Seit dem Frühjahr 1942 stieg die Zahl der Flüchtlinge, die in die Schweiz zu
gelangen versuchten: Waren im April 55 Flüchtlinge illegal über die Grenze
gelangt und von der Polizeiabteilung interniert worden, so registrierte man im
Juli 243 Personen. Insgesamt war es seit April 1942 zu rund 450 unbewilligten
Einreisen gekommen, als Robert Jezler, Rothmunds Stellvertreter, in seinem
Bericht vom 30. Juli 1942 festhielt:
«Die übereinstimmenden und zuverlässigen Berichte über die Art und
Weise, wie die Deportationen durchgeführt werden, und über die Zustände
in den Judenbezirken im Osten sind derart grässlich, dass man die verzweifelten
Versuche der Flüchtlinge, solchem Schicksal zu entrinnen, verstehen
muss und eine Rückweisung kaum mehr verantworten kann.»24
Dennoch betonte er, man dürfe in der heutigen Kriegszeit, in der auch die
Schweiz in gewissem Sinn um ihre Existenz kämpfen müsse, «nicht zimperlich»
sein, und empfahl, bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Zukunft «grosse
Zurückhaltung» zu üben.25 Rothmund leitete den Bericht gleichentags an
Bundesrat von Steiger weiter und fragte seinen Vorgesetzten im Begleitschreiben:
«Was sollen wir tun?» Deserteure, entwichene Kriegsgefangene – falls
115
diese weiterreisen könnten – sowie politische Flüchtlinge im Sinne des Bundesratsbeschlusses
von 1933 würden aufgenommen. «Dieser Beschluss ist jedoch
heute fast zur Farce geworden, denn jeder Flüchtling ist schon wegen der Flucht
in Todesgefahr. [...] Rückweisung nur der Juden? Dies drängt sich fast auf.»
Entgegen dem Bundesratsbeschluss vom 17. Oktober 1939 habe die Polizeiabteilung
«seit einiger Zeit fast keine Flüchtlinge mehr zurückgewiesen. Ohne
Sie zu fragen. Ich scheue mich nicht, die Verantwortung dafür zu tragen. Der
Bundesrat wird diese Praxis kaum desavouieren, wenn er den Bericht Dr. Jezlers
liest.» Anschliessend schlug Rothmund vor, kleine mobile Überwachungstrupps
zu schaffen und diese an verschiedenen häufig benützten Grenzübergängen
jeweils einige Tage einzusetzen und dort die Flüchtlinge konsequent
zurückzuweisen. Damit sollten die Passeure abgeschreckt und der Zustrom der
Flüchtlinge «auf ein erträgliches Mass zurückgeführt werden». Wo die Grenzbewachung
nicht verstärkt sei, würden Übertritte jedoch weiterhin zugelassen.
Das Dokument ist in seiner Widersprüchlichkeit Ausdruck der Beunruhigung
und Orientierungslosigkeit eines Chefbeamten, der seinen Vorgesetzten bat,
ihm «morgen Abend oder am Samstag Vormittag Gelegenheit zur Besprechung
zu geben».26 Ob es zu dieser Besprechung kam und was Bundesrat von Steiger
erklärte, ist nicht überliefert. Am 4. August 1942 verfasste Rothmund eine Präsidialverfügung,
die von Steiger und der Bundespräsident Etter guthiessen und
die der Gesamtbundesrat, der zwischen dem 29. Juli und dem 14. August 1942
nicht zusammentrat, im nachhinein genehmigte. Diese bundesrätliche Verfügung
schloss mit der Feststellung, dass «künftig also in vermehrtem Masse
Rückweisungen von ausländischen Zivilflüchtlingen stattfinden müssen, auch
wenn den davon betroffenen Ausländern daraus ernsthafte Nachteile (Gefahr für
Leib und Leben) erwachsen könnten».27
Das Kreisschreiben der Polizeiabteilung vom 13. August 1942 an die zivilen
und militärischen Behörden präzisierte die Massnahmen. Der Zudrang von
Flüchtlingen und «insbesondere von Juden unterschiedlichster Nationalität»
nehme Dimensionen an, die an die Flucht der Juden im Jahre 1938 erinnerten.
Angesichts der Lebensmittelversorgung im Land, des innen- und aussenpolitischen
Sicherheitsbedürfnisses sowie der Unmöglichkeit, alle zu beherbergen, zu
überwachen und ein neues Aufnahmeland für sie zu finden, sei die Rückweisung
dieser Flüchtlinge nötig: «Flüchtlinge nur aus Rassengründen, z.B. Juden,
gelten nicht als politische Flüchtlinge.» Sie waren strikt zurückzuweisen, wobei
sie beim ersten Mal schwarz über die Grenze zurückgeschoben, im Wiederholungsfall
jedoch den zuständigen Behörden auf der anderen Seite direkt übergeben
werden sollten. In der Praxis waren staatenlose Flüchtlinge diesen
Bestimmungen schutzlos ausgeliefert, während die Behörden gegenüber
Flüchtlingen aus Staaten, deren Exilregierungen sich – wie im Falle Belgiens
116
oder der Niederlande – für ihre Bürger einsetzten, gelegentlich zu Konzessionen
bereit waren. Deserteure, entwichene Kriegsgefangene und andere Militärpersonen,
politische Flüchtlinge im engen Sinne und sogenannte Härtefälle
– Alte, Kranke, Kinder, schwangere Frauen – sollten nicht zurückgewiesen werden.
28 Die Behörden hielten also wider besseres Wissen an der engen Definition
des politischen Flüchtlings fest. Hatte Rothmund von einer Farce gesprochen,
so hielt eine protokollarische Notiz die Äusserungen von Steigers an der Polizeidirektorenkonferenz
vom 28. August 1942 mit folgenden Stichworten fest:
«Politischer Flüchtling. Theorie nützt nicht. Jude auch eine Art politischer
Flüchtling.»29
Aufnahme und Rückweisung von Zivilflüchtlingen 1942 bis 1945
Dass trotz der Weisungen vom 13. August 1942 in den folgenden Monaten
mehrere Tausend Flüchtlinge in die Schweiz gelangten und interniert wurden,
hatte – abgesehen von der Aufnahme in Härtefällen – im wesentlichen zwei
Gründe: Erstens gelang es nicht, die Grenze im beabsichtigten Mass zu überwachen.
Wer aber auf eigene Faust oder mit Unterstützung von Fluchthelfern
den Grenzbereich, der im Dezember 1942 als ein zehn bis zwölf Kilometer breiter
Gebietsstreifen definiert wurde, überwunden hatte und ins Landesinnere
gelangt war, wurde in der Regel nicht mehr ausgeschafft, da die örtliche Bevölkerung
wiederholt gegen derartige Ausschaffungen protestiert hatte. Zweitens
kam es infolge der Grenzschliessung im Spätsommer 1942 zu einem landesweiten
öffentlichen Protest und zu direkten Interventionen bei den Behörden
sowohl durch den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund als auch durch
verschiedene namhafte Persönlichkeiten. Als Folge dieser Proteste wurden die
beschlossenen Massnahmen in der Praxis gelockert. Als sich die öffentliche
Diskussion gelegt hatte, wurden die Weisungen jedoch wieder verschärft und
die Anstrengungen zur Überwachung der Grenze intensiviert. Dies drückt sich
auch in Zahlen aus: Vom 1. September bis 31. Dezember 1942 wurden 7372
Flüchtlinge aufgenommen; statistisch belegt sind für denselben Zeitraum 1264
Wegweisungen. Vom 1. Januar bis 31. August 1943 stehen 4833 aufgenommenen
Flüchtlingen 2243 registrierte Wegweisungen gegenüber.30
Im September 1943 kapitulierte Italien; Mittel- und Norditalien wurde von der
Wehrmacht besetzt; unmittelbar darauf begann die Deportation der Juden.
Nun flohen Tausende Richtung Tessin: Juden, politische Oppositionelle, Männer,
die sich dem Militärdienst entziehen wollten, sowie weitere Zivilpersonen.
Neben über 20 000 Militärpersonen wurden bis Jahresende knapp 10 000 zivile
Flüchtlinge aufgenommen und interniert. Gleichzeitig meldeten die Grenzbeamten
allein vom 21. bis 23. September über 1700 Rückweisungen, und für
die Zeit von September 1943 bis März 1944 sind über 12 000 Rückweisungen
117
belegt.31 Die restriktive Politik gegenüber Juden wurde ab Spätherbst 1943, für
die meisten viel zu spät, gelockert; im Laufe des Jahres 1944 wurden schliesslich
knapp 18 000 Zivilflüchtlinge aufgenommen. Doch erst am 12. Juli 1944
erteilte das EJPD die offizielle Weisung, alle an Leib und Leben gefährdeten
Zivilpersonen aufzunehmen. Trotz dieser indirekten Anerkennung der Juden
als Flüchtlinge kam es auch später noch verschiedentlich zur Rückweisung von
Juden und osteuropäischen Zwangsarbeitern.32