Gemessen an dem im Titel formulierten Anspruch, kann ich die inhaltlich Verengung auf spezielle Aspekte, der lediglich temporär und regional gültigen Arbeitsbeschreibung von "Dienstboten" oder die Rolle von sexueller Gewalt nicht ganz nachvollziehen
Ein so wesentliches Thema wie der sexuelle Missbrauch von Dienstmädchen durch juristisch kaum angreifbare Aristokraten würde ich nun wirklich nicht als eine thematische "Verengung" bezeichnen, es spricht vielmehr das wohl größte soziale Problem an, welche das Dienstboten-Thema für das 18. Jahrhundert zu bieten hat, und stellt alle anderen Aspekte dieses Themas in den Schatten. Man bedenke, dass ein englischer Adliger, wenn er ein vom König ernannter Friedensrichter (justice of the peace) war, in seinem Bezirk die höchste Instanz verkörperte, d.h. kein von ihm verübtes Verbrechen, z.B. die Vergewaltigung eines Dienstmädchens, konnte vom Opfer bei einer auswärtigen Instanz angeklagt werden. In solchen Fällen war es für den adligen Richter=Täter ein Leichtes, Beweise so zu fälschen (z.B. ein angeblicher Diebstahl), dass das Opfer, wenn es öffentlich gegen ihn aufbegehrte, von ihm zum Tode verurteilt werden konnte. Das war den Opfern natürlich klar, also hatten sie keine andere Wahl, als den Missbrauch über sich ergehen zu lassen.
Auch diese Problematik, die nahezu absolute Macht des Hausherrn, wird in Richardsons "Pamela" thematisiert. Es geht in diesem nicht nur literaturgeschichtlich, sondern auch sozialgeschichtlich überaus folgenreichen Roman nicht "nur" um sexuellen Missbrauch oder dessen Androhung. Vielmehr ist die daraus erwachsende rebellische Haltung des Dienstmädchens Pamela gegenüber ihrem mächtigen Herrn das erste (und europaweit wahrgenommene) literarische Signal für die 50 Jahre später eintretende Französische Revolution. Eine der wichtigsten Stellen, in der Sekundärliteratur oft zitiert, lautet:
(I = Pamela / she = Mrs. Jewkes, die rechte Hand des libertinen Adligen)
And pray, said I, walking on, how came I to be his property? What right has he in me, but such as a thief may plead to stolen goods?--Why, was ever the like heard? says she.--This is downright rebellion, I protest!
Dieses Aufbegehren einer Vertreterin des niederen Standes gegen die Willkür des herrschenden Standes war zur dieser Zeit beispiellos und aus einer sexuellen Missbrauchssituation heraus motiviert. Der damit zusammenhängende Einfluss des Romans auf einige der wichtigsten Vordenker der Französischen Revolution war ganz erheblich: Denis Diderot vergötterte Richardson förmlich ("le divin Richardson") und stellte ihn neben Homer und Shakespeare. Rousseau nahm "Pamela" und Richardsons Nachfolgeroman "Clarissa" (mit einem sehr ähnlichen Plot) als Inspiration für seine "Julie", die gleichfalls ein Riesenerfolg wurde und ein Plädoyer gegen die Absurdität von Standesunterschieden darstellt. Voltaire sah in "Pamela" ebenfalls seine tiefe Abneigung gegen die Standesunterschiede widergespiegelt, was seine politische Haltung in diesem Punkt noch bestärkte und ihn auch zu einem Theaterstück namens "Nanine" veranlasste, das praktisch eine Coverversion von "Pamela" ist. Friedrich d.Gr., dem er das Stück zusandte, konnte mit einem Text, der die Standesunterschiede in Frage stellt, aber wenig anfangen.
Generell lässt sich sagen, dass Richardsons Romane dem Aufbegehren des Bürgertums gegen die Selbstherrlichkeit des Adels im 18. Jahrhundert einen mächtigen Auftrieb gegeben haben, indem sie diesem Aufbegehren eine literarische Stimme gaben, die in ganz Europa gehört wurde.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung aber war — um auf deinen Einwand zurückzukommen — der sexuelle Missbrauch durch libertine Adlige, dem viele Dienstmädchen im 18. Jahrhundert hilflos ausgesetzt waren.
Aus dem oben angedeuteten Kontext wird auch klar, warum Henry Fielding, der aristokratischer Herkunft war, so feindselig gegenüber Richardsons "Pamela" auftrat, in der sein eigener Stand (die englische Gentry) als moralisch verdorben charakterisiert wird. Ironischerweise hat Fielding ein paar Jahre nach "Shamela" genau das praktiziert, was er in Bezug auf "Pamela" attackiert: Er heiratete 1747 die von ihm schwangere Mary Daniel, das DIENSTMÄDCHEN seiner verstorbenen Frau Charlotte. 1741 hatte er in "Shamela" Samuel Richardson aber noch vorgeworfen, in "Pamela" die Dienstmädchen, die einen großen Anteil an der Leserschaft des Bestsellers hatten, dazu anzustiften, auf eine Heirat mit ihren Herren zu spekulieren:
(Einer von Fieldings Anklagepunkten gegen "Pamela", in der das Dienstmädchen am Ende den von ihr moralisch geläuterten Adligen heiratet, nachdem dieser bereit ist, seine Bedenken wg. Standesunterschied zu ignorieren)
All Chambermaids are strictly enjoyned to look out after their Masters.