihrerseits würde sich die k.u.k. Regierung verpflichten, sobald die Annexion proklamiert ist, zugleich die Truppen aus dem Sanshak zurückzuziehen und definitiv auf jede Okkupation dieses Territoriums zu verzichten.“ Gerade diese Zusage war ein Zugeständnis, was sich später als unvorteilhaft für die Monarchien erweisen sollte. (1)

Als dieses Memo dann per Kurier abgeschickt wurde, befand sich Berchtold bereits auf der Fahrt nach Karlsbad, wo Iswolsky und Clemenceau sich auf Kur
befanden.

Am. 30.August erreichte das Memo Berchtold in Karlsbad. Berchtold Mega sich unverzüglich in das Hotel Cleopatra, in dem iswolsky sein Quartier aufgeschlagen hatte. Iswolsky stellte nach Studium dem Memorandums fest, das die Anregungen Aehrenthals sich im Großen und Ganzen auf eine Linie bewegen, die zu einer Verständigung führen könnte.“ (2)

Iswolsky nahm jedenfalls die ausgesprochene Einladung nach Buchlau, Berchtolda Schloss, an.

Am 04.September traf Aehrenthal in Salzburg den italienischen Außenminister. Tittoni erkannte die Ansprüche Österreich-Ungarns auf die beiden Provinzen an und erhob auch keine Ansprüche auf Kompensation, da diese defacto ka ohnehin schon im Besitz der Monarchie waren. (3)

Am selben Tage traf Iswolsky mit dem serbischen Außenminister zusammen und informierte diesen über die Annexionsfrage und meinte, das die Räumung des Sandshak ein großes Zugeständnis Wiens sei. Beide Minister rechneten mit einer baldigen Annexion und, das ist jetzt von großer Bedeutung, „Milanovic was evident of the opinion that under the conditions outlined by Izwolsky the annexation would be acceptable.“(4)

Am 05.09. traf Aehrenthal mit dem deutschen Staatssekretär des Äußeren Schön in Berchtesgaden zusammen. Aehrenthal informierte offen über die Kommunikation mit Iswolsky und Tittoni und das die gegenwärtige Entwicklung Österreich-Ungarn zwingen könnte, „einer endgültigen Regelung des Verhältnisses von Bosnien und der Herzegowina näherzutreten.

Die Verbündeten hatte Aehrenthal also vorab informiert; die Westmächte hingegen nicht.

(1) Hantsch, Leopold Graf Berchtold, Band 1, S.116f
(2) Hantsch, Leopold Graf Berchtold, Band 1, S.117
(3) Aufzeichnung Aehrenthals über die Gespräche mit dem italienischen Außenminister in HHStA
(4) Helmreich, The Diplomacy of the Balkan Wars 1912-13, S.14
(5) GP 26/1, Nr.8927


Fortsetzung folgt und dann auch mit dem Treffen in Buchlau. Aber diese hier genannten Informationen sind von Wichtigkeit und konnten nicht ausgeblendet bleiben.
 
Buchlau
Abends am 15.September trafen sich auf Schloss Buchlau Iswolsky und Aehrenthal. Der österreichisch-ungarische Außenminister wird vom Sektionchef Esterhazy und Kabinettschef Max von Gagen begleitet. Außerdem war auf österreichischer Seite Berchtold, Botschafter in Petersburg, als Gastgeber und der k.u.k. Botschafter in Rom Lützow vertreten.

Iswolsky wurde vom Ersten Sekretär der russischen Botschaft in Wien, Demidow, begleitet.

Die Gespräche begannen am 16.09.1908. Auch die Presse war vor Ort; kam aber nicht auf ihre Kosten.

Über die Verhandlungen erteilt uns das Tagebuch von Berchtold Auskunft.

Wesentlich ist das Folgende: Iswolsky habe die Formel der Annexion Bosniens und der Herzegowina gegen Verzicht auf den Sandshak akzeptiert. Für Russland wird von der Monarchie im Gegenzug die freie Dardanellendurchfahrt, Griechenland erhält Kreta und Bulgarien die Unabhängigkeit akzeptiert.

Serbien und Montenegro sollen ein paar Grenzkorrekturen auf Kosten Bosniens und der Herzegowina erhalten. Auf den letzten Punkt ging Aehrenthal erst gar nicht ein. Er bot an, Serbien das man Serbien in die europäische Donaukommission zulassen könne und durch platonische Erklärung eventueller Grenzerweiterung gegen Süden schadlos halten und Montenegro von den einschränkenden Bedingungen des Berliner Traktates befreien könnte. So durfte Montenegro keine eigene Kriegsflagge führen, keine eigenen Kriegsfahrzeuge besitzen, fremde Kriegsschiffe durfte in dem Hafen von Antivari nicht einlaufen, Befestigungen durften errichtet werden und kein Recht der Ausübung als Seepolizei.

Berchtold erschien lediglich die Aufhebung der Bestimmung hinsichtlich der fremden Kriegsschiffe bedenklich.

Am Donnerstag den 17.00.1908 gab Iswolsky Berchtold ein Resume der Verhandlungen mit Aehrenthal, deren Resultat ihn sehr zu befriedigen schien. Er versicherte mir, erfreut zu sein, das es zu dieser Aussprache gekommen sei. Das Resumé stimmte beinahe wörtlich mit dem von Aehrenthal überein.(1)

Aehrenthal habe den russischen Minister noch darüber informiert, das die Annexion zeitnah, vor den Zusammentritt der Delegationen, stattfinden werde. Problematisch für Iswolsky, war, das er im Gegensatz zu Aehrenthal nicht seine Verbündeten informiert und um Zustimmung gebeten hatte.

Also haben sich die die beiden Minister auf eine Lösung auf Gegenseitigkeit
geeinigt. Die Provinzen für die Dardanellendurchfahrt. (2)

Mittags nahmen Iswolsky und Demidow noch ihren Lunch ein und fuhren dannmit dem Zug nach Wien. (3)

Das abschließende Pressekommunique teilte nichtssägend mit: „Die zu Buchlau stattgehabte Begegnung des Herrn iswolsky mit Baron Aehrenthal hat den beiden Staatsmännern Gelegenheit gegeben, sich nicht nur über die allgemeine Lage in Europa, sondern hauptsächlich über die Angelegenheiten der Türkei miteinander auszusprechen, wo seit dem letzten Sommer eine durchgreifende Veränderung der Verhältnisse stattgefunden hat. Aufgrund dieses Gedankenaustausches waren die beiden Minister in der Lage, vollkommene Übereinstimmung ihrer Anschauungen über die läge in der Türkei zu konstatieren. Da diesfalls allgemein akzeptierte Parole ist, dem neuen Regime eine wohlwollende und zuwartende Haltung einzunehmen, von der Hoffnung ausgehend, das dieselbe sich konsolidiere und zu einem Elemente des Friedens in Europa werde.“(4)


(1) Berchtold Tagebucheintrag 17.09.1908
(2) Schmitt, The Annexation of Bosnia 1908/09 und Roses, Russia and the Balkan, S.5ff
(2) Berchtold, Tagebucheintrag 17.09.1908
(3) Molden, Aehrenthal, S.60
 
Die Krise Teil 1
Ende September wurde der deutsche Verbündete über den Termin für die Annexion informiert.

Am 30.September schickte Aehrenthal Iswolsky, der war zu diesem Zeitpunkt gerade in Paris, einen kurzen Brief. In ihm wurde mitgeteilt, das der 07.Oktober der Termin für die Annexion sei. Der Termin wurde mit den jüngsten Ereignissen begründet.

Am 03.Oktober schickte Aehrenthal an seinen Botschafter in Konstantinopel, Pallevicini, den Text der Note, die er am 06.Oktober auf der Pforte überreichen sollte.
In dieser Note wurde der Verzicht auf die Rechte im Sandshak/Novibazar und deren Bergründung zum Ausdruck gebracht. Und dann die Annexion der beiden Provinzen einschließlich Begründung.

Pallavicini setzte die Note dem Großwesir Kiamil Pascha auseinander. Der Großwesir führte, durchaus verständlich, aus, das die Türkei die Annexion nicht so einfach hinnehmen könne. Mit anderen Worten: Die osmanischen Regierung erklärte sich eindeutig gegen die Annexion.

Für den 05.10. bzw. 06.10.1908 war geplant, das ein Schreiben Franz-Josephs an die Staatsoberhäupter der Großmächte übergeben wird.

Der k.u.k. Botschafter in Paris allerdings machte einen Fehler. Er überreichte das Schreiben bereits am 03.Oktober, weil der französische Präsident zum vorgegebenen Termin nicht in der Hauptstadt sein würde. Auch Außenminister Pichon wurde informiert und um Diskretion gebeten.

Schon am Nachmittag des 03.Oktober veröffentlichte die Nachrichtenagentur Fournier die Nachricht vom Besuch des Botschafters. (1)

Am 04.Oktober traf Iswolsky in Paris ein. Zweck war die diplomatische Absicherung der Vereinbarung mit Aehrenthal; als für iswolsky eben die freie Durchfahrt durch die Dardanellen.Die französischen Staatsmänner hatten grundsätzlich nichts einzuwenden, wie der deutsche Botschaftsrat von der Lanken Wakenitz unter dem Datum des 05.Oktober zu berichten weiß. (2)

Lanken Wakenitz berichtet in sein Erinnerungen auch von einem Treffen in Paris mit Iswolky, welches auf dessen Anregung stattgefunden hat.
Es war eigentlich eher eine einzige Schimpfkanonade Iswolsky, der heftig erregt war, gegen Aehrenthal. Aehrenthal würde Europa in dem Abgrund stoßen, er, Iswolsky würde Aehrenthal unschädlich machen und der Gipfel war, das iswolsky dazu aufforderte das Deutschland Österreich-Ungarn in Stich lassen solle. (3)

Am 05.Oktober wurde die Absicht in der Monarchie bekannt.

In Serbien war der Teufel los.Öffentlich Aufzüge, massenhafte freiwillige Meldungen zum Militär, leidenschaftliche, nationalistische Reden etc.etc.. Der frühere serbische Ministerpräsident Nikolajevic war dafür, sofort den Sankshak zu besetzen. Auf jeden Fall wurden schon mal die Reservisten einberufen und in Wien sollte eine Protestnote überreicht werden. (4)

Ebenfalls sehr heftiger Unmut gab es in Russland. Nicht nur gegen die Monarchie, sondern auch gegen den eigenen Minister, der verdächtigt wurde, ebenso wie Tittoni, sich von Aehrenthal ausgetrickst worden zu sein.(5)

An dieser Stelle ist es nicht ganz unwichtig einzuschieben bzw. vorzuschalten, das Iswolsky in der Folge gelogen hat, das sich die Balken biegen.

Iswolsky sandte am 16.September einen Bericht über die Gespräche mit Aehrenthal an Carykov (6), aus dem ohne Zweifel hervorgeht, das Iswolsky schlicht die ganze Weltöffentlichkeit frech angelogen hat; wohl um seinen Misserfolg zu kaschieren.
Wörtliche Zitat:" Ich habe mit absoluter Sicherheit festgestellt, das die österreichisch-ungarische Regierung sich unwiderruflich für eine Annexion Bosniens und der Herzegowina entschlossen hat. [...] Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Baron Aehrenthal die Annexion vor den Delegationen, die am 06.Otkober zusammentreten werden.[...] Man kann kaum davon ausgehen, das Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina irgendwann einmal an die Türkei zurückgeben könnte.
Auch aus dem Bericht des russischen Botschafters in Wien, Urussow, geht klar hervor, das die Russen mit dem 06.10. als Datum der Annexion rechneten. Der Bericht wurde auf Veranlassung Iswolsky nach Petersburg geschickt. (7)

Der damalige Mitarbeiter des russischen Außenministerium Michael Taube stellt interessant Fragen in dem Raum: Hatte Russland im Jahre 1908 überhaupt ein tatsächliches Interesse daran, das die Kriegsschiffe seiner Schwarzmeerflotte im Mittelmeer fahren zu sehen? Welches politische oderwirtschaftliche Problem , das mit anderen Mitteln nicht zu lösen wäre, verlangte die Gegenwart der stolzen Andreasflagge mit dem blauen Kreuz bei den Inseln in Malta, in Alexandria oder in den Stapelplätzen der Levante? Welcher maritime Zweck jenseits der Meerengen ließ die natürlich Fürsorge und die direkte Pflicht vergessen, vor allem für die Verteidigung der eigenen Küsten zu sorgen? Die Antwort auf alle diese Fragen konnte nur eine negative sein. Auch hier wie in der Frage der Alandinseln jagte Iswolsy einen Phantom nach, das heißt einer klangvollen Formel, die einzig seiner diplomatischen Eitelkeit schmeichelte, ohne ein wirkliches Interesse für Russland zu haben. (8)

(1) Skrivan, Schwierige Partner S.94 ff
(2) Canis, Der Weg in dem Abgrund, S.290
(3) Lanken Wakenitz, Meine dreissig Dienstjahre, S.72
(4) Molden, Aehrenthal, S.72
(5) Canis, Der Weg in dem Abgrund, S.290
(6) Bestuzev, Bor´ba, No.5, S.122-123
(7) Siehe (1) S.121-122
(8) Taube, Der Katastrophe entgegen, S.164f

Fortsetzung folgt die Tage.
 
Ein bisschen geht noch.

Die Krise Teil 2
Am 05.Oktober, abends, suchte der Chefredakteur des Temps den österreichisch-ungarischen Botschafter Khevenhüller auf. Er erfuhr von Tardieu, das Iswolsky der Annexion nicht beistimme und das Russland in dieser Frage mit Frankreich und England gehen wolle.

Khevenhüller hatte dann noch selbst ein Gespräch mit Iswolsky, von dem er unter dem Datum des 06.Oktober berichtet. Iswolsky behauptet nun, das diese Angelegenheit ein europäische sei und diese Ansicht auch gegenüber Aehrenthal vertreten habe.(1)

Den serbischen Gesandten Vesnic erklärte Iswolsky, „Österreich-Ungarn habe 1878 habe gemeinsam mit England und Deutschland Russland in Berlin auf die Anklagebank geführt, jetzt werden wir Österreich hinführen.(2)

In Petersburg wurde Berchtold ein Telegramm von Iswolsky vorgelesen: “Ich habe mich vor allem bemüht, den falschen Eindruck zu zerstören, der hier durch den österreichisch-ungarischen Botschafter hervorgerufen wurde, als ob seine Regierung an die Annexion mit Zustimmung Russlands und Italiens geschritten wäre. Ich habe sofort geantwortet, dass ich im Gegenteil dem Baron Aehrenthal ausdrücklich erklärt habe, dass wir die Annexion als einen Angriff auf den Berliner Vertrag…betrachten.

Berchtold stellte sofort den Widerspruch des Telegramms zu dem ihm in Buchlau von Iswolsky gegebenen Resume der Besprechungenfest, „welches den Akkord über die Balkanangelgenheiten konstatierte, als deren ersten Punkt Annexion von Bosnien und der Herzegowina figurierte. Die jüngste Kundgebung Iswolsky „sei so gefaßt, als hätten wir ohne Zustimmung Russland gehandelt.“ Würde dieser Widerspruch nicht aufgeklärt, so müsste er um seine Abberufung bitten, wenn sich die ihm gegenüber „getane Aussprache Herrn Iswolskys als Irreführung herausstellen sollte.“ (3)

Am Freitag dem 09.Oktober begab sich Iswolsky nach London.

Zu seiner großen Enttäuschung musste er in London von Grey zur Kenntnis nehmen, das, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht mit britischer Unterstützung gerechnet werden könne.Dazu kam noch, das Bulgarien seine Unabhängigkeit, ohne Erlaubnis und Einverständnis Petersburgs proklamiert hatte. Iswolsky seine Wut, seine Enttäuschung richtete sich in erster Linie nicht gegen Grey, sondern gegen Aehrenthal. Iswolsky spielte den Geprellten. (4)


(1) Bittner und Uebersberger, Die Außenpolitik Österreich-Ungarns, Band I, NR. 154 und 155

(2) Boghitschewitsch, Die auswärtige Politik Serbiens, Band 1 Nr.6

(3) Bittner und Uebersberger, Die Außenpolitik Österreich-Ungarns, Band I, NR. 196 und 198

(4) Steve, Deutschland und Europa 1890 -1914, S.85

Fortsetzung wird folgen.
 
Ich sehe gerade, das ich bei den Reaktionen auf die Annexion, das hier noch Großbritannien fehlt. Das möchte ich noch kurz nachholen, bevor es denn weitergeht.

Die Annexion und die Unabhängigkeitserklärung Bulgarien lösten schlicht ein Sturm der Empörung, ja der Entrüstung aus. Die großen meinungsführenden Zeitungen bezeichneten die Annexion als Bruch des Berliner Vertrages von 1878. Während das französische Außenministerium ruhig und versöhnlich blieb, gab sich die britische Regierung moralisch und zutiefst gekränkt. Den eigenen Rechtsbruch von 1904 hatte man wohl vergessen und war natürlich etwas ganz anderes.
Nach Greys Bekunden spielte es keine Rolle, ob Österreich-Ungarn annektierte, statt es bloß weiterhin besetzt zu halten. Er hatte auch schon die Unabhängigkeit Bulgarien schon im Jahr davor erwartet gehabt. (1)
Grey nahm Anstoß an die Art und Weise, wie die Monarchie mit dem Berliner Vertrag umgehe. Hierbei war Grey durchaus bekannt, das die große Bevölkerungsgruppe der Serben permanent gegen die Monarchie opponiert, um es zurückhaltend zu formulieren, und dies mit russischer Unterstützung. Serbien wollte ein Großserbien.

Es waren aber 1878 ausgerechnet Salisbury und Disraeli, die Andrassy zur sofortigen Annexion der Gebiete geraten hatten, um der damals noch in den Anfängen steckenden panslawistiscen Bewegung frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Existenz Österreich-Ungarns als Großmacht zu sichern. (2)


(1) BD, Band V, Nr.261
(2) Pribram, Austria-Hungary S.94 und BD Band V, Nr.414
 
Die Krise Teil 3


Es wäre sicher nicht verkehrt gewesen, wenn die Wiener Staatsmänner den Rat Salisburys und Disralis, die beiden hatten vollkommend zutreffend die Probleme der Zukunft für die Monarchie erfasst, gefolgt wären. Ihnen wäre viel erspart geblieben.

Wie schon erwähnt, berief Serbien nach Bekanntgabe der Annexion Reservisten, 110.000 an der Zahl, ein und verlegte seine Truppen in die Grenzregion zu Österreich-Ungarn.

Belgrad verlangte Kompensation. Eine Kompensation die dem Kleinstaat Serbien nach dem Spielregeln des Mächtekonzerts gar nicht zustand. Serbien war nach damaligen Maßstäben gegenüber der Großmacht Österreich-Ungarn gar nicht satiikationsfähig.

Das europäische Konzert basierte auf eine Großmächteordnung, die nicht zuletzt so lange erfolgreich funktionierte, weil die Pentarchie verhinderte, das kleine Mächte die Gesamtstabilität gefährdeten. Im sehr speziellen Falls Serbiens kam noch erschwerend hinzu, das es durch einen anhaltenden Terrorismus den Balkan in Unruhe setzte und damit auch den Abscheu des Auslands erregte.

Aber im vorliegenden Falle wurden die Serben von Russland, Iswolsky mühte sich zu retten, was zu retten war aber auch von Großbritannien, unterstützt. London setzte u.a. auf die Moral. Der serbische Außenminister Milanovic äußert hierzu:“Nicht Russland hat Serbien in den Widerstand getrieben, sondern England, allerdings mit dem Schlusssatz aller Ratschläge „sans toutefois faire la guerre.“(1)

Die britische Haltung war schon gewöhnungsbedürftig, hatte man doch gerade 1904 einfach und vorsätzlich selbst geltendes Völkerrecht gebrochen, um Marokko Frankreich in der Entente Cordiale auszuliefern. Darüber hinaus war London, wie die Marokkokrise zeigte, auch dazu bereit, hierfür in dem Krieg zu ziehen.

Was war die deutsche Haltung?

In Berlin wurde die „Einkreisung“ immer bewußter wahrgenommen. 1902 war es zum Bündnis zwischen Japan und Großbritannien gekommen. Demgegenüber stand die mühevolle Verlängerung des Dreibundes, der schleichende Abgang Italiens aus dem Defensivbündnis, die Venezuelakrise, wo sich London aus der gemeinsamen Aktion verabschiedet und sich den Willen der USA gebeugt hatte, die Entente Cordiale und schließlich das Scheitern der Algeciras-Konferenz und endlich die Abmachungen zwischen England und Russland aus dem Jahre 1907. Alles Etappen der sich immer deutlicher abzeichnenden deutschen Isolation.

Kanzler Bülow gab daher die Parole aus, „Wir dürfen nicht die Hauptsache vergessen, das wir das Bündnis mit Österreich-Ungarn unversehrt erhalten.“ Wen sich Deutschland nicht loyal verhalten würde, da war sich Bülow sicher, werde der Zweibund einen unheilbaren Riss erhalten und darüber hinaus auch noch Engländern, Franzosen und Russen die Möglichkeit geben, Deutschland gegenüber Wien zu desavouieren. Dieser Gesichtspunkt erklärte Bülow im Oktober 1908 im AA müsse für Deutschland im Vordergrund stehen.

Da war sie bereits, die deutsche Angst vor dem Verlust des Bündnispartners eben vor dem Hintergrund der Isolation.

Berlin engagierte sich also auf Seite des Ballhausplatzes und lehnte konsequent eine Kompensation Serbiens ab.

Die Unterstützung Russland aber auch Englands ermutigte Belgrad natürlich.

(1) Bittner und Uebersberger, ÖUA Band II, Nr.1747
 
Zuletzt bearbeitet:
Zwischen Oktober 1908 und Februar 1909 standen sich Wien und Belgrad Gewehr bei Fuss unversöhnlich gegenüber. Interessant ist, das Frankreich zurückhaltend agierte, England nun das erste Mal an der Seite Russland zu finden, damit war die Fraktionierung der Großmächte in Europa abgeschlossen und Deutschland aus genannten Gründen an der Seite Wiens stand.

Das deutsche AA versuchte Grey für eine gemeinsame Vermittlungsaktion zu gewinnen; dieser lehnte aber ab; er hatte ja schon Iswolsky mehrfach die britische Loyalität versichert.

Iswolski machte gegenüber Nicolson den Vorwurf Verrat an dem Bündnispartner begangen zu haben.Grey war hierüber sehr beunruhigt. Er versicherte den Partner mehr als einmal die absolute Loyalität Englands. Gleichzeitig stellte sich Grey auf die Seite Serbiens und dessen Kompensationsansprüche.(1)

Aus Bemerkungen Lord Knollys, Hardinges und Tyrells entnahm der österreichisch-ungarische Botschafter in London, Mensdorff, das man nicht allzuviel von Iswolsky hielt, aber die Rücksicht auf Russland war auf absehbare Zeit nun einmal die Triebfeder der englischen Politik.

Dabei haben beiden Staaten doch eigentlich „nur“ einen kolonialen Interessenausgleich vereinbart gehabt. London ging aber gleich einen Schritt, Persien, Indien, die Angst vor Deutschland, genau wie bei Frankreich, weiter. Jedenfalls war die alte Balance of Power Politik nicht mehr existent. Es wurde „Bündnispflege“ betrieben, obwohl gar kein Bündnis bestand.

Ende Februar 1909 hatten sich Wien und Konstantinopel auf eine Entschädigungszahlung geeinigt. Den Russen genügte das alles nicht. Aehrenthal drohte nun die Beweise für das russische Einverständnis der Annexion der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Das war den Russen außerordentlich unangenehm und man bat allen Ernstes Berlin, dies doch bitte zu verhindern.

Kiderlen-Wächter und Bülow verloren so langsam und allmählich die Geduld. Die Deutschen forderten nun Petersburg geradezu ultimativ auf, nun endlich den Widerstand gegen die Annexion einzustellen. Der deutsche Botschafter Portale wurde bei Iswolsky vorstellig, „das wir eine präzise Antwort- ja oder nein - erwarten, jede ausweichende, verklausulierte oder unklare Antwort würden wir als Ablehnung betrachten. Wir würden uns dann zurückziehen und den Dingen ihren lauf lassen.“ Die Deutschen hatten ganz offenkundig die Nase voll Aber hieraus gleich ein Ultimatum und Kriegsdrohung zu basteln, das geht m.E. nach zu weit. Bei einer anderen passenden Gelegenheit hatte Grey fast die gleichen Wort. „Den Dingen ihren Lauf lassen“ aber da ist gar niemand auf dem Gedanken gekommen, daraus nun eine Kriegsdrohung zu machen.

Schon Martin Kröger hat aufgrund der fehlenden deutschen Kriegserwartung die angebliche deutsche Kriegsbereitschaft erheblich relativiert.

Zweifellos verzögerte England die Lösung der Krise und trieb sie mit seiner Unterstützung Serbiens unnötig und vorsätzlich auf die Spitze.

Wahrscheinlich ging es Grey gar nicht so sehr um die Verletzung des Rechts und die Wahrung des Status der Meerengen, sondern, das die Russen noch immer eine Einigung mit Wien und damit wohl auch Berlin für nötig gehalten hatten. Gegenüber Nicolson machte Grey seinen Ärger darüber Luft, das Iswolsky ihn nicht früher konsultiert hatte. Dies hätte die Demütigung durch die Mittelmächte verhindern können.

Ich könnte natürlich die Krise noch unendlich viel ausführlicher darstellen, aber ich denke, das würde dann doch sicher zu weit führen. Ich hoffe, so zumindest einen groben Überblick geliefert zu haben.

(1) Rose, Zwischen Empire und Kontinent, ab 548 ff und darüber hinaus Bridge, Great Britain and Austria-Hungary S.117-129
 
Dazu eine Anmerkung, nicht direkt zur Annexionskrise, aber allgemein zur Frage der Annexion, auf die ich gestern gestoßen bin.

Es geht hier um den Dreikaiservertrag von 1881:

"Russland erkannte die Erwerbung von Bosnien-Herzegowina an. [...] Wichtig war das beigefügte Sonder-Protokoll: Österreich durfte, wenn es ihm opportun erschien, Bosnien-Herzegowina annektieren."
(Rill, Bernd: Der Berliner Kongress von 1878 - Bismarcks Meisterstück? Ein Erfolg europäischer Friedensdiplomatie, 2022, S. 333 f.)

Natürlich war der Dreikaiservertrag 1908 nicht mehr in Kraft, aber ich fand es schon interessant, dass prinzipiell schon 1881 von der Annexion Bosnien-Herzegowinas die Rede war und Russland dem zustimmte. Bisher war mir nur bekannt, dass Österreich Bosnien erwerben/besetzen, aber eben nicht annektieren durfte. (Laut Berliner Kongress / Dreikaiservertrag).

Den exakten Wortlaut des Protokolls konnte ich leider nicht finden, ich gehe aber davon aus, dass es sich im Artikel V erwähnten Protokoll um das Sonder-Protokoll handelt:

"Art. V. Die hohen vertragschließenden Parteien sichern sich wechselseitig die Geheimhaltung des Inhalts und des Vorhandenseins des gegenwärtigen Vertrages ebensowohl wie des ihm angefügten Protokolls zu."

(Dreikaiservertrag (Dreikaiserbündnis))
 
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Sehr guter Hinweis! Ich hatte oben auch angedeutet, das die Russen schon vorher die Zustimmung erteilt hatten.

Turgot schrieb:
Soweit war wohl vor iswolsky noch kein russischer Außenminister gegangen. Lamdsorff hatte es völlig vermieden und Muraview sich direkt geweigert. Giers hatte der Annexion zwar prinzipiell zugestimmt, aber signalisiert, das die Monarchie davon bis auf weiteres kein Gebrach machen dürfe.
 
Ich wollte für die nachfolgende interessante Information nicht extra einen neuen Faden aufmachen.

Ich habe im Nachlass von Aehrenthal eine interessante Entdeckung gemacht.

Es scheint so, das im Oktober 1904 zwischen dem Zarenreich und Österreich-Ungarn eine Abmachung gab, die vorsah, wenn eine der beiden Vertragspartner alleine Krieg gegen eine dritte Macht führt, das der andere Vertragspartner neutral bleibt. Ob es weitergehende oder nähere Bestimmungen gab, das wird leider nicht erwähnt.

Das ergibt sich aus den Dokumenten 249 und 255 "Aus dem Nachlass Aehrenthal" von Soloman Wank.
 
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Zu der Annexion von Bosnien möchte ich folgendes beitragen.
Es gibt bei den Kroaten einige Aufzeichnungen darüber, wie die Eroberung von statten ging.
Die Kroaten empfanden Bosnien als unglaublich rückständig. Man kann also sagen, dass die habsburger Gebiete auf dem Balkan wesentlich
moderner und entwickelter als die osmanischen Gebiete waren. Aus Sicht der Kroaten wäre dann Bosnien ein Teil Kroatiens gewesen, wäre die Monarchie zu einem System des Trialismus umgebaut worden.
 
Interessant ist, das der britische Botschafter in Paris Bertie, nach einem Gespräch mit Iswolski am 04.Oktober, ihm seine Lügen so nicht abnahm und dies auch nach London mitteilte.
 
Der britische Außenminister nahm eine interessante Haltung hinsichtlich der am 05.Oktober erklärtenUnabhängigkeit Bulgariens ein. Die Türkei sei schlecht behandelt worden und verdiene eine Entschädigung.
Das ist sicher nicht verkehrt aber wie sah es denn mit der Behandlung Konstantinopels bezüglich Tripolis oder Ägyptens aus,
 
Nicht nur Iseolski hatte während der Krise dreist gelogen.
Das tat auch der italienische Botschafter in London, in dem er die unwahre Behauptung gegenüber Grey aufstellte, dass der italienische Außenminister Tittoni nicht vor der Annexion von Aehrenthal entsprechend ins Bild gesetzt worden war.
 
Die Kroaten empfanden Bosnien als unglaublich rückständig.
Das dürfte durchaus davon abhängen, woher genau diese Leute kamen.

Für jemanden aus Zagreb, Städten wie Osijek oder Bielovar aus Istrien, Rijeka oder den größeren Dalmatinischen Städten, dürften sich weiter Teile Bosniens und der Herzegowina eher provinziell dargestellt haben, vielleicht mit Ausnahme von Sarajevo.
Auf Kroaten, die aus den eher rückständigen Gebieten der Lika und aus den ärmeren Teilen Slawoniens und Dalmatiens kamen, dürfte das nicht unbedingt zugetroffen haben.

Man kann also sagen, dass die habsburger Gebiete auf dem Balkan wesentlich
moderner und entwickelter als die osmanischen Gebiete waren.
Nö, kann man nicht.
Man kann nicht einfach Bosnien und die Herzegowina als pars pro toto für den gesamten verbliebenen Osmanischen Balkan nehmen, schon einmal überhaupt nicht anno 1878.

Man wird sagen können, dass die osmanischen Gebiete des Westbalkans, vor allem Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Albanien relativ schlecht entwickelt waren.

Beim südlichen Serbien wäre ich etwas überfragt.

Allerdings, wird man die Osmanischen Besitzungen, die die Pforte bis 1878 im Ostbalkan hielt, nicht unbedingt für schlecht entwickelt betrachten können, gemessen an an den kroatischen Landesteilen der Donaumonarchie.

Sofia, Saloniki, Adrianopel, die Schwarzmeerhäfen Burgas und Warna etc. hätten damals im punkto Entwicklung und städtische Kultur den Vergleich mit ihren Kroatischen Gegenstücken sicherlich nicht unbedingt scheuen müssen.
Was im Speziellen Bosnien angeht, dürfte sich auf die Entwicklung einfach sehr stark negativ ausgewirkkt haben, dass schon in den Jahrhunderten, als Dalmatien noch zur Republik Venedig gehörte (das war bis in die Napoléonische Zeit der Fall) und durch den Dauerkonflikt zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich um Positionen in der Adria, in Griechenland und in der Ägäis, dem bosnischen Gebiet einfach der Meereszugang fehlte, was ein ziemlich starkes wirtschaftlichen Entwicklungshindernis dargestellt haben dürfte und jedenfalls einen Ansatz für die Erklärung der vergleichsweisen Rückständigkeit bietet.

Ein anderer Ansatz ist, dass von Habsburger Seite auch immer im größeren Stil Mittel zur Entwicklung Kroatiens verausgabt wurden. Das beginnt im Prinzip bereits in der FNZ mit der Einrichtung der "Militärgrenze" und dem forcierten Festungsbau, den die Habsburger vor allem dort betrieben und setzt sich später im 19. Jahrhundert vor allem auch in Istiren und Dalmatien fort, als Wien richtig Geld in die Hand nimmt um Triest als Handelshafen für eine werdende Industrienation und Pula und Cattaro als Militärhäfen ausbaut.

Über den Entwickungsstand der Territorien zu Beginn des 19. Jahrhunderts und um den ersten Weltkrieg herum, kann man als Calics "Geschichte Jugoslawiens" ein Bisschen was lernen.
Es hat Entwicklungstchnisch in diesem Raum ein Nord-Süd-Gefälle gegeben (was angesichts der Ausbreitungsrichtung industrieller Neuerungen nicht unbedingt verwunderlich ist) es waren aber eben auch im nördlichen Raum immer strukturschwache Regionen, wie im Besonderen die Lika vorhanden, deren Probleme durchaus denen der Regionen außerhalb der Habsburger Monarchie vergleichbar waren.

In Judsons "Habsburg, Geschichte eines Imperiums" wird in einem der Kapitel ein wenig auf die Region Dalmatien unter der Habsburgischen Herrschaft (also im 19. Jahrhundert) eingegangen und der Landstrich insgesgamt (die alten Venezianischen Städte etwas ausgenommen), als wirtschaftlich wenig dynamisch und im Verglich zu anderen Teilen der Monarchie, rückständig und hilfsbedürftig charaktierisiert.
Judson scheint auch der Meinung zu sein, dass mindestens streckenweise während des 19. Jahrhunderts Dalmatien insgesamt für die Donaumonarchie ein Zuschussgebiet dargestellt habe.

Aus Sicht der Kroaten wäre dann Bosnien ein Teil Kroatiens gewesen, wäre die Monarchie zu einem System des Trialismus umgebaut worden.
Das ist, denke ich etwas missverständlich.

Der Darstellung bei Calic folgend, zielte die Idee der entsprechenden südslawischen Interessengruppen auf die Schaffung eines Südslawischen Königreiches innerhalb der Donaumonarchie auf Basis des "kroatischen Staatsrechts" ab.

Dabei wurde auf die tradidierten Rechte des historischen Königreichs Kroatien abgestellt, dass innerhalb der Königreiches Ungarn de facto einen halbautonomen Status genoss. Die Vorstellung die damals virulent war, lief wohl darauf hinaus diesen halbautonomen Status in eine vollständige Uabhängigkeit zunächst in den Grenzen dees alten Königreichs Kroatien, wie es bis ins 15. jahrhundert existiert hatte zu überführen und das Gebiet anschließend, mit den anderen südslawischen Landesteilen auch unter Einschluss der Slowenischen und der Vojvodina zu einem südslawischen Königreich zu vereinigen und dessen Krone den Habsburgern anzutragen.
Das bedeutet, dass in diesem Sinne das Ansinnen dieses Gebiet "Kroatien" zuzuschlagen nicht unbedingt als nationales Annsinnen im kroatischen Sinne verstanden werden kann.
 
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Ein wichtiger Grund weshalb die Briten Iswolsky Wunsch hinsichtlich der Meerengen ablehnten, war Persien. Der nächste war, das so ein Entgegenkommen ohne Reziprozität der britischen Öffentlichkeit nicht verkauft werden könne.
 
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