Die Entstehung der Tracht

Ich bin ja keine Expertin aber gab es Trachten nicht schon ewig? Schon die Kleidung zu Wikingerzeiten war ja regional unterschiedlich. Es gab unterschiedliche Muster und Schnitte, oder?
Ja, zu Mustern und Schnitten. Einen Beitrag zur Entwicklung der heutigen Trachten würde ich der Wikingerkleidung aber nicht attestieren wollen.
 
Da man mir mit dem freundlichen Hinweis "...lies deine eigenen Links..." einen Tritt im Kontrollzentrum verpasst hat, noch einmal genauer. Dass es auch vereinzelt Schläfenringe in alemannischen Frauengräbern gab, besagt gar nichts - gewisse Moden verbreiten sich über Volksgrenzen hinaus. Nicht desto Trotz gilt ihr häufiges und regelmäßiges Vorkommen zumindest in Deutschland als "Leitfossil" für slawische Grablegungen im Frühmittelalter. Allerdings ist nicht klar, ob dieses Accessoire nicht ursprünglich in Russland von Balten oder Finno-Ugriern, die damals ja auch noch viel weiter südlich saßen, übernommen wurde. Nachzulesen im Slawenhandbuch von J. Herrmann und vom gleichen Autor:
Wikinger und Slawen. Zur Frühgeschichte der Ostseevölker - Akademie-Verlag 1982
Letzteres ist eine wahre Fundgrube mit vielen Rekonstruktionen von regionalem Schmuck und Trachten aus dem Frühmittelalter.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich bin so ein bißchen Fachmann für unsere Trachten hier im hessischen Hinterland (das heißt tatsächlich ganz amtlich so) und wollte mich dazu mal kurz melden.

Tourismus: Es gibt Gebiete in Deutschland und Europa, in denen die angeblichen Volkstrachten erst sehr spät und durchaus unter Einfluß des Tourismus gegen Ende des 19. jh. entstanden, oder auch aus nationalen Beweggründen (Schweden, große Teile Bayerns, Schweiz), aber das gilt nicht für alle Gebiete. Bei uns sind Teile der Trachten, wie z.B. die charakteritischen Hauben (Stilpchen, Mietsche, Schneppekapp und Dellmutsche) auf Grabsteinen bis ins 18. Jh. belegt. Allerdings sind die sonstigen Teile der Tracht durchaus im 19. Jh. wesentlich verändert und weiterentwicklelt worden. Währned im 18. Jh. Lehrer von hier entsetzt nach Darmstadt schreiben, wie grauenhaft altmodisch und zurück geblieben hier die Kleidung ist, werden im 19. Jh. Manchestersamt und Seidenbänder Pflicht.
Anders als in der Schweiz, wo es ja keine Leibeigenschaft mehr gab, hatte hier die Tracht noch bis zur Bauernbefreiung die Aufgabe, die den verschiedenen Herren und Gerichten zugehörigen Bauern zu unterscheiden. Das war z.B. wichtig auf der Kirmes, wo ja Leute aus verschiedenen Dörfern zusammen kamen, die aber nicht frei untereinander heiraten durften. Nach der Bauernbefreiung, als es den Bauern nicht mehr verboten war, Samt und Seide zu tragen, machten die Reichen davon sofort Gebrauch und setzten damit ein Zeichen auch für die ärmeren Bauersfamilien. Allerdings änderte sich die Tracht in jeder einzelnen Generation. Eine feste unveränderliche Tracht, wie sie heute immer wieder von Trachtenvereinen vorgeführt wird, hat es so nie gegeben.
 
achso, Frisuren: Jede Haube hatte ihre eigene festgelegte Frisur, die sich in jeder Tracht von der benachbarten Tracht deutlich unterschied. Zum Stilpchen im Untergericht des Breidenbacher Grundes trugen die Frauen streng zurück gekämmte Haare und am Hinterkopf zwei zu gegenläufig gelegten Kringeln gesteckte Zöpfe, man sah nie Haare unter dem Stilpchen heraus schauen. Zur Dellmutsche im benachbarten Amt Biedenkopf aber trug man auch zwei Zöpfe, die jedoch immer hinten aus der Mutsche heraushingen, obwohl in der Mutsche mehr Platz gewesen wäre, als in einem Stilpchen. Insofern gibt es sehr wohl Trachten, die festgelegte Frisuren haben. Hier im Forum wird "Tracht" sehr modern bayerisch gedacht.
 
achso, nochmal ich: Das mit den Frisuren und ihre Verbreitung bezieht sich nur auf das Hinterland, schon im angrenzenden Wittgenstein gab es nie eine echte Volkstracht! In den meisten Gebieten Deutschlands wie Europas wurden nie echte Trachten getragen. Tracht war immer teuer, das mußte man sich erstmal leisten können. Wir Hessen sind da wirklich alt-trachtenverwöhnt mit dem Hinterland (4 Trachtenarten), Marburg (2), Hüttenberg, Schlitz, der Schwalm, dem Odenwald (6?) und der Spitzbetzeltracht südlich von Kassel.
 
Hier im Forum wird "Tracht" sehr modern bayerisch gedacht.

Gerade das ist nicht der Fall. :) Es geht um Marburger Tracht, sorbische Tracht, schweizer Tracht etc.

Es gibt Gebiete in Deutschland und Europa, in denen die angeblichen Volkstrachten erst sehr spät und durchaus unter Einfluß des Tourismus gegen Ende des 19. jh. entstanden, oder auch aus nationalen Beweggründen (Schweden, große Teile Bayerns, Schweiz), aber das gilt nicht für alle Gebiete. Bei uns sind Teile der Trachten, wie z.B. die charakteritischen Hauben (Stilpchen, Mietsche, Schneppekapp und Dellmutsche) auf Grabsteinen bis ins 18. Jh. belegt. Allerdings sind die sonstigen Teile der Tracht durchaus im 19. Jh. wesentlich verändert und weiterentwicklelt worden.


Die Tatsache dass sich Trachten und die Beschäftigung damit erst während des 18. Jahrhunderts entwickelt haben widerspricht ja nicht dem Faktum dass einige Teile der Tracht Vorläufer bzw. Vorbilder hatten die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen können. Aus nichts kann man ja nichts machen. Sprich: Natürlich hat man sich auf bestehende Moden bezogen die sich sowohl vom ästhetischen Aspekt als auch eventuell von der Funktionalität her bewährt hatten wie zum Beispiel die Schürze.


Währned im 18. Jh. Lehrer von hier entsetzt nach Darmstadt schreiben, wie grauenhaft altmodisch und zurück geblieben hier die Kleidung ist, werden im 19. Jh. Manchestersamt und Seidenbänder Pflicht.

Hier schreibst Du es ja selbst dass sich die Einstellung zur Tracht geändert hat. Es war die Zeit der Romantik, das Bedrüfnis nach einer verwurzelten Identität und etliche andere Faktoren die zur Herausbildung von Trachten geführt haben. Kleidungsstücke einer Region die als identitätsstiftendes Prinzip gesehen werden können.
 
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Die Tatsache dass sich Trachten und die Beschäftigung damit erst während des 18. Jahrhunderts entwickelt haben widerspricht ja nicht dem Faktum dass einige Teile der Tracht Vorläufer bzw. Vorbilder hatten die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen können. Aus nichts kann man ja nichts machen. Sprich: Natürlich hat man sich auf bestehende Moden bezogen die sich sowohl vom ästhetischen Aspekt als auch eventuell von der Funktionalität her bewährt hatten wie zum Beispiel die Schürze.


So einfach ist es dann doch nicht, da es auch Trachtenteile gibt, die sich deutlich vor dem 18. Jh. entwickelt haben und bis ins 20. Jh. getragen wurden, wie Trauerhaube und Trauermantel, die beide gut belegt mindestens bis ins 16. Jh. zurück gehen. Tracht hat im ländlichen Bereich eben nichts mit Mode im städtischen Sinn zu tun, da auf dem Land der leibeigenen Bevölkerung oft die Kleidung recht genau vorgeschrieben wurde. Und gerade die Trachten zu Trauer, Abendmahl, Predigtgottesdienst ec. haben nichts mit der städtischen Mode irgendeiner Zeit zu tun. Wie beschrieben hatte die unterschiedliche Kleidung der verschiedenen Dörfer auch im späten Mittelalter schon ihren Sinn als Zuordnung zum jeweiligen Herrn, nur sind die damaligen Formen nicht bildlich belegt. Daß aber z.B. der "Hinterländer Rock" (nicht zu verwechseln mit dem Modeteil Rock, sondern in seiner speziellen Trachtenbedeutung, eben Brustteil angenäht an den Faltenrock und als Ober- und Unterock vorhanden) aus dem 16. Jh. stammt, gilt als gut bewiesen.

S. zB.
Ursula Ewig, Annelies Born: Die Frauentracht im Breidenbacher Grund, Marburg 1964
Brunhilde Miehe: Der Tracht treu geblieben, Studien zum regionalen Kleidungsverhalten in Hessen, 2. Auflage 1995, Verlag Brunhilde Miehe Haunetal/Wehrda
Ferdinand Justi: Hessisches Trachtenbuch, Hrsg. Günther Hampel, Dr. Wolfram Hitzeroth Verlag, Marburg 1989 (Nachdruck d. Ausg. Elwert Verlag, Marburg 1899–1905)
Dorothee Henssen: Die Frauentracht des alten Amtes Biedenkopf, Marburg 1963
und, wenn Eigenwerbung erlaubt ist: Christoph Kaiser: Die Tracht als veränderliche Kleidung, München/Ravensburg, 2. Auflage 2009.

Mit Tracht als modern bayerisch meine ich eigentlich nicht die Region, sondern das merkwürdige textile Brauchtum, das heute noch in Bayern zu Oktoberfest oder Umzügen zur Schau getragen wird und leider das Bild von der Tracht sehr prägt, obwohl es nur in den aller seltensten Fällen eine echte Tracht ist, also mit Ausprägungen zu allen Aspekten des Lebens.
 
So einfach ist es dann doch nicht, da es auch Trachtenteile gibt, die sich deutlich vor dem 18. Jh. entwickelt haben und bis ins 20. Jh. getragen wurden, wie Trauerhaube und Trauermantel, die beide gut belegt mindestens bis ins 16. Jh. zurück gehen. Tracht hat im ländlichen Bereich eben nichts mit Mode im städtischen Sinn zu tun, da auf dem Land der leibeigenen Bevölkerung oft die Kleidung recht genau vorgeschrieben wurde. Und gerade die Trachten zu Trauer, Abendmahl, Predigtgottesdienst ec. haben nichts mit der städtischen Mode irgendeiner Zeit zu tun. Wie beschrieben hatte die unterschiedliche Kleidung der verschiedenen Dörfer auch im späten Mittelalter schon ihren Sinn als Zuordnung zum jeweiligen Herrn, nur sind die damaligen Formen nicht bildlich belegt. Daß aber z.B. der "Hinterländer Rock" (nicht zu verwechseln mit dem Modeteil Rock, sondern in seiner speziellen Trachtenbedeutung, eben Brustteil angenäht an den Faltenrock und als Ober- und Unterock vorhanden) aus dem 16. Jh. stammt, gilt als gut bewiesen.

S. zB.
Ursula Ewig, Annelies Born: Die Frauentracht im Breidenbacher Grund, Marburg 1964
Brunhilde Miehe: Der Tracht treu geblieben, Studien zum regionalen Kleidungsverhalten in Hessen, 2. Auflage 1995, Verlag Brunhilde Miehe Haunetal/Wehrda
Ferdinand Justi: Hessisches Trachtenbuch, Hrsg. Günther Hampel, Dr. Wolfram Hitzeroth Verlag, Marburg 1989 (Nachdruck d. Ausg. Elwert Verlag, Marburg 1899–1905)
Dorothee Henssen: Die Frauentracht des alten Amtes Biedenkopf, Marburg 1963
und, wenn Eigenwerbung erlaubt ist: Christoph Kaiser: Die Tracht als veränderliche Kleidung, München/Ravensburg, 2. Auflage 2009.

Öhm, wo sage ich denn was dass Teile der Tracht nicht bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen können? :fs:


Mit Tracht als modern bayerisch meine ich eigentlich nicht die Region, sondern das merkwürdige textile Brauchtum, das heute noch in Bayern zu Oktoberfest oder Umzügen zur Schau getragen wird und leider das Bild von der Tracht sehr prägt, obwohl es nur in den aller seltensten Fällen eine echte Tracht ist, also mit Ausprägungen zu allen Aspekten des Lebens.

Dieses merkwürdige textile Brauchtum ist das was sich (zumeist) im 19. Jahrhundert als Tracht herausentwickelt hat. Inzwischen ist der Oktoberfest-Trachtenumzug jedoch international geworden, hat also mit rein bayerischer Tracht nichts zu tun.

Außerdem erlaube ich mich Dich selbst zu zititeren: "Hier im Forum wird "Tracht" sehr modern bayerisch gedacht."

Ja wo denn nun, auf dem Oktoberfest oder hier im Forum?


...obwohl es nur in den aller seltensten Fällen eine echte Tracht ist, also mit Ausprägungen zu allen Aspekten des Lebens.

Scheinbar wirkt die "Trachten-Propaganda" des 19. Jahrhunderts noch bestens nach. =)
 
Die Tatsache dass sich Trachten und die Beschäftigung damit erst während des 18. Jahrhunderts entwickelt haben widerspricht ja nicht dem Faktum dass einige Teile der Tracht Vorläufer bzw. Vorbilder hatten die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen können. Aus nichts kann man ja nichts machen. Sprich: Natürlich hat man sich auf bestehende Moden bezogen die sich sowohl vom ästhetischen Aspekt als auch eventuell von der Funktionalität her bewährt hatten wie zum Beispiel die Schürze.
Ein sehr interessanter Aspekt ist, dass die Trachten gerade in der Zeit der Aufklärung viel erwähnt wurden und damit anfing, dass man sie gezielt abbildete, um eine Tracht (z.B. die Hotzenwäldler Tracht aus dem südlichen Schwarzwald/damals Vorderösterreich) auch international bekannt zu machen. Die frühesten brauchbaren Trachtenabbildungen stammen daher oftmals aus dem 18.Jh..

Bei den Trachten von heute (ich meine jetzt auch nicht die "bayerische 8x4 Tracht aus dem Versandhauskatalog") ist z.T. allerdings auch daher das Vorbild aus dem späten 18.Jh. so gut erkennbar, weil die Trachtenvereine in Reformen im 20.Jh. wieder mit ihren Trachten auf dieses "authentische" Bild zurückgingen (was aber bei den Schnitten oft nicht ganz gelang, was dann auch etwas unförmig aussehen kann).

Gerade bei der Beschäftigung mit den badischen Trachten (wobei es DIE badische Tracht nicht gibt) ist mir z.B. aufgefallen, dass man hinein ins 20.Jh. vielerorten die Frauentracht "erhalten" hat, während die Männer dazu einen 8x4 Trachtenjanker trugen. Heute versucht man das wieder zurückzufahren.

Wobei ich auch kaum Trachtenträger kenne, und die, welche ich kenne, haben die Trachten nur aus Vereinsgründen oder beruflich (Museumsarbeit).
 
So einfach ist es dann doch nicht, da es auch Trachtenteile gibt, die sich deutlich vor dem 18. Jh. entwickelt haben und bis ins 20. Jh. getragen wurden, wie Trauerhaube und Trauermantel, die beide gut belegt mindestens bis ins 16. Jh. zurück gehen. Tracht hat im ländlichen Bereich eben nichts mit Mode im städtischen Sinn zu tun, da auf dem Land der leibeigenen Bevölkerung oft die Kleidung recht genau vorgeschrieben wurde. Und gerade die Trachten zu Trauer, Abendmahl, Predigtgottesdienst ec. haben nichts mit der städtischen Mode irgendeiner Zeit zu tun. Wie beschrieben hatte die unterschiedliche Kleidung der verschiedenen Dörfer auch im späten Mittelalter schon ihren Sinn als Zuordnung zum jeweiligen Herrn, nur sind die damaligen Formen nicht bildlich belegt. Daß aber z.B. der "Hinterländer Rock" (nicht zu verwechseln mit dem Modeteil Rock, sondern in seiner speziellen Trachtenbedeutung, eben Brustteil angenäht an den Faltenrock und als Ober- und Unterock vorhanden) aus dem 16. Jh. stammt, gilt als gut bewiesen.
Augangsfrage des Threads war zunächst, wie sich aus der mittelalterlichen Kleidung - oder besser das, was ein Hersteller von Faschingskostümen dafür hält - die heutige Tracht entstehen konnte. Nachdem keine entsprechende regionale Einschränkung getroffen wurde, ist es natürlich schwierig entsprechende Frage global zu beantworten. Im Vordergrund der Beantwortung standen daher natürlich allgemeine Entwicklungen. Klar gibt es regionale Trachtenelemente die deutlich früher entstanden, allerdings muss man hier schon mehr differenzieren. Zunächst einmal im Zusammenhang mit der Bedeutungsverschiebung des Begriffs "Tracht". Dann ist es - ebenfalls ohne Lokalkollorit gesprochen - durchaus so, dass es einen Zusammenhang zwischen Mode und Tracht gibt. Mode beinflusste die Trachtenentwicklung und gerade hierzu gibt es eben das Phänomen, das sich gerade in abgelegenen Gegenden (mit abgelegen meine ich hier abgelegen von kluturellen Zentren) eben sehr viel wahrscheinlicher ältere Elemente in der Tracht erhalten haben.

und, wenn Eigenwerbung erlaubt ist: Christoph Kaiser: Die Tracht als veränderliche Kleidung, München/Ravensburg, 2. Auflage 2009.
Aberaber... ich hab dich doch schon empfohlen :D :winke:

Mit Tracht als modern bayerisch meine ich eigentlich nicht die Region, sondern das merkwürdige textile Brauchtum, das heute noch in Bayern zu Oktoberfest oder Umzügen zur Schau getragen wird und leider das Bild von der Tracht sehr prägt, obwohl es nur in den aller seltensten Fällen eine echte Tracht ist, also mit Ausprägungen zu allen Aspekten des Lebens.
Nichts desto trotz gibt es traditionelle bayerische Tracht, die hier allerdings - außer von dir - nur ein einziges Mal von mir in einem Beispiel wie von dir eben angeführt, erwähnt wird, nämlich im Zusammenhang mit dem gesamtbayernweiten Einsatz der Lederhose, die eigentlich ein alpenländisches Kleidungsstück ist. Ansonsten scheint mir hier der Fokus vielmehr von einer globalen Anfrage sehr schnell ins Hessische gerutscht zu sein =) (auf besagtem "Trachtenumzug" sind übrigens massig hessische Trachtenvereine dabei, das aber nur mal am Rande)
 
Scheinbar wirkt die "Trachten-Propaganda" des 19. Jahrhunderts noch bestens nach. =)

Also bei mir nicht. ;) Die meisten Trachtentänzer oder Oktoberfestdirndlträgerinnen wissen heute gar nicht mehr, daß eine Tracht extrem viele Teile für alle Lebensabschnitte und -bestandteile umfaßt, die alle erst zusammen genommen die Tracht ergeben. So hiletne bei uns in der Gegend auswärtige Besucher von Beerdigungen die trauernden Frauen mit Trauerhaube und Trauermantel immer für Nonnen.

Und Tracht als Gesamtkleidung geht schon stellenweise, aber eben nicht flächendeckend, bis ins Spätmittelalter zurück und hat mit dem 19. Jh. außer neuen Stoffen dann nicht viel zu tun (z.B. Tracht Amt Biedenkopf und Amt Blankenstein). Da stammen nicht nur einzelne Teile aus der Zeit von vor 1800, sondern fast die ganze Tracht, bis auf die neuen Stoffe ec. Aber daß Details sich verändern ist ja klar. Die Tracht als Idee aber stammt weder aus dem 18. oder 19. Jh. und auch nicht von Städtern.
 
Besonders interessant finde ich ja die Männertracht, die schon früher der Modernisierung weichen musste. Ein schönes ist Beispiel ist das Spreewälder Hochtspaar in der Tracht von 1934. Auf dem ersten Blick würde jeder behaupten, der Bräutigam mit Zylinder und Gehrock trüge kein Tracht. Das stimmt aber nicht, er tut es. Der Gehrock und der Zylinder sind jedoch außerhalb dörflicher Einfalt anachronistisch, sie entsprechen der Herrenmode des 19. Jahrhundert. Der Bräutigam würde in der großen Stadt genauso als Dorfbewohner erkannt wie die Braut mit der auffälligen Haube.
 
Bei den Männern trat oft etwas ein, was bei den Frauen, zumindest in den hessischen Trachtengebieten, so gut wie nie vorkam: Sie teilten die Kleidung. An Feierabenden und zur Feldarbeit überlebte noch lange z.. in der Schwalm der Kittel in seinen verschiedenen Ausprägungen, zur Arbeit außer Haus trug man städtische Kleidung. So galten in der Schwalm im einigen Dörfern noch um 1930 90% der Männer als Trachtenträger. Bei den Frauen trug man entweder kurz (Tracht, Rock bis zu den Knien) oder man zog sich um zu lang (städtisch, modisch, Rock lang bis zu den Knöcheln oder der Wade), das Umziehen war dann in aller Regel entgültig, man änderte dann z.B. auch dir Frisur von Zopf zu Dauerwelle und trug nie wieder und zu keinem Anlaß, weder Trauer noch Arbeit noch Feiertag noch Kirchgang, ein Trachtenstück. An der Dill gab es wie auch in anderen Gegenden Hessens eine Übergangstracht bis in die 1910er Jahre, die halblange Tracht. Die starb gegen 1970 mit den letzten Trägerinnen, die sich nie umgezogen hatten, endgültig aus.
 
Bei den Männern trat oft etwas ein, was bei den Frauen, zumindest in den hessischen Trachtengebieten, so gut wie nie vorkam: Sie teilten die Kleidung. An Feierabenden und zur Feldarbeit überlebte noch lange z.. in der Schwalm der Kittel in seinen verschiedenen Ausprägungen, zur Arbeit außer Haus trug man städtische Kleidung. So galten in der Schwalm im einigen Dörfern noch um 1930 90% der Männer als Trachtenträger. Bei den Frauen trug man entweder kurz (Tracht, Rock bis zu den Knien) oder man zog sich um zu lang (städtisch, modisch, Rock lang bis zu den Knöcheln oder der Wade), das Umziehen war dann in aller Regel entgültig, man änderte dann z.B. auch dir Frisur von Zopf zu Dauerwelle und trug nie wieder und zu keinem Anlaß, weder Trauer noch Arbeit noch Feiertag noch Kirchgang, ein Trachtenstück. An der Dill gab es wie auch in anderen Gegenden Hessens eine Übergangstracht bis in die 1910er Jahre, die halblange Tracht. Die starb gegen 1970 mit den letzten Trägerinnen, die sich nie umgezogen hatten, endgültig aus.


Die Schwälmer Tracht, die im 19. Jahrhundert Maler und im 20.Jhd Volkskundler entzückte, entstand in dem Stil, wie man sie heute von folkloristischen Veranstaltungen kennt, entstand eigentlich erst im 19. Jahrhundert mit dem Wegfall der alten Luxus- und Kleiderordnungen.

In der Schwalm differenzierte man zwischen der "stolzen Tracht" und der Altagstracht.

Für den Kirchgang trugen die Schwälmer Männer einen langen schwarzen Gehrock und einen Zweispitz, die Frauen eine eigene Abendmahlshaube. Für Feste und Kirchweih trugen die Patriarchen das "Ärmeldeng" oder Kamisol, einen langen Gehrock aus blauem Tuch mit Stickereien und dazu als Kopfbedeckung die "Bromkappe" eine u. U. mit Brokat verzierte Pelzkappe aus Otterfell. Unter dem Kamisol wurde eine rote, reich verzierte Weste getragen, was an ungarische Trachten erinnert.

Diese stolze Tracht konnten sich nur Pferdebauern leisten, und es wurden und werden diese Kleidungsstücke über Generationen vererbt.

Alltagskleidung der Männer war der erwähnte Kittel. Im Gegensatz zu den südhessischen "Hessenkitteln" und denen im Marburger Raum war dieser Schwarz oder dunkelgrau statt blau und reichte bis zum Knie. Dazu wurde ein flacher runder Hut alltags wie zum Kirchgang getragen.

Für Hochzeiten durfte es noch ein bisschen aufwändiger sein und es trugen die Männer einen mit dem Brautschmuck geschmückten Zweispitz, die Frauen eine Brautkrone und die grüne Frauentracht. darunter 7- 14 Unterröcke aus Leinen. Um die Braut anzukleiden, sie "zu schabbeln" brauchte sie Hilfe von mindestens 2 anderen Frauen, wobei in die Schuhe ein Trinkgeld für die Weißstickerin eingelegt wurde.

Mädchen trugen rot, verheiratete Frauen trugen grün, Witwen trugen Schwarz mit violetten Stickereien und alte Frauen oder auch solche, die Kinder verloren hatten trugen für den Rest ihres Lebens schwarz.

Die Männer trugen auf den Dörfern der Schwalm bis nach dem 2. weltkrieg Tracht. Die NS- Zeit führte zu einer Aufwertung der Tracht und man spürte "uraltem Brauchtum und Germanenerbe" nach.

Etwa zu Beginn der 1970er Jahre wurde das Lokalidiom, das Platt in vielen Familien missachtet, manche Kinder lernten es gar nicht erst, und es wurde "das ahle Gelärr" verramscht und verscherbelt, bis man entdeckte, das Bauernschränke, Leinen Trachten als gesuchte Antiquitäten stattliche Preise bringen. Japanische und Amerikanische Touristen, die sich nach Nordhessen verirren sind hingerissen und von Tourismusverbänden wurde kolportiert, dass Rotkäppchen stamme aus der Region, doch das Märchen von "Chaperon rouge" war in Frankreich schon im Mittelalter bekannt. Als die Brüder Grimm Märchen sammelten, waren ihre Quellen einige Damen aus Kassel, deren Vorfahren Hugenotten waren.

Durch mündliche Überlieferung haben die in den Märchen beschriebenen Wälder und Dörfer hessisches Lokalkolorit angenommen. Das Haus der Hexe in Hänsel und Gretel wird als ein "Ellerhaus" einen Austragshof wie man in Süddeutschland oder Österreich sagt. Der "Kluge Hans" trägt die Pelzkappe der Schwälmer Bauern und in einem weniger bekannten Märchen wird die Abendmahlshaube erwähnt, die in Nord- und Mittelhessen einzig ist.
 
Bei den Männern trat oft etwas ein, was bei den Frauen, zumindest in den hessischen Trachtengebieten, so gut wie nie vorkam: Sie teilten die Kleidung. An Feierabenden und zur Feldarbeit überlebte noch lange z.. in der Schwalm der Kittel in seinen verschiedenen Ausprägungen, zur Arbeit außer Haus trug man städtische Kleidung. So galten in der Schwalm im einigen Dörfern noch um 1930 90% der Männer als Trachtenträger. Bei den Frauen trug man entweder kurz (Tracht, Rock bis zu den Knien) oder man zog sich um zu lang (städtisch, modisch, Rock lang bis zu den Knöcheln oder der Wade), das Umziehen war dann in aller Regel entgültig, man änderte dann z.B. auch dir Frisur von Zopf zu Dauerwelle und trug nie wieder und zu keinem Anlaß, weder Trauer noch Arbeit noch Feiertag noch Kirchgang, ein Trachtenstück. An der Dill gab es wie auch in anderen Gegenden Hessens eine Übergangstracht bis in die 1910er Jahre, die halblange Tracht. Die starb gegen 1970 mit den letzten Trägerinnen, die sich nie umgezogen hatten, endgültig aus.


Dass die Tracht von den urban gewordenen Schwälmerinnen abgelegt wurde, lag zum einen daran, dass die besonders die Frauentracht sehr unbequem ist. Leinen kann scheußlich kratzen, zumal die Schwälmerinnen unter den ganzen Röcken keine Unterwäsche trugen. Die Schwalm war ein Gebiet mit Erbteilung, es erbte der älteste Sohn den Hof, der natürlich nicht zerteilt werden sollte, und die Nachgeborenen mussten sich als Tagelöhner durchschlagen oder sofern das Geld für eine Ausbildung vorhanden war, "in die Welt hinaus gehen", wie es in den Märchen der Brüder Grimm heißt.

Die Welt, das war in vielen Fällen die "Nordhessenmetropolis" Kassel. Zur Ausbildung kam dann der Kommiss, man darf nicht vergessen, das Kurhessen ja seit 1866 preußisch war. Viele Jungen verdingten sich beim Militär oder auch bei Henschel, viele Mädchen traten als Dienstbotinnen eine Stelle an, wo sie Wunderwerke der Technologie wie Wasserklosetts, Kinematographen und sogar Flugzeuge und Automobile zu Gesicht bekamen. Die so urbanisierten Schwälmer waren dem Ackerbau und engen Verhältnissen meist entfremdet.

In der Residenz haben sie zwar immer auf diesen Schlag ruppiger Bauern herabgeblickt, Kulturell und technologisch haben sich aber die Urbanisierten wie landsässigen Schwälmer stets bewährt, und wenn sie in Nordhessen vom angesicht der Erde verschwänden, wäre das wie Kenia ohne Massai oder Schottland ohne Highlander
 
Dass die Tracht von den urban gewordenen Schwälmerinnen abgelegt wurde, lag zum einen daran, dass die besonders die Frauentracht sehr unbequem ist. Leinen kann scheußlich kratzen, zumal die Schwälmerinnen unter den ganzen Röcken keine Unterwäsche trugen.
Dann müssen es aber arme Leute sein, wenn sie sich kein gutes Leinen leisten können.

Vor der Einführung der Kunstfaser, käme für die Wäsche, denn was anderes trägt man wohl nicht direkt auf der Haut, nur Baumwolle in Frage.
 
Dann müssen es aber arme Leute sein, wenn sie sich kein gutes Leinen leisten können.

Vor der Einführung der Kunstfaser, käme für die Wäsche, denn was anderes trägt man wohl nicht direkt auf der Haut, nur Baumwolle in Frage.

@Brissotin

Ich erlaube mir zur ergänzen, Barchent und für die "Reichen" Seide.

M. :winke:
 
@Brissotin

Ich erlaube mir zur ergänzen, Barchent und für die "Reichen" Seide.
Wäsche aus Seide?:S

Das ist selbst bei Reichen die absolute Ausnahme und auch, wenn es um Tragekomfort geht, wohl eher ein Griff ins Klo. Es gibt kaum etwas, was Schweiß etc. so gut aufnimmt wie Leinen.

Richtig ist natürlich, dass es Kombinationen aus Leinen und Baumwolle gab.
 
Dann müssen es aber arme Leute sein, wenn sie sich kein gutes Leinen leisten können.

Vor der Einführung der Kunstfaser, käme für die Wäsche, denn was anderes trägt man wohl nicht direkt auf der Haut, nur Baumwolle in Frage.


An der Leinenqualität kann es eigentlich wirklich nicht liegen, es gedieh Flachs auf heimischen Feldern und es bot die Kunst der Weißstickerei manchen Frauen auch aus armen Familien ein Auskommen, vorausgesetzt, die Stickerin hatte genug Talent und Muße, dieses Handwerk zu vervollkomnen. manche Meisterwerke der Weißstickerei erforderten jahrelange Arbeit. Weißzeug gehörte zur Aussteuer jeder Braut, und gute Stickerinnen finanzierten mit der Arbeit ihre eigene Aussteuer. Leinen aus der Schwalm schätzen auch die Herrschaften in der Residenz und es wurden Stickereien mit dem charakteristischen Herzmotiv bis nach Thüringen und Sachsen verkauft. Inzwischen hat es Liebhaber bis in die USA, Neuseeland und Japan gefunden.

Dass die (Frauen) Kleidung oft geringen Tragekomfort besitzt, mag daran liegen, dass sie 1. sehr schwer zu waschen ist,
2. von 2- 3 Generationen getragen und 2- 3 weiteren bewahrt wurde.
3. dass sie ausgesprochen voluminös ist, eine moderne Trägerin 2- 3 Unterröcke, einen Rock, möglicherweise Brautschmuck und schuhe trägt, die selten richtig passen. Dazu kommt, dass ein Festzug sich über ca 3-4 km erstreckt. Das Ereignis lockt den HR an, unter Umständen Hessentagsbesucher. Solche Ereignisse finden in der warmen Jahreszeit mit 25- 30 °C statt. Brautpaare müssen in die Kirche, zur Kirche geht und reitet man nicht, wie die Leute vom lokalen Reitverein.

Den Hinterlassenschaften der Rösser gilt es ebenfalls geschickt auszuweichen. Sich einen Festzug anzusehen, ist in Levi´s und Räuberzivil schon anstrengend, umso mehr, wenn man ihn gehend zurücklegen muss. Tradition fordert Opfer, aber ich war ja noch beim Leinen.

Das wurde oft noch um 1900 in vielen Haushalten selbst gewebt, obwohl Baumwollprodukte bereits im 18. Jhd erschwinglich waren und sich auch auf dem Land verbreiteten.
 
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